Die Bilder, ebenso wie die meist von Rassismus getränkten Reaktionen diesseits des Mittelmeers, erinnerten dabei an eine ähnliche Situation, die sich knapp fünf Jahre zuvor auf den kanarischen Inseln in Spanien ereignet hatte. Im Jahr 2006 waren hier schätzungsweise 32.000 afrikanische Migrant_innen in heillos überfüllten Fischerbooten (spanisch: cayucos bzw. pateras) an den Stränden gelandet – glückliche Überlebende der 2000 Kilometer langen Überfahrt, die für die Meisten in Mauretanien und Senegal begonnen und für Tausende vorzeitig in den Weiten des Atlantiks geendet hatte.
Die „crisis de los cayucos“ ist in Europa heute weitgehend vergessen. Ebenso die Stürmung der Grenzanlagen in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Afrika, bei denen 2005 dutzende Migrant_innen ihr Leben lassen mussten (Morde, verübt durch spanische und marokkanische Sicherheitskräfte, die bis heute nicht aufgeklärt wurden). Und doch wirken beide Ereignisse bis heute fort. Denn erst im Windschatten der Ankunft afrikanischer Migrant_innen und ihrer medialen Inszenierung als Invasion der europäischen Arbeitsmärkte und Wohlfahrtssysteme, konnte die neue Architektur eines integrierten europäischen Grenzschutzes, wie er bereits seit Beginn der 2000er Jahre weiterentwickelt worden war, umgesetzt werden.
Seitdem beginnt das lange Zeit in Antira- und NoBorder-Zusammenhängen gezeichnete Bild der „Festung Europa“ merkwürdig auszulaufen. Der modus operandi der europäischen Grenzkontrollpolitiken besteht nicht mehr allein in der repressiven Abwehr von Migrant_innen, sondern umfasst auch eine pro-aktive Dimension, mittels derer der Bedarf der europäischen Ökonomien an billigen und flexiblen Arbeitskräften befriedigt und so die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa sichergestellt werden soll. Zudem ist es auch zu einer räumlichen Verschiebung der europäischen Grenzen gekommen, indem durch die Unterzeichnung von zwischenstaatlichen Abkommen das Abfangen unerwünschter und die Anwerbung ökonomisch verwertbarer Migrant_innen längst in die wichtigsten Herkunfts- und Transitländer ausgelagert wurde. Diese Entwicklung ist nicht nur flüchtlings- und menschenrechtlich höchst bedenklich. Die Verschiebung der Grenzen bzw. die Re-Territorialisierung Europas zeigt überdies auch neue geopolitische und imperialistische Begehrlichkeiten Europas an. Um dieses Argument zu entfalten, lohnt es sich, nochmals nach Spanien zurückzukehren. Denn dem Land an der südlichen Außengrenze Europas kommt seit Beginn der 2000er Jahre eine Vorreiterrolle in der Entwicklung einer neuen, neoimperialistischen und neokolonialen Migrationspolitik zu.
Die Vergemeinschaftung des spanischen Grenzschutzes
Mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1986 erfuhr das spanische Migrationsgeschehen gravierende Veränderungen: Vom klassischen Auswanderungsland in der südlichen EU-Peripherie wurde das Land auf der iberischen Halbinsel innerhalb kürzester Zeit zum „Tor Europas“ – und damit seit Beginn der 2000er Jahre zu einem der wichtigsten Transit- und Zielländer für Migrant_innen aus dem globalen Süden.
Bis in die 1990er Jahre hinein hatten die Migrationsbewegungen in Spanien kaum politische Relevanz. Zu- und Abwanderung wurden weitgehend vom Umfang der Nachfrage nach Arbeitskräften bestimmt, Grenzkontrollen waren entsprechend gering. Seit Beginn der 2000er Jahre hat sich diese Situation jedoch grundlegend geändert. Kontinuierlich sind seitdem sowohl die personellen als auch die technologischen Ressourcen zur Überwachung der spanischen Außengrenzen erweitert worden. Jenseits der Aufrüstung der spanischen Küsten sind es maßgeblich zwei Elemente, die zum massiven Rückgang ankommender pateras und cayucos geführt haben: die Integration Spaniens in ein zunehmend europäisches Grenzregime sowie die Mobilmachung der wichtigsten (afrikanischen und lateinamerikanischen) Herkunfts- und Transitländer im „Kampf gegen die illegale Migration“.
Betrachten wir zunächst den ersten Aspekt, die Europäisierung des spanischen Grenzregimes. Tatsächlich ist die Entwicklung der spanischen Migrationspolitik seit ihren Anfängen Mitte der 1980er Jahre stark an europäische Anforderungen gebunden gewesen. Mit Beginn der 2000er Jahre ist Spanien jedoch selbst zu einem der einflussreichsten Akteure in der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik geworden. Einen entscheidenden Zeitpunkt in dieser strategischen Neuausrichtung bildet die spanische Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte 2002. Den Vorsitz nutzte Spanien, um Fragen der Migrationspolitik und des Grenzschutzes weit oben auf der politischen Agenda der EU zu platzieren. Deutlich wurde der Anspruch formuliert, dass die spanischen Grenzen auch Europas Außengrenzen seien und ihr Schutz somit der gemeinschaftlichen Verantwortung obliege. In den folgenden Jahren wurde mit Nachdruck die Errichtung einer Architektur des europäischen Grenzschutzes vorangetrieben. Als zum Jahresbeginn 2006 innerhalb weniger Wochen tausende afrikanische Flüchtlinge in kleinen Holzbooten auf die Kanaren gelangten und die stille Krise der Migration europaweit mediale Schockwellen auslöste, sah die spanische Regierung den Zeitpunkt gekommen, um eine erneute europapolitische Offensive zu starten. Im Mai reiste die spanische Vize-Präsidentin Maria Teresa Fernandez de la Vega nach Brüssel und forderte „[m]ehr Kontrolle, mehr diplomatische Kooperation, mehr humanitäre Hilfe und mehr Europa“. Gemeinsam kam man darin überein, „15 dringende Maßnahmen der EU gegen die illegale Migration“ durchzuführen. Eines der beschlossenen Mittel war die Realisierung einer gemeinsamen FRONTEX-Operation, die später unter dem Namen HERA bekannt werden sollte.
Aus Sicht der spanischen Regierung ist der Entstehungsprozess eines zunehmend vergemeinschafteten Grenzschutzes eine Erfolgsgeschichte. So konnte der spanische Innenminister Alfredo Pérez Rubalcaba Anfang 2011 stolz berichten, die Anzahl der auf den kanarischen Inseln ankommenden Migrant_innen sei von 2006 bis 2010 um satte 99,4% zurückgegangen. Wirklich verstehen lässt sich dieser Rückgang aber nur, wenn man die bisher dargestellten Elemente in Verbindung zum womöglich wichtigsten Aspekt des spanisch-europäischen Grenzschutzes setzt: seiner externen Dimension.
Re-Bordering Europe: Die externe Dimension des spanischen Grenzschutzes
Die spanische Ratspräsidentschaft 2002 und die crisis de los cayucos im Jahr 2006 auf den Kanaren waren einschneidende Ereignisse in der Vergemeinschaftung der Kontrolle der europäischen Außengrenzen. Zentrale Bedeutung kommt ihnen aber nicht nur für eine Neuordnung der innereuropäischen Beziehungen zu, sie bilden überdies auch Ausgangspunkte für die Re-Organisierung des Verhältnisses zwischen Europa und seinen Mitgliedstaaten zu den wichtigsten Herkunfts- und Transitländern der Migrant_innen im globalen Süden, allen voran den Ländern Westafrikas. Denn Spanien gelang es, die eigene Überzeugung, der zufolge ein erfolgreicher „Kampf gegen die illegale Migration“ von der Kooperation mit Drittstaaten abhänge, erfolgreich auf der europäischen Ebene zu implementieren.
Bereits zu Beginn der 2000er Jahre hatte die konservative Regierung unter Präsident José María Aznar begonnen, sogenannte Rückführungsabkommen mit den wichtigsten Herkunftsländern sowie Abkommen zur Regulierung der Arbeitsmigration mit Marokko und mehreren lateinamerikanischen Ländern abzuschließen. Die Intention dieser Unternehmungen liegt klar auf der Hand: Indem die Zahlung von ‚Entwicklungshilfe‘ an die Unterstützung im Grenzschutz gekoppelt und kooperativen Drittstaaten eine bevorzugte Behandlung ihrer Staatsbürger_innen beim Eintritt in den spanischen Arbeitsmarkt zugestanden wurde, sollte diese zu „Aktivposten im Kampf gegen die irreguläre Migration“ (Gemma Pinyol Jiménez) verwandelt werden. Die Abkommen umfassen dabei auch die Rücknahme von Migrant_innen aus anderen (afrikanischen) Ländern und die aktive Verhinderung ihrer Aus- und Weiterreisen nach Europa.
Diese Politik der Externalisierung des Grenzschutzes erfuhr mit der Machtübernahme der sozialdemokratischen PSOE-Regierung im Jahr 2004 eine weitere Stärkung – und eine folgenschwere Neuausrichtung, die Migrationspolitik zunehmend zu einem Mittel neokolonialer Geopolitik werden lassen sollte. Aus Sicht der PSOE erschien eine rein repressiv ausgerichtete Migrationspolitik wenig sinnvoll. Eine Erkenntnis, mit der die Zapatero-Administration ganz auf Höhe der Zeit lag, begann sich doch auch auf europäischer und internationaler Ebene zunehmend das Konzept des „Migrationsmanagements“ durchzusetzen. Im Rahmen dieses neuen politischen Settings ereigneten sich 2005 der Ansturm auf die Grenzzäune in Ceuta und Melilla und 2006 die Krise auf den Kanaren. Das offensichtliche Scheitern der bisherigen Mechanismen der Grenzkontrolle gab den neuen Diskursen um Migrationsmanagement weiteren Auftrieb. „Der Druck durch die Gesellschaft und die Medien, der durch die beiden Ereignisse entstand, zwang die spanische Regierung dazu, die außenpolitische Dimension ihrer Migrationspolitik zu reformulieren, indem die Notwendigkeit der Einrichtung von Wegen des Dialogs und der Kooperation mit den Herkunfts- und Transitländern betont und die Verbindung zwischen Migration und Entwicklung gestärkt wurde“, so die spanische Migrationsforscherin Gemma Pinyol weiter. Ergebnis dieser Neujustierung waren die sogenannten „Abkommen der zweiten Generation“, wie sie mit Gambia, Guinea, Mauretanien, Mali, Niger und den Kap Verden zwischen 2006 und 2008 geschlossen wurden. Migration wird hier nicht mehr als isoliertes Phänomen betrachtet, sondern in Verbindung zur ungleichen (ökonomischen) Entwicklung der afrikanischen Länder gesetzt. Eine erfolgreiche Migrationspolitik setze entsprechend Verbesserungen in einer Vielzahl weiterer Bereiche voraus: „Reduktion der Armut, Verbesserung von Bildung und Gesundheit, Verbesserung der Produktionsverhältnisse, Wirtschaftswachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen, Förderung von good governance, Demokratie und Menschenrechte“ (Gemma Aubarell).
Nicht zuletzt dank einer diplomatischen Offensive Spaniens auf europäischer und zwischenstaatlicher Ebene hat sich dieses neue Verständnis auch als wegweisend für die weitere Entwicklung einer europäischen Migrationspolitik erwiesen. Es hat den „globalen Migrationsansatz“ (Global Approach to Migration) der EU ebenso geprägt wie den 2005 in Barcelona verabschiedeten fünfjährigen Aktionsplan der Länder der Euro-Mediterranen Partnerschaft.
Migrationspolitik als neoliberale Geopolitik
Innerhalb des politik- und migrationswissenschaftlichen Mainstreams wird die Entstehung einer „ganzheitlichen Migrationspolitik“ als positive Entwicklung begrüßt. Von einer Festung wandele sich Europa nun zu einer zivilen Großmacht, die sich in der Regulation der Migration nicht länger einseitig an europäischen Interessen orientiere, sondern den Grundsätzen von Gegenseitigkeit, Demokratisierung und wirtschaftlicher Entwicklung verpflichtet sei. Unterzieht man die neue migrationspolitische Diplomatie der europäischen Staaten jedoch einer kritischen Betrachtung, so wird diese optimistische Einschätzung schnell verdächtig. Denn weit davon entfernt einen emanzipatorischen Turn vollzogen zu haben, bildet das neue Paradigma in der Migrationspolitik vielmehr ein wichtiges Element einer neuen, neokolonialen europäischen Geopolitik zur Ausbeutung des globalen Südens.
Entscheidende Grundlagen dafür bilden in Spanien die Aktionsprogramme Plan África I (2006-2008) und II (2009-2012), in denen sich die spanische Außenpolitik vorrangig auf das subsaharische Afrika konzentriert und dezidiert Verbindungen zwischen Entwicklungspolitik und Migration sucht. Programmatisch soll ‚Entwicklungshilfe‘ in die hauptsächlichen Herkunfts- und Transitländer verlagert werden. Zwar kommt es zur Anerkennung von politischen und sozio-ökonomischen Migrationsgründen, allerdings werden die Ursachen völlig negiert. In schönen Worten wird sowohl im spanischen Plan África als auch in der Lissaboner Erklärung der EU von „Partnerschaften auf Augenhöhe“ gesprochen. Ausbeutung und Unterdrückung der afrikanischen Bevölkerungen in der Kolonialzeit und der Dekolonialisierung werden einfach ausgeblendet, genau wie postkoloniale Verbindungen und neue Abhängigkeiten zwischen den afrikanischen Staaten und der EU als Teil globaler sozio-ökonomischer Ungleichheitsstrukturen. Quasi keine Beachtung finden darüber hinaus die Kreditschuldenbelastungen mit denen die Staatshaushalte aus vergangenen ‚Entwicklungshilfemaßnahmen‘ (Strukturanpassungsprogrammen) konfrontiert sind.
Ganz im Sinne einer ‚zivilisatorischen Entwicklungsmission‘ werden lediglich endogene Ursachen für Migration benannt, wie Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Demokratiedefizite und – wenig überraschend – eine zu geringe Grenzsicherung. Afrika wird als Objekt seiner genuin eigenen Probleme dargestellt, die in Form von Migration den europäischen Kontinent erreichen würden und die es zu verwalten und zu managen gelte. Die Verbindung mit Entwicklungspolitik soll einerseits einer Politik der Migrationskontrolle und des -managements Legitimation verschaffen und anderseits diese effektiver gestalten. Primäres Ziel bleibt die Verhinderung von irregulärer Migration nach Spanien und Europa, selbst wenn dabei Menschenrechte verletzt werden, für die sich Spanien in seinen ‚Entwicklungsmaßnahmen‘ vermeintlich gerade einsetzen will.
Die Maßnahmen des Plan África zielen aber nicht nur auf eine exterritorialisierte Migrationspolitik, die die Selektion von Migrant_innen vor Erreichen des europäischen Rechtsraumes in unerwünschte und erwünschte vornimmt, um so den demographischen und ökonomischen „Bedarf“ Europas (an „Humanressourcen“) zu managen. Die neue migrationspolitische Diplomatie dient in Spanien vielmehr als Türöffner zur Durchsetzung wesentlich weiter gefasster Interessen.
Es ist der spanische (und europäische) Versuch, sich gegenüber den USA und China (und den anderen BRIC-Staaten) im erneuten globalen „scramble“ (Wettlauf) um Märkte, Ressourcen und Arbeitskräfte zu behaupten (Henning Melber und Roger Southall). Die Maßnahmen des Plan África folgen dabei wie auch die EU-Afrika-Handelsabkommen (neo)kolonialen ökonomischen Mustern. Beispielsweise wird der Export von Rohstoffen von Afrika nach Europa und der Re-Import der daraus erzeugten Produkte nach Afrika forciert, genau wie das Überfluten der afrikanischen Märkte mit billigen (subventionierten) Lebensmitteln aus Europa.
Insgesamt geht es dabei um das imperiale Projekt der europäische Vormachtstellung in Afrika, das weiterhin wie zu Zeiten des Berliner Konferenz (1884/85) als verhandelbare Masse zwischen den Weltmächten aufgeteilt werden soll. Die Verallgemeinerung und zugleich Absicherung einer (europäischen) Lebensweise, die bestimmte Produktions- und Akkumulationsweisen bedarf, soll in der globalen Auseinandersetzung sichergestellt werden.