Nach Gründung der türkischen Republik im Jahre 1923 wurden Teile der Frauenbewegung nach und nach in den Staatsapparat integriert oder aber verboten. Der sogenannte Staatsfeminismus etablierte sich als Teil der Modernisierungsbestrebungen von Präsident Mustafa Kemal Atatürk nach westlichem Vorbild. Die Vielehe wurde verboten, Scheidungs- und Erbrechte zwischen den Geschlechtern egalisiert. Das bereits jahrzehntelang von Feministinnen eingeforderte Wahlrecht für Frauen wurde schließlich 1934 eingeführt. Die türkische Frau galt offiziell als emanzipiert und befreit. Eine große Diskrepanz zwischen formalen Rechten und der gesellschaftlichen Position der Frauen in der Türkei blieb aber bestehen.
Zweite Welle der Frauenbewegung in den 1980er Jahren
Trotz staatskritischer sozialer Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren spielten feministische Organisationen und Diskurse erst wieder in der Türkei der 1980er Jahre eine bedeutendere Rolle. Nach dem türkischen Militärputsch 1980 und dem damit zusammenhängenden staatlichen Verbot aller politischen Vereinigungen begannen sich Frauen in Leserunden zu treffen und gemeinsam feministische Literatur zu diskutieren. In den sogenannten Selbsterfahrungsgruppen, die sich vor allem in Istanbul, Ankara und Izmir bildeten, reflektierten die Frauen ihre eigene sozialistische Vergangenheit und analysierten auch die patriarchalen Verhältnisse in den linken Bewegungen. Die Frauen, meist Akademikerinnen, Künstlerinnen und Journalistinnen, begannen aus einer feministischen Perspektive heraus das Konzept der türkischen Familie sowie das damit verbundene geschlechterspezifische Rollenverhalten zu kritisieren.
In den folgenden Jahren wurden unabhängige feministische Frauenzeitschriften wie Feminist (1987-1990) und Kaktüs (1988-1990) gegründet, um insbesondere Formen von sexistischer Gewalt und geschlechtsspezifisch strukturierter Herrschaft in der Türkei öffentlich sichtbar zu machen. 1987 organisierten autonome Feministinnen erste öffentliche Demonstrationen gegen männliche Gewalt in Istanbul und Ankara. Es folgten Kampagnen gegen sexuelle Belästigung und für die Selbstbestimmung über den weiblichen Körper. Kritisiert wurde auch der türkische Staat, der die Gewalt gegen Frauen durch staatliche Institutionen wie Justiz oder Polizei nicht verhinderte und damit in gewisser Weise legitimierte. Zum Beispiel galt durch das in den 1980er Jahren noch gültige Ehegesetz der Ehemann als „Oberhaupt der Familie“ über alle anderen Familienmitglieder, ohne dessen Einwilligung die Ehefrau weder eine Abtreibung vornehmen noch einer Erwerbsarbeit nachgehen konnte.
Ausdifferenzierung der Frauenbewegung seit den 1990er Jahren
Der Schwerpunkt internationaler feministischer Debatten hat sich im Zuge der Anerkennung von Differenzen innerhalb der Kategorie Frau seit den 1990ern auf Fragen von Identitäten und damit zusammenhängenden Machtpositionen verschoben. So beziehen sich radikale, lesbische, queere, sozialistische, muslimische, kemalistische, kurdische oder armenische Feministinnen und Frauengruppen in der heutigen Türkei auf unterschiedliche Identitäten und Differenzen. In der Datenbank der Netzwerkorganisation Fliegender Besen waren 2009 mehr als 370 Frauenorganisationen verzeichnet, die sich in Form von Frauenvereinen, Lobbygruppen, Frauenberufsverbänden, feministischen Gruppierungen, Frauenzeitschriften und feministischen Zeitschriften oder Blogs organisieren.
Auch die Formierung der Homo-, Bisexuellen- und Trans*-Bewegung in der Türkei und die damit zusammenhängende Infragestellung von heterosexuellen Normvorstellungen führten zu einer Weiterentwicklung feministischer Perspektiven. Für die Sozialwissenschaftlerin Bihter Somersan besteht die Frauenbewegung in der Türkei heute aus zwei Gruppen: Zum einen kämpfen kemalistische „Gleichheitsfeministinnen“ neben der Forderung nach einer landesweiten rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung von Frauen im Bildungs- und Arbeitsbereich vor allem auch für eine ausreichende Repräsentation von Frauen im türkischen Parlament. Im Gegensatz dazu engagieren sich autonome Feministinnen, die sich aus sozialistischen, radikalen und kurdischen Feministinnen zusammensetzen, für eine grundlegende Transformation der patriarchal-hegemonialen Gesellschaftsstrukturen in der Türkei. So definiert die Aktivistin Cansu Karamustafa den Feminismus als „Kampf für die Freiheit, gegen alles sexistische und patriarchale Denken. Feminismus ist bedeutsam für mich, da dadurch die Gesellschaftsstruktur hinterfragt wird und somit eine Veränderung für alle impliziert ist.“
Auch die Aktivistin Yasemin Öz betont ihr umfassendes Verständnis von Feminismus: „Feminismus ist für mich eine Ideologie; er thematisiert alle politischen Probleme und Fragen – sogar über die Wirtschaft und den Staat. [...] Ich habe alle Rechte wie jede andere Person auf der Welt, um nicht als Frau oder Lesbe diskriminiert zu werden. [...] Feminismus gibt mir die Macht und die Organisation, um gegen alle Ungleichheiten des Lebens zu kämpfen.“
Der muslimische Feminismus, der unter anderem die unreflektierte Rezeption westlicher feministischer Theorie im türkischen Kontext hinterfragt, ist ein neueres Phänomen. Die sogenannte Kopftuchdebatte, im Rahmen derer seit den 1980ern – und verstärkt seit dem erneuten Wahlsieg der islamischen Regierungspartei AKP im Jahr 2007 – über den freien Zugang von verschleierten Studentinnen zu Universitäten diskutiert wird, spaltet die Gesellschaft und die Frauenbewegung. Yasemin Öz beschreibt ihre Einstellung zur heftig geführten Debatte wie folgt: „Ein Kopftuch zu tragen akzeptiert die Religion, welche patriarchal strukturiert ist. Ich würde niemals ein Kopftuch tragen. Ich wünsche mir eine Welt, in der keine Frau ein Kopftuch trägt, um ihren Körper als sexuelles Objekt zu bedecken. Aber falls Frauen dies tun, haben wir kein Recht, sie von Bildung und Arbeit auszuschließen. Dies ist eine diskriminierende Praxis.“
Während autonome Feministinnen sich um eine Annäherung mit religiös geprägten Frauengruppen bemühen, gibt es aufgrund von Repressionserfahrungen während der Militärdiktatur nur eine schwache Zusammenarbeit mit den kemalistischen Frauen. Um feministische Perspektiven weiterentwickeln zu können, sind zudem laut Bihter Somersan „Bündnisse mit anderen gegenhegemonialen sozialen Gruppen wie Anti-Militaristen, die LGBTT-Bewegung1 und die linke Bewegung“ wichtig.
Gemeinsame Themen und Praktiken der heutigen Frauenbewegung
Trotz der Ausdifferenzierung seit den 1990er Jahren lässt sich heute zumindest partiell von einer Frauenbewegung sprechen, die über ideologische Grenzen hinweg gemeinsame Themen bearbeitet und öffentlich kritisiert. Als Reaktion auf den kriegerischen Konflikt zwischen der türkischen Armee und der Arbeiterpartei Kurdistans PKK im Osten der Türkei vertritt die feministische Bewegung heute meist eine antimilitaristische Position. Zudem wird der bereits in den 1980er Jahren eröffnete Diskurs über Geschlechterrollen und die Kritik an patriarchalen Strukturen in Familie, Wirtschaft, Armee, Staat und Religion fortgeführt. Durch die Thematisierung von sexueller Belästigung und Gewalt, von sogenannten Ehrenmorden, von Familien- und Kinderplanung, von Haushaltsarbeit sowie von Sexualität und Abtreibung wird das Privatleben auch von heutigen Feministinnen weiter politisiert. Eine wichtige gemeinsame Forderung der Frauenbewegungen ist zum Beispiel auch die Gründung und staatliche Förderung von Frauenhäusern.
Viele Aktivistinnen beobachten auch weiterhin die türkische Gesetzgebung aus einer feministischen Perspektive. In Folge der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union sowie dem Druck der 2002 gegründeten „Frauenplattform des Türkischen Strafgesetzes“ (TCK-Kadın Platformu) hat die Türkei 2004 das türkische Straf-, Zivil- und Familienrecht reformiert. Seitdem werden Frauen und Männer im Ehe-, Scheidungs- und Eigentumsrecht gleichbehandelt.
In den 1990er Jahren wurden feministische Diskurse durch die Gründung von Frauenforschungsinstituten und universitären Studiengängen, beispielsweise an der Istanbul Universität und der Ankara Universität, institutionalisiert. Daneben erfüllt die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Amargi seit dem Jahr 2006 eine wichtige Funktion in der feministischen Theoriebildung und Gesellschaftskritik. Auf institutioneller Ebene werden heute unter anderem Konzepte des Gender Mainstreaming, der Abbau von geschlechtlicher Diskriminierung insbesondere auf dem türkischen Arbeitsmarkt sowie eine Quotenregelung für Parteien diskutiert.
Bewertung der aktuellen feministischen Politiken
Bihter Somersan zufolge war die feministische Bewegung der 1990er Jahre vor allem durch die Phase der Institutionalisierung und des „Projektfeminismus“2 sowie der sich daraus ergebenden innerfeministischen Debatten über „Institutionalisierung versus Autonomie“ geprägt. Seit dem Beginn des 21. Jahrhundert ist die feministische Bewegung aufgrund der Solidarität und Zusammenarbeit von verschiedenen Frauenorganisationen gestärkt worden. Besonders die TCK-Frauenplattform für die Reform des Strafrechts ist aufgrund der konstruktiven Zusammenarbeit von Parlamentarierinnen, zahlreichen feministischen Organisationen und autonomen feministischen Aktivistinnen ein „Leitmodell für zukünftige feministische Solidaritätskampagnen und für weiteren politischen Aktivismus“.
Meinem Eindruck nach reagieren Feministinnen mit ihrer Kritik und ihren Strategien auf die vielfältige Gesellschaft in der heutigen Türkei. Sie hinterfragen nicht nur die Kategorie Gender, sondern versuchen auch weitere Machtverhältnisse und -hierarchien in ihre Kritik einzubeziehen. Die Anerkennung unterschiedlicher ethnischer oder sozialer Herkünfte sowie die Bedeutung von sexueller Orientierung prägen, wie die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, vermehrt feministische Diskurse in der Türkei. Auch die Aktivistin Hazal Havalut betont den kapitalismuskritischen Aspekt ihres feministischen Ansatzes: „Der Liberalismus ist eine große Herausforderung, da sich die Türkei sehr schnell in eine neoliberale Richtung entwickelt. Ich denke, wir sollten mehr über Ungleichheiten neben Gender-Ungleichheiten nachdenken und wie wir diese in unsere Politik einbeziehen können.“
Die feministische Bewegung in der heutigen Türkei scheint im Verhältnis zu Diskussionen in Deutschland insgesamt progressiver und radikaler. Eine Erklärung dafür könnte der bisher immer noch vergleichsweise geringe Institutionalisierungsgrad der Frauenbewegung in der Türkei sein. Die feministische Bewegung, vertreten unter anderem durch die Beratungs- und Unterstützungseinrichtung Mor Çati, Amargi und das 2008 gegründete Sozialistische Feministische Kollektiv, hat sich durch ihre bisherige (finanzielle) Autonomie ihre staats- und systemkritische Haltung bewahrt. Auch größere Widerstände in der Gesellschaft gegen die Emanzipation der Frau könnten als Begründung für radikalere Positionen dienen. Feministische Sozialwissenschaftlerinnen wie Bihter Somersan und Anıl Al-Rebholz warnen deshalb auch vor den Gefahren einer weiteren „NGOisierung“ der feministischen Bewegung in der Türkei und der damit zusammenhängenden finanziellen Abhängigkeit von supranationalen und internationalen Organisationen. Befürchtet wird ein Verlust der Radikalität feministischer Kritik, ein weniger nachhaltiger „Projektfeminismus“, die Professionalisierung sowie Elitisierung der Frauen-NGOs und der damit zusammenhängende Verlust des Kontakts zur Basis.