Linke Geschichte macht eine Generationenfrage auf. Unterschiedliche politische Generationen setzen sich und ihre politische Praxis in unterschiedlichen Bezug zu einer linken Bewegungsgeschichte. Als B. 2001 in Genua demonstrierte, war er schon seit 17 Jahren in der radikalen Linken aktiv. Für ihn gab es anfangs kaum eine „eigene“ Vorgeschichte: „Als ich angefangen habe, mich politisch zu engagieren, da gab es keine Geschichte, wir haben quasi bei Null angefangen. Klar, es gab die 68er und so, aber das war ja nicht unseres, es gab keine autonome Bewegung. Was alles schon passiert ist, wie hat sich das entwickelt, warum stehen wir heute an dem Punkt, an dem wir stehen? Das ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern das hat eine Vorgeschichte, eine Geschichte von dreißig Jahren Kämpfen in verschiedensten Formen und diese Entwicklungen zu verstehen und auf dem Schirm zu haben, finde ich wichtig. Und da ist Genua ein Teil von.“1
Der Name Genua verweist auf Bilder, die sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben: riesige, in Tränengasnebel getauchte Demonstrationszüge; die fantasievoll gepolsterten, zum Sturm auf die Rote Zone anlaufenden Aktivist_innen des Tute Bianche-Netzwerks; die brennende Wanne der paramilitärischen Carabinieri. Und immer wieder brutale Polizeigewalt, die schließlich in der Ermordung Carlo Giulianis auf der Piazza Alimonda ihren drastischsten Ausdruck findet. Diese Bilder sind deshalb so wirkungsmächtig, weil sie zugleich ungeheure Faszination wie große Ängste erzeugen. Genua wird rückblickend einerseits zum krassen Riot-Event verklärt (vor allem von denjenigen, die nicht dabei waren und glauben, etwas verpasst zu haben), andererseits als staatliche Gewaltorgie eines völlig enthemmten Repressionsapparates erinnert.
Bilder und Mythen
Erinnerung setzt sich stets aus symbolisch aufgeladenen Bildern zusammen. Dies grundsätzlich zu kritisieren und daraus eine Art „Bilderverbot“ abzuleiten, schlägt fehl. Im Falle Genuas mögen diese erinnerten Bilder die Mobilisierungskraft miterklären, die in vielen Aktionen rund um den Jahrestag zum Ausdruck kommen. Selbst im meist recht beschaulichen Münster demonstrierten fast 50 Linke unangemeldet durch die Innenstadt. Allerdings können die wirkungsmächtigen Bilder vergangener Protestereignisse schnell zur Grundlage regelrechter Mythen werden.
„Ich bin mit diesen autonomen Mythen groß geworden“, stellte I., der als Mitglied einer Antifa-Gruppe nach Genua reiste, fest. „Wackersdorf 86, Brokdorf und Startbahn West. Davon hörte man immer und war nie dabei. Irgendwie dachte man ‚Wow, das muss so abgegangen sein damals und ganz schnell entstehen solche Mythen.“ Mythen, deren Inhalte nicht länger mit den Erfahrungen der Aktivist_innen übereinstimmen. Ein ebensolcher Mythos rankt mittlerweile auch um die Ereignisse von 2001. „Wenn ich mich mit Jüngeren unterhalte, höre ich oft ‚Wow, Genua‘. Ich finde Genua auch für die Geschichte von uns Linken wichtig und trotzdem denke ich, ein gewisser Mythos Genua, der von gewissen Seiten, also jetzt eher von Autonomen und Antifaszene kommend, den würde ich gerne bis zu einem gewissen Punkt, vielleicht nicht gerade brechen, aber schon anknacksen.“
Viele der Mythen um Genua betreffen die militanten Auseinandersetzungen. Mehrere Stunden lang konnten am 20. Juli 2001 militante Kleingruppen relativ ungestört agieren, Barrikaden bauen und Banken in Brand stecken, bis die Polizei gegen Nachmittag mit massiver Gewalt angriff. „Für mich gab es so um 13 Uhr einen Bruch. Bis 13 Uhr war es total surreal; die lassen dich hier machen, die schießen aus hundert Metern Entfernung ihr Gas, da sind die Gasgranaten noch im hohen Bogen geflogen. Im Nachhinein halte ich diese Zurückhaltung seitens der Polizei für Kalkül. Dann, auf einmal, sind die Bullen nach vorne gegangen. Irgendwann haben sie die Gasgranaten nicht mehr im hohen Bogen geschossen, sondern auf Kopfhöhe und Körperhöhe. Sie haben versucht, Leute zu treffen. Wenn so eine Gasgranate trifft, gibt das schwere Verbrennungen, nicht irgendwie blaue Flecken. Was dann folgte war eine Gewaltorgie.“
Die massive Polizeigewalt war ein bestimmendes Thema in den Tagen, Wochen und Monaten nach den Protesten. Nicht nur, weil die Polizei scharf geschossen hatte und Carlo Giuliani ermordete. Hunderte Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, die psychischen Folgen der Angriffe dauern bei vielen über Jahre an: „Genua war das traumatischste Erlebnis in meinem Leben. Ich muss heute noch, wenn ich Bilder sehe oder Texte lese, anfangen zu heulen. Das geht nicht anders. Ich war schon auf einer Menge Demos, wo es abging, aber so was habe ich noch nicht erlebt.“ (B.) – „Was ich mit den eigenen Augen gesehen habe, diese Häme, dieses Faschistische, Liegende zu treten, zu erniedrigen, Zigarettenkippen auf ihnen aufzudrücken. Wir waren an der Ecke, wo Carlo erschossen wurde, und ich habe gesehen, wie der Leichnam abtransportiert wurde. Da war nichts mit Bahre oder so. Die haben einfach den toten Körper zu zweit genommen und in den Jeep geschmissen, was auch sehr symbolisch war. Es war eine Art von Menschenverachtung, die ich nie vergessen werde.“ (I.)
Eine Erinnerung an Genua muss einen Raum für diese Erlebnisse und Erfahrungen schaffen. Fragwürdige Erzählungen eines Märtyrertodes oder eine Verherrlichung der Riots bieten dafür keinen Platz.
Die starke Betonung des Agierens von Zivilpolizist_innen und Agents Provocateurs während der Straßenschlachten läuft ebenfalls Gefahr, einen entlastenden Mythos aufzurichten. Obwohl bewiesen ist, dass sich Zivilpolizei unter den Demonstrierenden befand und Beweismittel gefälscht wurden, sieht I. in diesem Diskurs eine Flucht vor der Übernahme von Verantwortung: „Also ich glaube im Nachhinein, dass es Teile der Bewegung gab, die sich keinerlei Gedanken darüber gemacht haben, wie weit man einen Staat militärisch herausfordern kann. Ich will damit nicht sagen, dass die Leute selbst schuld sind, was da passiert ist, sondern ich glaube, es war auch gewollt, dass es so eskaliert. Ich sage halt, dass auch auf unserer Seite einige Leute dabei waren, wo ich denke, da haben sich die Wertekriterien ganz schön verschoben.“
Letztendlich ist die Frage, ob und in welchem Maße die Gewalteskalation durch den Staat angeheizt wurde, nicht mehr die wichtigste: „Wir hatten uns auf Sachen eingestellt, wir waren alle ausgerüstet. Fünf Wochen vorher hatten die Bullen in Göteborg geschossen. Uns war klar, es kann kippen, es wird kippen. Aber ich habe Sachen erlebt, ich fand, dass die Gewalt völlig aus dem Ruder lief. Nicht nur von den Bullen. Ich will die in keinster Weise in Schutz nehmen, überhaupt nicht. Es war klar, wir haben die Konfrontation gesucht. Das hat am Anfang alles super geklappt, aber dann lief es auch von unserer Seite aus dem Ruder. Irgendwann wurden Brände in Banken gelegt, über denen Wohnungen lagen. ... Wir müssen uns heute selbstkritisch fragen – und ich finde militante Aktionen, die vermittelbar und sinnvoll sind, nach wie vor richtig: Wie konnte man auf die Idee kommen, das soweit zu treiben, weil man eigentlich weiß, dass ein Staat ganz anders hoch militarisiert ist, und das dann soweit zuzuspitzen? Und zumindest in den Teilen, in denen ich mich bewegt habe, war die Bereitschaft weit zu gehen da, aber das ist eine subjektive Einschätzung.“
Auch linke Bewegungsgeschichte ist eine Konstruktion
Rückblickend erscheint es verlockend, bestimmte Ereignisse und Tendenzen linker Bewegungsgeschichte zu verklären oder abzuwatschen. Besonders über die so genannte Globalisierungskritische Bewegung werden schnell vereinfachende Urteile gefällt, die der Bewegung einen radikalen, teilweise sogar jeden progressiven Charakter absprechen. Der Vorwurf der „verkürzten Kapitalismuskritik“ ist schnell zur Hand. Wer die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse und den politischen Kontext nicht beachtet, mag sich zwar in einer Attitüde des Bescheidwissens gefallen, zu einer sinnvollen politischen und historischen Bewertung linker Geschichte gelangt mensch so nicht. Warum erzeugten denn die Gipfelproteste nach Seattle solch ein Interesse? „Vielleicht sollten wir uns an die Situation Anfang der 1990er Jahre erinnern, um die Begeisterung für dieses Gipfelhopping zu verstehen. 1989, Fall der Mauer, Sieg des Kapitalismus. Das war eine total krasse Stimmung. Deutschland wurde größer. Der real-existierende Sozialismus, an dem wir immer superviel Kritik hatten, war weg. Der Kapitalismus hat sich jeden Tag als Sieger postuliert, bekannt gemacht, abgefeiert. Schließlich sei das Ende der Geschichte ja erreicht, der Beweis vollbracht, das beste aller Systeme ist der bürgerliche Parlamentarismus mit Kapitalismus. Daran wird die ganze Menschheit glücklich.” (M.)
Die großen Mobilisierungen zu den Gipfeltreffen machten dann kapitalismuskritische Forderungen wieder hörbar. Als erstes Ereignis eines neuen Bewegungsaufbruchs gilt allerdings der Aufstand der Zapatistas: „Da kommt 1994 dieses ‚Ya Basta‘ aus Chiapas, dieses ‚Nein, das ist noch nicht das Ende der Geschichte‘. Die Leute im letzten Winkel Mexikos sagten, ‚Nö, nö, wir machen jetzt hier unser Ding‘. Und sie wollten es anders machen, deshalb hat das viele Leute inspiriert, ihnen Mut gemacht, einfach ‚Nein‘ zu sagen.“
Die nachträglich vorgenommene Kontextualisierung verweist deutlich darauf, dass natürlich auch Bewegungsgeschichte eine Konstruktion von Geschichte ist. Rückblickend werden Entwicklungen deutlich, Handlungen erhalten Legitimität oder verlieren diese. Folgen und Wirkungen werden festgemacht, Schlussfolgerungen gezogen. Damit stellt sich auch die Frage der Repräsentanz: Welche und wessen Geschichte(n) werden erzählt? Für unsere Veranstaltung mussten wir eine Auswahl treffen. Da nicht die kontroverse Debatte um zugespitzte Thesen, sondern vielmehr die gemeinsame Verständigung und Reflexion im Vordergrund stand, tat es der Veranstaltung keinen Abbruch, dass die eingeladenen Genossen alle Vertreter einer außerparlamentarischen radikalen Linken waren. Sie waren und sind zwar in unterschiedlichen Zusammenhängen (Antifa, Zapatista-Solidarität, autonome Szene) aktiv, teilen aber ähnliche Erfahrungen. Diese Auswahl repräsentierte natürlich nicht die Breite und Vielstimmigkeit der Multitude von Genua bzw. der globalisierungskritischen Bewegung. Nicht geplant war, dass ausschließlich Männer sprachen, wodurch eine Repräsentanz verschiedener Gender-Identitäten nicht gewährleistet war.
Die große Resonanz und das Feedback auf die Veranstaltung machten deutlich, dass großes Interesse an einer Auseinandersetzung mit linker Geschichte besteht. Richtig war, dabei auf Fotos und Videos komplett zu verzichten und nur die Berichte der damals Aktiven als Diskussionsgrundlage heranzuziehen. Selbst erst zehn Jahre zurückliegende Ereignisse können es wert sein, wieder zum Thema gemacht zu werden. Nicht zuletzt, weil besonders Antifa-Zusammenhänge vielfach von Jüngeren mitgetragen werden. Dann sind zehn Jahre für viele von uns eine lange Zeit, politisch betrachtet. Vor allem aber geht es um eine offene Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte:
„Da gibt es in der jüngeren Geschichte unheimlich viel zu entdecken, auch Strategien sich anzugucken, wann funktioniert was? Wir sollten unsere Berichte nicht wegschmeißen, sondern die eigene Geschichte von unten dokumentieren.“ (M.)