Dieser Artikel basiert auf unserer Broschüre »DefinitionsMacht: schwergeMacht. Zu Vergewaltigungsdebatten in der radikalen Linken und darüber hinaus«, in der wir den bisherigen Stand unserer Diskussion veröffentlicht haben, um der verbreiteten Geschichtslosigkeit der jetzigen Debatten um sexualisierte Gewalt etwas entgegenzusetzen.
Um eine Perspektive im Umgang mit sexualisierter Gewalt zu entwickeln, betrachten wir erst mal die Ausgangslage. Trotz eines gesellschaftskritischen Anspruchs der autonomen Linken wird das Geschlechterverhältnis häufig ausgeblendet, die Beschäftigung mit Sexismus und sexualisierter Gewalt »privatisiert« und/oder fast in klassischer Arbeitsteilungs-Manier an Frauengruppen delegiert. Die fortschreitende Nichteinbeziehung von feministischen Positionen gründet auch im Niedergang der Frauenbewegung: der politische Druck fehlt. Feministinnen sind heute in der gemischtgeschlechtlichen Linken subsumiert, wo die jüngeren Frauen auch meist politisch sozialisiert wurden. Frauengruppen hingegen werden wieder offen in Frage gestellt, Diskussionen um Machtverhältnisse zwischen Frauengruppen und Gemischtlinker ausgespart.
Die derzeitige Situation spiegelt sich in fataler Weise in den Vergewaltigungsdebatten wider. Die Schlammschlachten bezeugen einmal mehr die Geschichtslosigkeit, das partielle Unvermögen in der Linken, das eigene Vorgehen zu hinterfragen, und die Ausblendung des Geschlechterverhältnisses. Vielmehr bilden die Vergewaltigungsdebatten derzeit den einzigen Aufhänger für die Diskussion innerhalb der autonom-linken Öffentlichkeit um das Geschlechterverhältnis, was für Bewusstseinsbildung denkbar ungünstig ist, da sie niemandem die Gelegenheit zum Erkenntnisgewinn gibt. Die zunehmende Behandlung von Sex und Beziehungen als »Privatsache« führt nur zu häufig dazu, dass ein Bild der betroffenen Frau als zu pathologisierendes, passives Opfer reproduziert wird. Abstrakte Kritik feministischer Parolen (»heißt nein wirklich immer nein?«) und an dieser Stelle irrelevante Problematisierungen irgendwelcher HobbypsychologInnen (»aber es gibt doch auch Frauen, die Vergewaltigungsphantasien1 haben!«) rücken ins Zentrum bzw. werden zur »Gretchenfrage«. Im Fokus des Interesses steht nicht etwa die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse oder die Suche nach einem vernünftigen politischen Umgang mit sexualisierter Gewalt, sondern ob der »Täter« wirklich ein »Täter« und das »Opfer« wirklich ein »Opfer« ist.
Definitionsrecht oder Definitionsmacht?
Ohne die Gesellschaftsverhältnisse einzubeziehen, wird versucht, ein abstraktes, allgemeingültiges Raster auszutüfteln, bei dem die Täterbestrafung in den Vordergrund rückt und von der Subjektivität des Erlebten und der Er- und Überlebenden2 wegführt. Das Verfahren weist Züge eines bürgerlichen Gerichtsprozesses auf und zeugt sowohl von Perspektivverlust als auch von einer Sehnsucht radikal-linker Zusammenhänge nach einfachen Verhältnissen, die das schlechte Bestehende affirmiert. Die Begriffswahl Definitionsrecht gegenüber Definitionsmacht verdeutlicht dies. Ein »Recht« wird gewährt (oder nicht), wodurch ein passives Bild der betreffenden Frau impliziert und diese dadurch als Objekt behandelt wird. Bleibt die Frage, wer dieses Recht gewährleistet. Der Begriff »Definitionsrecht« vermittelt eine »Einklagbarkeit« gegenüber einem System. Ein dogmatisches Vereinbarungsschema, in welchem ein pseudo-juristisches Vorgehen dominiert, reduziert die Frau auf einen »Fall« und entpolitisiert das Geschehene.
Der Begriff Definitionsmacht ist nicht auf den Bereich sexualisierte Gewalt beschränkt, sondern wird in allen politischen Kontexten von Linken benutzt. Es geht dabei um die Frage, wer die Macht hat, etwas zu definieren. Die Linke skandalisiert die Definitionsmacht herrschender Eliten, Begriffe festzulegen; umgekehrt wird Definitionsmacht als eine politische Maßnahme für diejenigen eingefordert, die direkt von Unterdrückung betroffen sind. Niemand würde diesbezüglich auf die abstruse Idee kommen, von Definitionsrecht zu sprechen, als würde das irgendeine Instanz garantieren. Wer von einer nötigen Infragestellung der Definitionsmacht von Frauen in der radikalen Linken redet, suggeriert ein ausgeglichenes Machtverhältnis, das nicht vorhanden ist, und blendet damit auch dieselben Verhältnisse aus, die autonome Organisierung von Frauen und deren Widerstand überhaupt notwendig machen. Implizit werden auf diese Weise Frauengruppen als Organisationsform – und potentielle Gegenmacht gegenüber einer unsolidarischen Linken – infragegestellt. Bereits bei der Definition dessen, was überhaupt wichtige Fragen sind, beginnt die Definitionsmacht. Die generös angebotene »Diskussion« ist vor diesem Hintergrund keine, sondern schlichter Machtkampf. Somit ist es seitens der Frauengruppen folgerichtig, sich nicht gemäß einer Debatte zu verhalten, sondern wie in einer Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner.
Macht: darf’s ein bisschen mehr sein?
Die Erkämpfung der Definitionsmacht bzw. die Einsicht in die Notwendigkeit dieser kann nur eine – wenn auch gewichtige – politische Maßnahme sein, die sich durch die gegebenen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse legitimiert. Es handelt sich dabei um kein perfektes Konzept, da es historisch bedingt aus einer Defensive geboren wurde und zudem eine »missbräuchliche« Verwendung nicht auszuschließen ist. Letzteres als Argument gegen die Definitionsmacht ins Feld zu führen heißt jedoch auch, sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse auszublenden, zu denen diese politische Forderung in enger Beziehung steht. Die Unterstellung eines (potentiell) inflationären »Begriffsmissbrauchs« verweist an dieser Stelle einmal mehr auf die Verkennung der Relationen. Der Skandal besteht nicht in der gegebenen Möglichkeit, dass Frau XY »widerrechtlich« Gebrauch von dem »Machtmittel« Vergewaltigungsdebatte macht. Der Punkt ist, dass ohne Verwendung des Vergewaltigungsbegriffs oder anderer »Tabubrüche« mit Sicherheit nichts passiert. Die Verteidigung und Erweiterung der »Definitionsmacht« muss deren Geschichte einbeziehen und unter Bezug auf Prinzipien feministischer Politik erfolgen. Das beinhaltet die Beibehaltung und Stärkung der Autonomie der Frauengruppen und die prinzipielle Möglichkeit der Frauen innerhalb gemischter Gruppen und Organisationen, diese auch abgestuft nach Bedarf für sich einzusetzen. Nur aus der Autonomie heraus kann die Definitionsmacht über die Gestalt und Relevanz sexualisierter Gewalt und sexistischer Übergriffe durchgesetzt werden. Schließlich geht es um Macht, und die wird nicht freiwillig abgegeben, sondern durch den Aufbau von Gegenmacht erstritten.
Es geht uns jedoch nicht um ein »mechanisches« Verteidigen einer lediglich situativen Definitionsmacht, sondern um die Erweiterung der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt in der gemischten radikalen Linken. Diese Auseinandersetzung sollte der Orientierung »pro-Frau« statt »contra-Mann« folgen. Derartige Prioritäten zu setzen hieße, sich für das zu entscheiden, was eine linke Bewegung und Organisation leisten kann, statt weiterhin Mini-Staat oder widerspruchsfreie Zone zu spielen. Wir halten es für notwendig, sich kontinuierlich mit der gesellschaftlichen Bedingtheit sexueller und sonstiger Männergewalt zu befassen, worauf dann aufgebaut und angesichts konkreter Vorfälle zurückgegriffen werden kann, statt das vereinzelte Heraufbeschwören eines Eklats. Auch unabhängig vom Tatbestand »Vergewaltigung«, angesichts »weniger schlimmer« Vorfälle muss gehandelt werden. Priorität bei allem, was infolge von Übergriffen unternommen wird, muss Schutz und ggf. Rehabilitierung3 der betroffenen Frau sowie die Orientierung an ihrem Willen sein4, was sich punktuell widersprechen kann.
Dabei ist unsere Erfahrung, dass Gewalterlebnisse für die Opfer subjektiv leichter verkraftbar sind, wenn sie nicht wie eine Bestätigung immergleicher, unveränderlicher Verhältnisse und darin erlebter Missachtung daherkommen. Wenn anstelle der bisher häufigsten Gewissheit, dass das betreffende Erlebnis aus gesellschaftlichen Verhältnissen hervorging, die zu bekämpfen die GenossInnen nicht für nötig erachten, der Eindruck tritt, dass sie im Kampf dagegen prinzipiell hinter der Betroffenen stehen, kann z.B. das Gefühl von Abwertung im Nachhinein gemildert werden.
… darüber hinaus
Die geforderte Parteilichkeit gerade der gemischten linken Gruppen lässt sich nicht als Verhaltenskanon verpacken. Statt beim individualistischen »im Zweifel für die Frau« stehen zu bleiben, muss als Boden für konkretes Verhalten eine umfassende Sicht auf die – patriarchal verfassten – Dinge entwickelt werden. Praktisch muss die Bereitschaft da sein, wenigstens Schadensbegrenzung zu leisten. Wem es bisher an dieser Erkenntnis mangelte, dem sei gesagt: die Parteilichkeit der Männer für ihresgleichen in der gegenwärtigen Gesellschaft, ihr männerbündisches Agieren, macht feministische Parteilichkeit erst notwendig. Um den Zustand tatenloser männlicher Mittäterschaft zu durchbrechen, braucht es aktive, sichtbare Parteinahme von Männern – den Verrat am Männerbund: »Wer schweigt, stimmt zu«. Es ist Aufgabe der gesamten radikalen Linken, sich mit sexualisierter Gewalt auseinander zu setzen und daraus Konsequenzen zu ziehen, die tatsächlich den gesellschaftlichen Verhältnissen etwas entgegensetzen. Würden wir die Linke für reaktionär und sonst nix halten, dann bräuchten wir kein Bündnis mit ihr zu suchen, und ein Selbstverständnis als Linke wäre obsolet. Aber auch »Feminismus« bietet nicht automatisch ein emanzipatorisches Zuhause. Da wir uns selbst auch als Linke sehen und den Anspruch haben, linke Politik mitzubestimmen, sehen wir nicht ein, weshalb wir uns zwischen einer »linken« und einer »feministischen« Ausrichtung entscheiden sollten. Es geht uns daher sowohl darum, Debatten zu feministischen Positionen unter Frauen anzuregen, als auch (gemischt)linke Politik durch feministische zu radikalisieren. Obwohl die Berliner Debatte schon eine Zeitlang her ist, ist es leider sehr wohl nötig, den Sinn einst erkämpfter feministischer Gepflogenheiten und Begriffe neu herzuleiten und auch auf diesem Wege durchzusetzen. Die fruchtlosen Vergewaltigungsdebatten stehen dabei symptomatisch für die autonome Geschichtslosigkeit und den daraus folgenden Zwang, permanent das Rad neu zu erfinden5.