In der Geschichte der Linken war die Machtfrage meist gleichbedeutend mit der Eroberung der Staatsmacht, also der Übernahme von Herrschaft. Die Sozialdemokratie wollte diesen Weg über Wahlen beschreiten und die Gesellschaft aus dem Kapitalismus heraus reformieren. Die Bolschewiki rissen 1917 revolutionär die Staatsmacht an sich, um den Sozialismus herbeizuführen. Und selbst die Anarchist*innen beteiligten sich 1936 in Spanien an der Regierung, um von dort aus die soziale Revolution zu verwalten.

Dieser Weg ist gescheitert. Wo Linke an der Regierung beteiligt waren, konnten sie im besten Fall einige Verbesserungen herbeiführen und im schlimmsten Fall etablierten sie ein Terrorregime wie im Stalinismus, womit sich das Emanzipationsversprechen in sein Gegenteil verkehrte. Doch auch im 21. Jahrhundert setzen Linke immer noch auf den Staat – seien es Jeremy Corbyn und Bernie Sanders, Syriza und Podemos oder Hugo Chavez und Evo Morales. Wo sie an die Regierung kommen, sind sie stets mit den gleichen Fallstricken konfrontiert: Irgendwo müssen die finanziellen Mittel für die Reformpolitik herkommen, im Falle von Chavez und Morales etwa aus dem Extraktivismus und der damit verbundenen Zerstörung von Lebensgrundlagen insbesondere indigener Communities.

Der Staat ist nicht das Gegenstück zum Markt, sondern mit diesem eng verwoben. Um handlungsfähig zu sein, ist er auf Geld angewiesen, das er nur aus einer funktionierenden Kapitalverwertung bekommt – und das wird seit der Verwertungskrise des Kapitals in den 1970er Jahren zunehmend schwieriger. Doch selbst in sozialistischen Wirtschaftsmodellen, in denen der Staat den Markt auflöst und die Wirtschaft plant, wird die Warenform, das Primat der Verwertbarkeit und der Zwang zur Lohnarbeit reproduziert. Um soziale Leistungen zu finanzieren, muss der Staat den Plan durchsetzen und dies tut er in der Regel, indem er wie im Kapitalismus Konsummöglichkeiten an Arbeitsleistungen koppelt und seine Arbeiter*innen zur Lohnarbeit zwingt. Emanzipatorische Verhältnisse sind so nicht zu machen.

Aber wie können wir Machtfragen auf eine andere Art und Weise stellen? Dafür wollen wir uns zunächst mit dem Machtbegriff auseinandersetzen, um dann zu diskutieren, wie eine Selbstermächtigung aussehen kann, die Herrschaft nicht reproduziert, sondern überwindet.

Was ist Macht?

Macht kann zunächst als Fähigkeit verstanden werden, etwas Neues in die Welt zu setzen oder etwas bereits in der Welt Bestehendes zu erhalten. Als Menschen finden wir unsere Lebensbedingungen nicht einfach vor, sondern schaffen und erhalten sie. Dies tun wir nicht allein und getrennt voneinander, sondern in Beziehungen. Hierbei lassen sich interpersonale Nahbeziehungen mit Menschen, die wir kennen, und transpersonale Fernbeziehungen mit uns nicht bekannten Menschen unterscheiden. Letztere sind weniger erfahrbar als erstere und oft auch vollständig unsichtbar. Tatsächlich sind sie jedoch die maßgeblichen Beziehungen, denn sie sind Teil der Re-/Produktions- und Distributionsketten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Weil sie so undurchsichtig auftreten, werden sie oft übersehen.

Beide Beziehungsweisen können eine herrschaftliche Form annehmen. Dann schlägt kreative Macht (power-to) in instrumentelle Macht als Herrschaft über andere Menschen (power-over) um, wie John Holloway es ausdrückt. In unseren unmittelbaren Beziehungen ist das erlebbar: Instrumentelle Macht tritt hier als Herrschaft auf, die von konkreten anderen Menschen ausgeübt wird. Diese Herrschaft kann bewusst ausgeübt werden, muss es aber nicht. Privilegien bestimmen sie. Ihre Inanspruchnahme muss kein bewusster Akt sein, sondern tritt als Alltagshandeln auf. Auf der anderen Seite wird die ausschließende Wirkung dieser Herrschaft von denen erlebt, für die dieses privilegierte Handeln eine Abwertung, Ausgrenzung oder Unsichtbarmachung darstellt. Solche Privilegierungs-Diskriminierungskomplexe müssen nicht auf eine Dimension wie Geschlecht, Hautfarbe, Körperlichkeit etc. beschränkt sein, sondern treten oft überlagernd auf. Solche überschneidenden Effekte werden zwar intersektional analysiert, doch ihr innerer Zusammenhang findet kaum theoretische Beachtung.

Einen Zugang dazu finden wir, wenn wir uns vermittelten Fernbeziehungen und ihren Herrschaftsstrukturen zuwenden. Im Unterschied zu Nahbeziehungen ist bei Fernbeziehungen kaum sichtbar, wie sich verschiedene Diskriminierungsformen verschränken. Sie erscheinen als ökonomisch vermittelt. Zwei Beispiele: Das Smartphone, das ich kaufe, verbindet mich mit Menschen in Coltan-Minen und chinesischen Hightech-Fabriken – eine rassistisch-klassistische Beziehung. Werden meine Angehörigen gepflegt, verbindet mich das mit Frauen, die für einen Hungerlohn Sorgearbeit leisten – eine sexistisch-klassistische Beziehung. Im Unterschied zu Nahbeziehungen kann ich hier nicht über meine Beziehungen zu den Menschen verfügen, die ich zwar nicht kenne, die aber für mich arbeiten oder eine andere Leistung erbringen. Ich kann nur kaufen oder nicht kaufen, und beide Entscheidungen bestimmen die Lebensbedingungen von anderen. Statt selbst über meine Beziehung zu diesen Menschen zu entscheiden, wird unsere Beziehung also von einer nicht sichtbaren Exklusionslogik bestimmt. Meine Geldersparnis beim günstigen Handykauf oder Abschluss eines Pflegevertrags geht auf die Knochen von anderen Menschen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich den darin liegenden Sachzwang nicht aufheben. Die Exklusionslogik bestimmt jenes Gefüge, in dem das individuelle Handeln seine Funktion bekommt: Eine*r muss immer die Folgen tragen – und wenn es die Umwelt ist. Eine emanzipatorische Strategie muss eine Antwort auf die Frage entwickeln, wie die Exklusionsmatrix aufgehoben werden kann und was an ihre Stelle tritt.

Für die konkrete Utopie

Bisherige Transformationsstrategien betonen drei Elemente: Prozess, Bruch und Konstruktion. Eine Transformation ist ein Prozess des Konflikts mit der alten Logik und ihren herrschenden Instanzen. Sie muss gleichzeitig ein qualitativ Neues anstreben, das nur im Bruch mit der dominanten alten Logik erreicht werden kann. Schließlich braucht es gleichzeitig die Konstruktion neuer sozialer Beziehungen und Produktionsweisen, die gesellschaftlich verallgemeinerbar sind.

«Eine freie Gesellschaft kann nur eine solidarische sein. Das heißt: eine Gesellschaft, in der alle Menschen versorgt sind und diese Versor- gung auch von allen geschaffen wird.»

Für uns sind alle drei notwendige Bestandteile einer Aufhebungsbewegung. Doch etwas fehlt dabei: eine konkrete Utopie. Ohne eine Vorstellung davon, worauf die neue gesellschaftliche Organisation gründet, kann kein Ziel bestimmt werden. Und ohne ein solches Ziel kann nicht entschieden werden, welche Bedeutung bestimmte Prozesse, Brüche und Konstruktionen haben. Gehen sie in die richtige Richtung? Brechen sie mit den relevanten Strukturen? Bereiten sie neue gesellschaftliche Beziehungen vor?

Eine freie Gesellschaft kann nur eine solidarische sein. Das heißt: eine Gesellschaft, in der alle Menschen versorgt sind und diese Versorgung auch von allen geschaffen wird. Wenn dies für alle Menschen gelten soll, dann müssen auch alle bedingungslos eingeschlossen werden. Eine solche gesellschaftliche Inklusionslogik bildet eine Handlungsmatrix, die Anreize schafft, andere und ihre Bedürfnisse miteinzubeziehen, um die eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können.

In einer solidarischen Gesellschaft verschwinden die Exklusionen in den interpersonalen Nahbeziehungen zwar nicht automatisch, doch die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Privilegierungs-/Diskriminierungskomplexe verlieren ihre Funktion. Es wird nun möglich, Exklusionen zu überwinden. Im Falle der vermittelten Fernbeziehungen liegt es nahe, auch Kooperationen zwischen den produktiven und reproduktiven Einheiten inkludierend zu gestalten. Ohne das Mittel der Herrschaft gibt es kaum Möglichkeiten, anderen die Kooperationsbedingungen mittels Macht oder Gewalt aufzuzwingen, da das Gegenüber jederzeit aus den Kooperationen austreten kann, ohne seine Existenz zu gefährden. Damit sind nur noch solche Kooperationen möglich, die die Bedürfnisse aller Kooperationsbeteiligten einschließen. Eine solidarische Gesellschaft ist dann erreicht, wenn sie nicht mehr von interpersonaler Solidarität abhängt, weil Solidarität in die Inklusionsstrukturen eingeschrieben ist. Doch wie kommt es dazu?

Zwei zentrale Bedingungen müssen erfüllt sein, damit sich Inklusionsstrukturen ausbilden können: Freiwilligkeit und kollektive Verfügung. Freiwilligkeit bedeutet Abwesenheit von Arbeits- und anderem Zwang, so dass Tätigkeiten motiviert und verantwortungsvoll aufgenommen werden können. Stimmen individuelle und gesellschaftliche Ziele überein, werden die Tätigkeiten auch motiviert ausgeführt. Sie sind dann erfüllend, wenn ich erlebe, dass ich zu Verhältnissen beitrage, in denen für meine Bedürfnisse gesorgt ist. Freiwilligkeit geht über die unmittelbare Freude am Tun hinaus und schließt Anstrengung und Verantwortungsübernahme ein.

«Kollektive Verfügung bedeutet, dass die Menschen, die sich einer Aufgabe annehmen, auch entscheiden können, wie die notwendigen Re-/ Produktionsmittel verwendet werden.»

Voraussetzung für Freiwilligkeit ist die kollektive Verfügung über die jeweils benötigten Mittel. Das schließt Eigentum aus. Denn Eigentum ist die Voraussetzung dafür, seine Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen. Kollektive Verfügung bedeutet, dass die Menschen, die sich einer Aufgabe annehmen, auch entscheiden können, wie die notwendigen Re-/Produktionsmittel verwendet werden. Gesellschaftlich setzt dies voraus, das Eigentum aufzuheben, doch auch schon vor einem solchen notwendigen Bruch spielen Freiwilligkeit und kollektive Verfügung eine wichtige Rolle.

Kämpferische Keimformen

Ansätze davon sehen wir in zahlreichen Formen von Commons bzw. Commoning – also überall dort, wo Menschen kollektiv über Ressourcen und soziale Prozesse verfügen und selbstbestimmt, motiviert und freiwillig tätig werden. Commoning ist dabei die soziale Praxis und Beziehungsweise und Commons die soziale Form der Dinge, in denen sich diese Praxis materialisiert. Es sind die Keimformen einer befreiten Gesellschaft. Das heißt, dass Freiwilligkeit und kollektive Verfügung dort schon vorhanden sind, allerdings noch nicht entfaltet. Diese Praxis beschränkt sich also auf einen begrenzten Bereich, oft im interpersonalen Rahmen, der in Konflikt mit der gesellschaftlich dominanten Exklusionslogik steht.

Konkret sehen wir Commons etwa in Solidarischen Landwirtschaften, Hausprojekten und Stadtteilzentren, aber auch in freier und offener Software oder in sozialen Bewegungen, die sich bereits transpersonal organisieren. Doch weil die gesellschaftliche Logik noch eine exkludierende ist, stoßen diese Keimformen vielerorts an Grenzen, nicht zuletzt an die des Eigentums. Denn damit wir unsere Lebensbedingungen über Commoning herstellen können, müssen wir auch über die Ressourcen verfügen, die wir dazu brauchen. Unsere kreative Macht, unser selbstbestimmtes Tun ist überall dort eingeschränkt, wo wir nicht über die «Mittel des Tuns» (Holloway) verfügen. Das gilt nicht nur für materielle Re-/Produktionsmittel, sondern auch für symbolische und soziale Mittel, zu denen der Zugang durch rassistische, sexistische, ableistische und andere diskriminierende Strukturen eingeschränkt wird – etwa, wenn in Entscheidungsprozessen nur bestimmte Stimmen gehört werden. Um kollektive Verfügung herzustellen, braucht es also sowohl Kämpfe auf der materiellen Ebene, um Land, Immobilien und Produktionsmittel anzueignen, als auch auf der symbolisch-sozialen Ebene mit dem Ziel, inklusive und solidarische Beziehungen zu schaffen.

Aneignungskämpfe können sich auch der staatlichen Reformpolitik bedienen, wie es die Kampagne Deutsche Wohnen & Co Enteignen in Berlin tut. Noch besser zeigen sie sich bei ungehorsamen Aktionen, bei Besetzungen von Häusern und Fabriken oder von Land und Wäldern. Jedoch treffen auch Besetzungen auf zahlreiche interne und externe Beschränkungen: In sozialen Bewegungen wirken nicht nur Privilegierungs-/Diskriminierungskomplexe fort, sondern sie müssen sich auch mit der Staatsmacht auseinandersetzen, was entweder Legalisierungsverhandlungen oder Räumungen bedeuten kann.

Auch die Möglichkeit, die Re-/Produktion jenseits von Markt und Staat zu organisieren, bleibt innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft beschränkt. So sind aus den argentinischen Fabrikbesetzungen Anfang der 2000er Jahre lediglich Genossenschaften hervorgegangen, in denen es zwar keine Chefs mehr gibt, die Verwertungszwänge des Marktes aber erhalten bleiben. Um diese «Schwerkräfte der alten Gesellschaft» (Bini Adamczak) außer Kraft zu setzen, braucht es einen Bruch – herbeigeführt etwa durch eine Krise, die die Legitimität von Kapitalismus und Staat für eine große Zahl von Menschen in Frage stellt, während gleichzeitig Alternativen greifbar sind. In einer Bewegung von wilden Besetzungen, in der auch die tauschförmige Vermittlung erschüttert wird und die Dinge frei verteilt werden, könnte sich das Commoning gesellschaftlich verallgemeinern. Damit wäre auch jene gesellschaftliche Matrix überwindbar, die es so schwierig macht, Exklusionen im interpersonalen Raum zurückzudrängen.

«Der große Bruch kann also nur gelingen, wenn ihm zahlreiche kleine Brüche vorweg gehen, in denen sich Menschen kollektiv materielle Ressourcen und ihre eigene Lebenszeit aneignen, um Keimformen aufzubauen.»

Um eine solche Bewegung vorzubereiten, scheint es uns wichtig, dass wir bereits vor dem gesellschaftlichen Bruch Erfahrungen mit Commoning machen, damit es zu einer greifbaren Alternative werden kann. Der große Bruch kann also nur gelingen, wenn ihm zahlreiche kleine Brüche vorweg gehen, in denen sich Menschen kollektiv materielle Ressourcen und ihre eigene Lebenszeit aneignen, um Keimformen aufzubauen.

Die Machtfrage zu stellen bedeutet demnach nicht, nach Macht im Staat zu streben. Es reicht auch nicht aus, durch außerparlamentarische Gegenmacht möglichst viel Druck auf den Staat auszuüben, damit er Reformen beschließt. Stattdessen rückt die umfassende Verfügung über materielle, symbolische und soziale Mittel in den Fokus der Machtfragen. Das bezieht sich auch auf unseren Alltag – schließlich geht es darum, uns unsere eigene kreative Macht anzueignen und unsere Lebenszeit aus den Fesseln der Lohnarbeit zurückzuerobern. Dafür wird es relevant, wie wir uns organisieren, ob wir ‹nur› Politik machen oder ob wir uns in unseren Bewegungen und Kämpfen auch als füreinander sorgende und materiell absichernde Reproduktionsgemeinschaften verstehen, in denen wir freie und solidarische Verhältnisse vorwegnehmen – und uns in Kämpfen die Dinge aneignen, die wir dafür brauchen.