In Argentinien haben viele soziale Bewegungen die neu gewählte peronistische Regierung von Alberto Fernández unterstützt und einige Positionen innerhalb der Verwaltung erhalten. Zum Beispiel haben jetzt Vertreter*innen der Bewegung der Arbeitslosen (jetzt UTEP genannt, Union der Arbeiter der Volkswirtschaft) Sekretär*innen innerhalb des Ministeriums für soziale Entwicklung, das einen Großteil der direkten Sozialhilfe verwaltet. Ein weiteres Beispiel ist die Ernennung eines Mitglieds der UTT (Gewerkschaft der Landarbeiter) zum Direktor des wichtigsten staatlichen Großmarktes für Obst, Gemüse und Fleisch für das Großgebiet der Stadt Buenos Aires.
Die neue Regierungskoalition hat jedoch auch konservative Fraktionen in ihren Reihen, die ebenfalls bedeutende Rollen einnehmen. Zum Beispiel kommt das Sicherheitsministerium der Provinz Buenos Aires, die 40 Prozent der Bevölkerung und der Wirtschaftsleistung Argentiniens ausmacht, von der peronistischen extremen Rechten. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass sich die peronistische Bewegung in den 1940er Jahren mit einer populistischen,aber nicht radikalen oder antikapitalistischen Prägung gegründet hat. Während sie meist auf eine nationalistische Entwicklungsstrategie drängte, führte in den 1990er Jahren auch eine peronistische Regierung mit Carlos Menem als Präsident einen umfassenden Prozess neoliberaler Reformen an.
Die neue peronistische Regierung hat innerhalb der sozialen Bewegungen Argentiniens eine Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen der Integration in eine solche Regierungskoalition ausgelöst. Hilft sie radikalen Reformen oder werden durch sie einer von Natur aus konservativen politischen Strategie nur progressive Elemente beigemengt?
Während der COVID-Krise unternahm die im Oktober 2019 gewählte Regierung einige Schritte, um den existenziellen Auswirkungen der Pandemie entgegenzuwirken, zum Beispiel mit Hilfe der Entwicklung eines Notfall-Einkommenstransferprogramms. Doch obwohl dieses Programm fast ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung erreichte, wurde es Ende 2020 eingestellt. Dadurch erreichten die Armutsraten mehr als 40 Prozent der Bevölkerung und 60 Prozent der Kinder und der Hunger nahm aufgrund der gesunkenen Einkommen und der steigenden Inflation zu.
«Alle 30 Stunden wird eine Frau von einem Mann getötet; auch Transvestizide sind an der Tagesordnung. Währenddessen erschießt die Polizei immer noch grundlos junge, arme Menschen.»
Gleichzeitig verhandelte sie mit Unterstützung des IWF wie bereits nach der Krise 2001 die Auslandsschulden – jedoch fast ohne Kosten für Spekulanten (wie dem Vermögensverwalter BlackRock). Die Regierung erreichte eine Senkung der Zinssätze und einen Aufschub der Zahlungen um den Preis, dass die Nachhaltigkeit der Auslandsschulden durch eine vertiefte extraktivistische Politik garantiert wurde. Die nationale Regierung fördert im Zusammenspiel mit Provinz- und anderen lokalen Regierungen immer noch die Abholzung von Wäldern, die Privatisierung von öffentlichem Land und die Verschmutzung und Zerstörung der Natur, um die Primärexporte von Soja, Öl und Gas (über Fracking), Gold und zunehmend auch Lithium zu sichern. Die Regierung versucht so die Aneignung von Devisen durch Primärexporte zu sichern, um ihre Schulden zurückzuzahlen. Wir sollten uns daran erinnern, dass viele soziale Organisationen die Legitimität und sogar die Legalität eines Großteils der öffentlichen Schulden anzweifeln, die ihren Ursprung in der Militärdiktatur der 1970er Jahre haben und nie zur Förderung der sozialen Inklusion und eines guten Lebens für die breite Bevölkerung verwendet wurden.
Währendessen hat die Regierung die Vervielfachung der Femizide nicht stoppen können, obwohl sie zum ersten Mal in der Geschichte ein Ministerium für Frauen, Geschlechter und Diversität geschaffen und Abtreibungen Ende 2020 legalisiert hat. Alle 30 Stunden wird eine Frau von einem Mann getötet; auch Transvestizide sind an der Tagesordnung. Schließlich erschießt die Polizei immer noch grundlos junge, arme Menschen. Im Jahr 2020 gab es fast jeden Tag ein solches Attentat. Der Mangel an Finanzmitteln für tatsächliche Gender-Politik ist ein Hauptkritikpunkt, während die Repressionskräfte (Polizei und andere) sehr beachtliche Lohnerhöhungen und mehr Ausrüstung erhalten haben.
Während der Präsident Alberto Fernández seine Regierung als eine präsentiert, die die Menschenrechte respektiert und Evo Morales während des jüngsten Putsches in Bolivien geholfen hat, dem sicheren Tod zu entkommen, verfolgen Polizei und Militär in Argentinien weiterhin indigene Gemeinden. Berühmt-berüchtigt sind die Angriffe lokaler Polizeikräfte auf Mapuche, die (in Koalition mit Umwelt- und anderen Organisationen) gegen Bergbau und Fracking in den südlichen Provinzen des Landes kämpfen. Die Widersprüche der Regierung von Alberto Fernández sind folglich vielfältig: Während er für das Recht auf ein Zuhause für alle Menschen appelliert, werden Familien, die ihre prekären Häuser in den Gebieten am Rande der Großstädte bauen, immer noch zugunsten neuer Stadtentwicklungsprojekte für einkommensstarke Familien unterdrückt und vertrieben.
Was tun mit dem ‹progressiven› Reformismus?
Die oben genannten Widersprüche konfrontieren soziale Bewegungen (innerhalb und außerhalb wie auch in grundlegender Opposition zur Regierung) mit der alten Frage von Reform oder/und Revolution. Oder auch mit der Frage, ob einige Reformen helfen können, radikalere Veränderungen voranzutreiben.
Was sind die Aufgaben der radikalen Linken im Kontext sozialdemokratischer, sogenannter progressiver, tatsächlich aber konservativer Regierungen? Wie sollte die außerparlamentarische Linke zu ‹ihren Genoss*innen› stehen, die Teil der Regierungskoalition sind? Wie kann die radikale Linke innerhalb der sozialen Bewegungen die Radikalisierung von Reformen vorantreiben und gleichzeitig rechte Bewegungen innerhalb und außerhalb der sozialdemokratischen Regierung in Schach halten und bekämpfen?
«Um sich mit dem Staat auseinandersetzen zu können, ohne an Radikalität zu verlieren, müssen die Organisationen ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation jenseits von Staat und Kapital behalten.»
In erster Linie müssen radikale soziale Bewegungen weiterhin auf eine Radikalisierung jeder progressiven Reform drängen. Innerhalb des Kapitalismus – und damit innerhalb eines kapitalistischen Staates – wird jede öffentliche Reaktion auf radikale Forderungen versuchen, sie zu entschärfen. Der Staat ist eine Form der kapitalistischen Verhältnisse, nicht etwas, das von ihnen getrennt ist. Wenn kollektive Forderungen bearbeitet werden, geschieht dies daher in der Regel auf eine Weise, die versucht, weitere kollektive Aktionen zu verhindern. Dies kann sogar durch offene Unterdrückung dessen geschehen, was die Regierung als exzessive Ansprüche bezeichnete. So zum Beispiel Mitte 2020 die Unterdrückung der Besetzung von ungenutztem Land durch obdachlose Familien in der Gemeinde Guernica, am Rande der Hauptstadt Argentiniens. Mit der Solidarität und organisatorischen Unterstützung sozialer Bewegungen widersetzten sich mehr als 3000 Familien mehrere Monate lang der Räumung. Hauptsächlich von Frauen geführt garantierten sie mitten in der Pandemie soziale Reproduktionsaufgaben. Sie organisierten die Aufteilung des Landes, stellten Volksküchen und Sanitätsposten auf und kümmerten sich um Kinder. Das Justizsystem sowie die Polizei unter der Leitung von Sergio Berni, dem Sicherheitsminister der Provinz Buenos Aires, ordneten die gewaltsame Vertreibung der Familien an, ohne ihnen eine Alternative für eine Unterkunft zu bieten. Für die progressive Regierung der Provinz (ebenfalls Teil der Koalition von Alberto Fernández) stand das heilige Privateigentum an erster Stelle, obwohl nicht klar war, dass irgendeine Privatperson oder ein Unternehmen die Ländereien besaß.
«Wie Rosa Luxemburg betonte, sind Straßenkämpfe eine politische Schule für die arbeitenden Menschen. Ohne direkte Aktionen auf der Straße werden politische Praktiken auf lokale Initiativen reduziert, mit wenig transformativem Potenzial.»
Um sich mit dem Staat auseinandersetzen zu können, ohne an Radikalität zu verlieren, müssen die Organisationen ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation jenseits von Staat und Kapital behalten. Einerseits müssen die sozialen Organisationen an der Demokratisierung der Entscheidungsfindung arbeiten. Wie die Piquetero-Bewegung (Bewegung der Arbeitslosen) uns gelehrt hat, muss die Basisversammlung ein Schlüssel in kollektiven Debatten sein. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass die Volksbewegungen hart an der politischen Bildung arbeiten müssen. Um Debatten wirklich demokratisieren zu können, müssen sich Menschen sicher fühlen können, die Hand zu heben und zu reden sowie Methoden haben, um dem alltäglichen Diskurs der Massenmedien etwas entgegenzusetzen. Ohne nachhaltige Arbeit in dieser Hinsicht geht die Radikalität schnell verloren und wird durch korporative, von unmittelbaren Bedürfnissen geleitete Forderungen ersetzt.
Außerdem ist der Aufbau von Autonomie eine alltägliche Angelegenheit, die über politische Bildung hinausgeht. Politische Autonomie erfordert organisatorische Unabhängigkeit. Diese läuft auf ökonomische Unabhängigkeit hinaus. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden die meisten sozialen Bewegungen in Argentinien durch eine neue Generation von Sozialpolitik im Staat absorbiert. Massive Programme von bedingten Geldtransfers (wie das Programm Argentina Trabaja) haben vielen sozialen Organisationen die Möglichkeit genommen, ohne staatliche Unterstützung zu existieren. Diese Programme verlangen von den Organisationen eine bürokratische und zentralisierte Verwaltung der Ressourcen aufzubauen, die dazu tendiert, die Macht innerhalb der Organisationen zu zentralisieren. Wie oben angeführt, haben viele Bewegungen sogar Zugang zu staatlichen Positionen erlangt und sind in der Lage, öffentliche Gelder direkt zu verwalten. Dies hat ihnen zwar geholfen, ihre Organisationsstruktur zu vergrößern, aber um den Preis ihrer politischen Unabhängigkeit. Die meisten dieser Bewegungen haben dies in der Überzeugung getan, dass die Regierung von Alberto Fernández so weit links steht, wie die Gesellschaft bereit ist zu gehen. Einige betonen dabei die Notwendigkeit zu dieser progressiven Koalition beizutragen, um eine Rückkehr der neoliberalen Rechten zu vermeiden. In beiden Fällen werden die wirtschaftlichen Kosten der Konfrontation mit der Regierung nur durch den Verlust der politischen Autonomie aufgewogen. Ebenso haben diese Bewegungen einen massiven Verlust an Klassenunabhängigkeit zu beklagen. Wie Antonio Gramsci einmal sagte, führt die Wahl der zweitbesten politischen Alternative (unter Vermeidung der schlechteren, zum Beispiel der Rechten) immer zu einer Verschlechterung des politischen Klimas, wobei die Gesellschaft langsam in eine zunehmend konservative Position abdriftet.
Schließlich scheint es klar zu sein, dass radikale soziale Bewegungen die politische Auseinandersetzung im öffentlichen Raum nicht aufgeben können. Massenmobilisierungen, Streiks und Blockaden sind neben anderen Formen der Intervention Teil der effektivsten politischen Praktiken. Wie Rosa Luxemburg betonte, sind Straßenkämpfe eine politische Schule für die arbeitenden Menschen. Ohne direkte Aktionen auf der Straße werden politische Praktiken auf lokale Initiativen mit wenig transformativem Potenzial reduziert. Das bedeutet nicht, dass wir unsere lokale Organisierung aufgeben sollten, im Gegenteil. Lokale, situierte Interventionen sind Teil einer präfigurativen Praxis, die es uns erlaubt, die Zukunft im Jetzt zu erschaffen. Wir müssen versuchen, in jeder noch so kleinen Aktion einen sozialen Wandel zu schaffen. Wir müssen antikapitalistische Commons, feministische und antirassistische Organisationsformen im Hier und Jetzt aufbauen, wenn wir die Gesellschaft von Grund auf verändern wollen.
Mit diesen Lehren im Hinterkopf können wir eine transformative Politik für sozialen Wandel in Angriff nehmen. Die sozialen Bewegungen in Argentinien stehen an einem Scheideweg. Nur unsere eigenen kollektiven Kämpfe werden uns helfen, dies zu klären. Mit einer variablen Kombination aus Organisation, Militanz und Witz könnten wir wieder eine soziale Koalition aufbauen, die in der Lage ist, die Aufgabe der sozialen Revolution zu übernehmen.