«Was wir tun, ist so wichtig wie die Französische Revolution.» Diese Worte, ausgesprochen im März 2015 auf einem Dorfplatz in Nordkurdistan, wirken bis heute in mir nach. Mit ihnen beendete die Ko-Vorsitzende des Dorfrates ihren Bericht über die jahrelangen Bemühungen für den Aufbau eines Frauenzentrums im Dorf. Ich habe sie im Rahmen einer Delegationsreise in den türkischen Teil Kurdistans getroffen. Sie könnte recht haben: Die Politik der kurdischen Befreiungsbewegung ist tatsächlich wichtig, stellt sie doch einen der wenigen revolutionären Prozesse unserer Zeit dar. Dass dieser immer noch lebendig und erfolgreich ist, liegt meines Erachtens auch am Machtverständnis der Bewegung. Daraus gilt es zu lernen, damit der revolutionäre Prozess in Kurdistan irgendwann von anderen Revolutionen hier und überall ergänzt wird.

Nach der Darstellung des Paradigmenwechsels der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) weg vom Ziel eines sozialistischen Staates hin zu einem Demokratischen Konföderalismus diskutiere ich die zwei Phasen der Umsetzung des letzteren seit Mitte der 2000er: die munizipalistische Phase in Nordkurdistan (2005 bis 2015) und die militärische Phase in Rojava (seit 2012). Abschließen möchte ich mit einigen Fragen, die die Erfahrungen in Kurdistan für die radikale Linke in Deutschland aufwerfen. Diese Fragen scheinen mir spannend, obwohl oder gerade weil der Kontext sehr unterschiedlich ist.

Macht aus den Gewehrläufen

Seit der Gründung der PKK 1978 hat sich das Machtverständnis der kurdischen Bewegung drastisch geändert. Bis zu Beginn der 2000er Jahre dominierte in der Bewegung ein leninistisches Machtverständnis. Die bewaffnete Eroberung der Staatsmacht stand im Zentrum der Befreiung. Kritisiert wurde vor allem der koloniale Charakter des türkischen Staates gegenüber den Kurd*innen, nicht Staatlichkeit an sich. Im Sinne von Mao («die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen») lag der Fokus also auf dem bewaffneten Machtkampf mit dem türkischen Militär – wenngleich nicht unterschätzt werden darf, dass es bereits seit den 1980er Jahren viel Organisierungsarbeit mit der kurdischen Bevölkerung gab.

Gegenmacht wurde verstanden als die Errichtung militärisch befreiter Gebiete. Entscheidende Akteurin war die PKK, eine zentralistisch von Abdullah Öcalan geführte Kaderpartei. Sie führt die Revolution durch und baut den sozialistischen kurdischen Staat auf. Zugespitzt zusammengefasst: Politik ist Krieg, die revolutionäre Partei ist eine Armee. Diese Politik war anfangs erfolgreich, doch das türkische Militär stellte sich auf die Guerillataktik ein, sodass es in den 1990er Jahren zu einem militärischen Gleichgewicht der Kräfte kam.

Ein neues Machtverständnis

Zwei weitere Prozesse innerhalb der Bewegung veränderten das Machtverständnis – diese Entwicklung kulminierte Anfang der 2000er nach der Gefangennahme Öcalans im sogenannten Paradigmenwechsel. Zum einen erneuerte Öcalan sein Denken grundlegend. Angesichts des steckengebliebenen Guerillakriegs und des Zerfalls der Sowjetunion entfernte er sich von der Idee des nationalen Befreiungskrieges. Stattdessen entwickelte er eine feministische Staatskritik. Diese begreift den Staat als repressive Institutionalisierung von Männlichkeit. Patriarchat und Staat sind laut Öcalan keine Formen moderner Herrschaft, sondern Teil einer Zivilisationsgeschichte, die ungefähr 6000 Jahre zurückreicht. Ebenso lang zurück reicht auch die Widerstandsgeschichte der Kämpfe gegen diese Herrschaft, die ‹demokratische Zivilisation›.

Munizipalismus ist eine politische Bewegung, die auf der lokalen Ebene ansetzt. Durch die Übernahme kommunaler Regierungen, den Aufbau lokaler Organisierungen und die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen sollen Kräfteverhältnisse verschoben werden. Diese Idee geht unter anderem auf den anarchistischen Denker Murray Bookchin zurück, der für Abdullah Öcalans neues Denken wichtig ist.

Zum anderen begannen immer mehr Frauen, sich in der Bewegung zu engagieren und kritisierten die internen patriarchalen Machtstrukturen. So entwickelte sich eine autonome Frauenorganisation, die sich gegen den Widerstand vieler männlicher Kader durchsetzen konnte und seitdem nicht mehr wegzudenken ist. Dies war das erste Moment der inneren Dezentralisierung und Demokratisierung der Macht innerhalb des hierarchischen Kaderapparats der Bewegung. Zudem veränderte sich die Rolle Öcalans durch seine Gefangenschaft. Er wurde Vordenker und integrierende Symbolfigur statt Anführer.

Das neue Denken Öcalans und die Selbstorganisierung der Frauen beeinflussten sich gegenseitig. Schlussendlich führten sie zu einer Umorientierung auf ein Projekt radikaler Demokratie, den Demokratischen Konföderalismus.

Demokratischer Konföderalismus

Das neue Denken Öcalans und die Selbstorganisierung der Frauen beeinflussten sich gegenseitig. Schlussendlich führten sie zu einer Umorientierung auf ein Projekt radikaler Demokratie, den Demokratischen Konföderalismus. Er ist seit Mitte der 2000er Jahre das revolutionäre Projekt der Bewegung, mit dem sie versucht, Gegenmacht aufzubauen:

Die Macht aus den Gewehrläufen wird durch ein vielfältigeres Verständnis von Gegenmacht ergänzt. Aufgrund der Kritik des Staates ist ein eigener Staat kein Ziel mehr für die kurdische Bewegung. An die Stelle dessen treten vielfältige Demokratisierungsprozesse. Sie stellen zugleich Mittel und Zweck der gesellschaftlichen Transformation dar. Öcalan schlägt hier die Selbstorganisierung marginalisierter Gruppen, den Aufbau von Dorf- und Stadtteilräten und Kooperativen, aber auch die Beteiligung an parlamentarischen Prozessen vor. Auf strategischer Ebene ist das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft also nicht antagonistisch – auch wenn das Ziel ist, den Staat abzuschaffen. Demokratische Politik im Sinne Öcalans bezieht sich zwar auf den Staat, bleibt aber auf Distanz und geht räumlich über Staatsgrenzen hinweg.

Dieses revolutionäre Projekt hat weiterhin einen leninistischenAspekt: Es gibt mit der PKK eine Kaderpartei mit bewaffnetem Arm. Sie bietet zwar nicht mehr zentralistische Führung, aber doch strategische und ideologische Orientierung. Und verteidigt die radikaldemokratischen Strukturen im Zweifelsfall mit der Guerilla. Gerade in dieser Verbindung aus radikaler Demokratie und Leninismus besteht eine Stärke des Demokratischen Konföderalismus.

Dieses Projekt blieb kein Gedankenspiel Öcalans. Meines Erachtens können in der Umsetzung zwei Phasen unterschieden werden: Ein eher munizipalistisch und zivilgesellschaftlich orientierter Versuch in Nordkurdistan von 2005–2015. Und die Revolution in Rojava seit 2012, die eher auf der militärischen Stärke der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ beruht.

Munizipalistische Phase in Nordkurdistan

Sichtbar wurde der munizipalistische Versuch, den Demokratischen Konföderalismus umzusetzen, 2005 mit der Gründung des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK). Der DTK ist eine Dachorganisation von legalen kurdischen Parteien, Basisorganisationen und zivilgesellschaftlichen Vereinen. 2009 konnte bei den Kommunalwahlen die Mehrheit in über 100 Städten in Nordkurdistan/Türkei gewonnen werden. Nun begann ein Prozess, bei dem die Kontrolle über lokale Staatsapparate dazu genutzt wurde, Basisinitiativen politische Räume zu eröffnen. Koordiniert wurde das durch den DTK. Während der erwähnten Delegationsreise besuchten wir etwa eine selbstverwaltete Schule, eine Bäckereikooperative und ein Frauenzentrum, deren Fixkosten von der Kommunalverwaltung bezahlt wurden. Diese Initiativen lösten auf der einen Seite die konkreten Probleme der Bevölkerung, dienten aber auch als Keimform einer nichtstaatlichen Selbstverwaltung.

Der türkische Staat reagierte von Beginn an repressiv auf diesen Munizipalismus. Als 2015 mit dem Einzug der kurdisch dominierten Demokratischen Partei der Völker (HDP) ins türkische Parlament eine Ausweitung der Demokratisierungsprozesse auf die ganze Türkei möglich schien, eskalierte Erdogans AKP den Konflikt und bombardierte im Städtekrieg die Hochburgen der Bewegung. Die Kommunalverwaltungen der Bewegung wurden abgesetzt. Bis zum heutigen Tag gibt es immer wieder riesige Verhaftungswellen. Der munizipalistische Versuch hat aufgrund der Eskalation des türkischen Staates eine Niederlage erlitten.

Eine Rätestruktur entstand, die tausendelokale Kommunen mit zivilgesellschaftlichenVereinen und politischen Parteien verband,Bildungszentren und Kooperativen gründeteund die Emanzipation von Frauen ermöglichte. Diese Transformation war aber immer vomKrieg überschattet– erst gegen den IS, dann gegen dentürkischen Staat.

Militärische Phase in Rojava

Die zweite Phase des Demokratischen Konföderalismus begann im Syrienkrieg. 2012 konnten die bewaffneten Untergrundstrukturen der kurdischen Bewegung das Machtvakuum in Rojava nutzen, um die politische Kontrolle zu erlangen. Gestützt auf die militärische Macht der YPG und YPJ bauten Aktivist*innen im Hinterland der Front demokratische Strukturen auf. Anders als in der munizipalistischen Phase standen also nicht die Basisinitiativen am Anfang des Prozesses, sondern der militärische Kampf.

Trotzdem ist die gesellschaftliche Veränderung beeindruckend: Eine Rätestruktur entstand, die tausende lokale Kommunen mit zivilgesellschaftlichen Vereinen und politischen Parteien verband, Bildungszentren und Kooperativen gründete und die Emanzipation von Frauen ermöglichte. Diese Transformation war aber immer vom Krieg überschattet – erst gegen den IS, dann gegen den türkischen Staat. Auch in Rojava agiert der türkische Staat militärisch und versucht mittels Invasionen, die Revolution zu zerstören.

Von der kurdischen Bewegung lernen

Auch wenn sich die zwei Phasen in ihrer Strategie und den beteiligten Akteur*innen unterscheiden, ist es wichtig, den inneren Zusammenhang zu sehen. Denn HDP-Parlamentarier*innen, Basisaktivist*innen in Dorfräten oder die YPJ im Krieg gegen den IS bestreiten denselben Kampf auf unterschiedliche Weise, aber vor dem gleichen Hintergrund: dem revolutionären Projekt des Demokratischen Konföderalismus.

Wie kommt diese Kohärenz der kurdischen Bewegung zustande? Diese Frage ist wichtig, weil sie einen wesentlichen Punkt ausmacht, der die radikale Linke in Deutschland und Europa von der kurdischen Bewegung unterscheidet: Unsere Gruppen, Kämpfe und Aktionsformen stehen oft unverbunden nebeneinander – wenn nicht sogar durch harsche Kritik gegeneinander. Uns fehlt der gemeinsame Horizont, der in der kurdischen Bewegung konkret und greifbar existiert.

Es gibt mindestens vier Dinge, die die Kohärenz und Dauerhaftigkeit der kurdischen Bewegung erklären: Das Lernen aus Niederlagen, die Widerstandsgeschichte der ‹demokratischen Zivilisation› als Ressource, die Integration verschiedener politischer Praktiken und eine neue Art revolutionärer Partei. Daraus ergeben sich meines Erachtens interessante Fragen für die radikale Linke in Deutschland.

Niederlagen waren kein Anlass dafür,die kurdische Bewegung für gescheitert zu erklären – anders als in der Geschichte der radikalen Linken in der BRD, die vonSpaltung und Zersplitterung geprägt ist

1. Aus den Niederlagen lernen:

Der Wissenschaftler Joost Jongerden beschreibt, wie es die kurdische Bewegung in ihrer Geschichte geschafft hat, aus Rückschlägen Konsequenzen zu ziehen. Immer wieder veränderte sie ihre Politik entsprechend. Die Verhaftung Öcalans 1999 und der anschließende Paradigmenwechsel sind das letzte Beispiel dafür. Wichtig ist, hier zu betonen, dass die Niederlagen kein Anlass dafür waren, die kurdische Bewegung für gescheitert zu erklären – anders als in der Geschichte der radikalen Linken in der BRD, die von Spaltung und Zersplitterung geprägt ist. Die Transformationen der eigenen Politik finden so trotzdem in einer Kontinuität statt.

Was lernen wir aus der Niederlage des letzten globalen Bewegungszyklus, der 2011 begann? Was lernen wir aus den Anti-G20-Protesten 2017, die nicht zu einer Stärkung der radikalen Linken, sondern zu vielen staatlichen Angriffen geführt haben? Was lernen wir aus unserer Niederlage 2015, als wir den kurzen Sommer der Willkommenskultur nicht verlängern konnten?

2. Widerstandsgeschichte als Ressource:

Die Kontinuität der kurdischen Bewegung reicht nicht nur zurück bis zur Gründung der PKK 1978. Mit Rückgriff auf die ‹demokratische Zivilisation› stellt sich die Bewegung in die Reihe aller Emanzipationsversuche der letzten 6000 Jahre. Dieses Selbstbewusstsein («so wichtig wie die Französische Revolution») mag hochgegriffen erscheinen. Es ist aber eine wichtige Kraft- und Legitimationsressource, auf die Aktivist*innen zurückgreifen können. Und vor allem schafft es die Bewegung, diese sinnstiftende Erzählung alltagsnah und verständlich zu formulieren und an vielen Orten der Bildung zu vermitteln.

In welcher Tradition sehen wir unsere linksradikale Politik? Wie berühren wir die Menschen, mit denen wir Politik machen wollen, mit unserer Geschichte?

3. Verschiedene Politikformen integrieren:

Wie oben beschrieben gibt es verschiedene Arten, sich am revolutionären Projekt der Bewegung zu beteiligen, von der Parlamentarier*in bis zur Guerillakämpfer*in. Trotz Repression lassen sich die verschiedenen Stränge der Bewegung nicht spalten, sondern bleiben solidarisch miteinander verbunden. Diese Verbundenheit entsteht auch durch die Repression, wird aber darüber hinaus durch intensive Bildungs- und Reflektionsprozesse geschaffen.

Wo kommen in der deutschen radikalen Linken die unterschiedlichen Aktivist*innen zusammen? Wie ernsthaft verbünden wir uns mit Linken, die anders Politik machen? Begreifen wir Kritik und Reflektion als Teil unserer revolutionären Strategie?

4. Eine neue Art der Partei:

Wie oben beschrieben ist die PKK seit dem Paradigmenwechsel keine Kaderpartei mehr, die führt und befiehlt. Sie wurde aber auch nicht aufgelöst, sondern bleibt quasi als dezentriertes Zentrum bestehen, als Orientierung. Die Kader der PKK sind keine Berufsrevolutionär*innen (auch wenn sie versprechen, dass sie ihr ganzes Leben der Revolution widmen). Sie sind viel eher Initiativkräfte, die Verantwortung übernehmen und die gesellschaftliche Basis beraten und inspirieren.

Wie sieht unser Bild linksradikaler Aktivist*innen aus? Wie können wir organisierte Knotenpunkte im Netzwerk der Linken schaffen, die Verantwortung für die Weiterentwicklung unserer Politik übernehmen und so Orientierung bieten?

In einer Verbindung von Leninismus und radikaler Demokratie hat die kurdische Befreiungsbewegung einen faszinierenden revolutionären Prozess ermöglicht. Solidarisch mit ihr zu sein, heißt mehr, als die Kriegspolitik der Türkei zu skandalisieren. Es heißt, die Fragen, die die Politik der Bewegung an uns Linksradikale stellt, ernst zu nehmen. Es heißt, die Unterschiede nicht zu vergessen, unsere eigenen Antworten zu suchen und uns auf den Weg zu machen - auf dass wir uns in einer revolutionären Zukunft treffen.