Die Antwort auf diese Frage kann in der Erfahrung von Communities of Color gefunden werden, die seit Generationen alleine für ihre Sicherheit sorgen – ohne Polizei oder staatliche Institutionen. Der Wirbelwind der Black Lives Matter Aufstände des letzten Jahres – wahrscheinlich die größte Bewegung in der US-Geschichte – hat dieses Wissen in die Öffentlichkeit gebracht. Jedes Mal, wenn Abolitionist*innen enthüllen, dass Polizei und Gefängnisse die Probleme allererst schaffen, die sie angeblich bekämpfen, um weniger denn mehr Sicherheit zu etablieren, weisen sie gleichzeitig auf eine Alternative hin: Transformative Gerechtigkeit (TG). Mehr als 20 Jahre Erprobung mit TG durch Queers und Frauen of Color zeigen, dass es viele Lösungen gibt – keine von ihnen ist aber einfach.

Transformative Gerechtigkeit (transformative justice) und Kollektive Verantwortungsübernahme (community accountability) (TG-KV) beschreiben eine von Queers und Frauen of Color angeführte Bewegung für gemeinschaftlich verankerte Alternativen zu Gefängnis und Polizei, wie auch zu den darunterliegenden Logiken des Bestrafens als Antwort auf interpersonellen Schaden. Diese Antworten reichen von der Minimierung staatlicher Gewalt und des Vertrauens auf karzerale Systeme bis zu nicht strafenden Prozessen für gewaltausübende Personen, um Verantwortung zu übernehmen, den Schaden wiedergut zu machen und ihr Verhalten zu ändern. Diese abolitionistischen Antworten stehen außerhalb des Staates und seiner Institutionen, im Kontrast zu restaurativer Gerechtigkeit. Sie versprechen einen Wandel innerhalb von Institutionen wie Schulen und Universitäten, wurden aber oft als zusätzlicher Arm des Strafrechtssystems kooptiert. Besonders in diesem Moment, wo Abschaffung viral geht, muss die Bewegung zwischen neuen Möglichkeiten und zwischen der Gefahr, dass Reformen radikalen Wandel verwässern, navigieren. Vorsicht seitens der TG-Praktizierenden macht also Sinn in Bezug darauf, dass die Bewegung selbst als Antwort auf staatliche Kooptierung von der feministischen Anti-Gewalt Bewegung entstanden ist.

Geschichte der Bewegung

Von der Gründung von TG zu sprechen ist schwierig – Aktivist*innen sehen ihre Arbeit in einer langen Geschichte improvisierter Küchentisch-Antworten auf Gewalt von Frauen und queeren Leuten in Schwarzen, Indigenen und Menschen of Color Gemeinschaften verwurzelt. TG-Organizerin und Autorin Ejeris Dixon beschreibt solche Unterhaltungen mit ihrer Mutter: Gespräche über Strategien, die sie im Jim-Crow-Süden anwendete, in einem Staat, der nicht Quelle von Sicherheit ist, sondern eine Macht genozidaler Besetzung und rassifiziertem Terror.

In den späten 1990ern und beginnenden 2000ern intervenierten Trans, Queer, Nicht-binäre Menschen und Frauen of Color an der Intersektion von antirassistischer und feministischer Organisierung. Antirassistische Organisierung gegen Polizeigewalt und Masseninhaftierung in den 1990ern fokussierte oft auf staatliche Gewalt, ohne genauso viel Augenmerk auf interpersonelle Gewalt zu geben und implizierte damit, dass ein Ende des Polizeiwesens unsere Probleme lösen würde. Rassismus stand im Vordergrund, wobei Geschlecht und Sexualität bisweilen übersehen wurde. Andererseits wurde der feministische Antigewalt-Sektor immer mehr professionalisiert, weißgewaschen und in eine Strafverfolgungsagenda kooptiert, die nun als Strafrechtsfeminismus (carceral feminism) kritisiert wird. Dessen Analyse ist oft auf interpersonelle (in diesem Fall geschlechtsspezifische) Gewalt fokussiert, zu Lasten eines Verständnisses staatlicher Gewalt.

Im Fadenkreuz dieser zwei Gewaltformen erhoben Frauen und queere Menschen of Color ihre Stimme. Als die neu gegründeten US-basierten Netzwerke, die abolitionistische Organisation Critical Resistance und die Feminist*innen of Color Gruppe INCITE! 2001 gemeinsam ein Statement veröffentlichten, brachten sie diese beiden dringend benötigten Perspektiven zusammen und schafften damit eine politische Agenda, die den Weg für einen intersektionalen und radikalen Ansatz zu kollektiver Sicherheit bereitete. Dieser wird nun durch eine neue Generation der Bewegung für Black Lives Organisationen wie Black Youth Project 100 realisiert.

CR und INCITE!’s Vision von «community-basierte Antworten auf Gewalt, die nicht auf einem Rechtssystem basieren und Mechanismen entwickeln, die Sicherheit und Verantwortung für Betroffene von sexualisierter und Beziehungsgewalt sicherstellen» hat eine Welle von Experimenten ins Rollen gebracht. Diese finden sich jetzt unter den Schlagwörtern Transformative Gerechtigkeit und kollektive Verantwortungsübernahme wieder. Diese Experimente kreuzen sich mit jenen anderen Kämpfen, die Schwarze, Indigene, Queers und Frauen of Color führen: mit indigenen Souveränitätskämpfen, Heilungs- und Disability Gerechtigkeitskämpfen und mit visionärem Neudenken von Sex, Familie und Sorge in queeren und trans Gemeinschaften.

Schlüsselelemente transformativer Gerechtigkeitsprozesse

Die wegweisenden Organisationen INCITE! und Communities Against Rape and Abuse (CARA) haben beide im vergangenen Jahr ihre 20. Geburtstage gefeiert. INCITE!’s Modell benennt vier Gebiete, in denen TG-KV-Arbeit stattfindet, um eines Tages Gewalt undenkbar zu machen: Gemeinschaftliche Prävention, Selbstbestimmung von betroffenen Personen, Verantwortlichkeit für gewaltausübende Personen und soziale Transformationen von der Mikro- zur Makroebene. TG-KV-Interventionen bedenken all diese Gebiete, konzentrieren sich aber jeweils auf eines von ihnen. Einige richten den Fokus auf die Unterstützung von betroffenen Personen, wie beispielsweise Sexarbeiter*innen, die ihr eigenes gemeinschaftliches Berichtssystem wie Sammeln von Beweismitteln und ein Überwachungssystem entwickeln, um Übergriffe ihrer Zuhälter oder der Polizei zu verhindern. Ein weiteres Beispiel sind die Indigenen Untersuchungen wie Dokumentationen und Zeremonien als Antwort auf vermisste oder ermordete Indigene Frauen, Mädchen und Two-Spirit Menschen (dies beschreibt ein Indigenes Verständnis von einem dritten Geschlecht). Andere engagieren sich mehr mit jenen, die Schaden verursachen, z.B. Gruppen wie Philly Stands Up, Support New York und das Challenging Male Supremacy Project und vermitteln Rechenschaftlichkeit statt Verweigerung und Scham für Personen, die sexuell Übergriffe ausgeübt haben. 

Wieder andere erproben, wie Gemeinschaften sich für die Sicherheit und Verantwortlichkeit ihrer Mitglieder einsetzen: Gewalt auf Feiern und Demonstrationen deeskalieren, Netzwerke von Alternativen zu Polizei für Krisen und Gewaltsituationen etablieren und Gespräche über Schaden und Heilung durch Geschichtenerzählen zu öffnen. Manche Vermittler*innen haben auch Prozesse unternommen, um die Arbeit in diesen Bereichen zu koordinieren wie beispielsweise betroffene Personen, gewaltausübende Personen und Mitglieder der Gemeinschaften in einen geteilten Prozess zu bringen. Das ist die kleinteilige Arbeit der Veränderung und keine universelle Einheitsgröße.

In meiner Forschung schaue ich mir an, wie TJ-Praktizierende neue Formen von Gerechtigkeit, Verantwortung und Sicherheit erdenken und praktizieren. Es zeigt sich, dass sich die Bewegung wegbewegt von existierenden Gerechtigkeitskonzepten hin zu transformativer Gerechtigkeit in jedem der vier Bereiche des INCITE!-Modells:

Strukturelle Bedingungen: Der Wechsel von einem Verständnis von Gewalt als einem individuellen Fehlverhalten hin zu intersektionalem Schaden auf verschiedenen Ebenen (interpersonell, gemeinschaftlich, institutionell, strukturell)

Sphäre der gewaltausübenden Personen: Der Wechsel von Bestrafung und Beschuldigen hin zu Rechenschaftlichkeit und Transformation

Bereich der betroffenen Personen: Der Wechsel von Sicherheit als paternalistischem Schutz hin zu Sicherheit als Betroffenen Selbstbestimmung und zuletzt die Sphäre der Gemeinschaft: Der Wechsel vom Staat zur Gemeinschaft als relevantes Feld, um Gerechtigkeit herzustellen

Diese Veränderungen sind verbunden mit einer allgemeineren Abkehr von einer karzeralen (carceral) Logik, die danach sucht soziale Probleme zu individualisieren und zu isolieren, hin zu einer Politik sozialer Verbindung als einer möglichen Lösung. Die Krise von sexualisierter Gewalt – und die Grenzüberschreitung und Versehrung des Selbst – wird zu einem Anstoß für das Gegenteil: für die Öffnung hin zur Interdependenz in genau dem Moment, in dem die sozialen Beziehungen verwundet sind, und für die Wahrnehmung der sozialen Verbindung als Ressource in dem Moment, in dem sie am gefährlichsten oder prekärsten erscheint.

«Diese Veränderungen sind verbunden mit einer allgemeineren Abkehr von einer karzeralen (carceral) Logik, die danach sucht soziale Probleme zu individualisieren und zu isolieren, hin zu einer Politik sozialer Verbindung als einer möglichen Lösung.»

Den Moment nutzen

Als TJ-Praktizierende in Deutschland, konnte ich oft beobachten, wie die Euphorie der Leute in Bezug auf TG-KV mit einem Mal abfiel, als sie auf die Realität trafen und merkten, dass es nicht einen einfachen Ersatz für die Polizei gibt, sondern stattdessen ein vollkommenes Neudenken unserer Institutionen erfordert – etwas, was Angela Davis unter Bezugnahme auf W.E.B. DuBois «Abschaffung Demokratie (Abolition Democracy)» nennt.

Okay, wenn nicht eine Notrufnummer, dann vielleicht ein Lieferdienst, eine Taskforce, oder zumindest ein Handbuch? Das Beste, was wir haben, ist das in verschiedenen jüngeren Büchern zusammengetragene Wissen und eine Flut von Webinaren, die durch den Aufstand im Sommer 2020 ausgelöst wurde. Eines der nützlichsten Bücher ist Beyond Survival: Strategies and Stories from the Transformative Justice Movement – eine Sammlung persönlicher Geschichten, Werkzeuge und Interviews, die eine Bestandsaufnahme der Bewegung für transformative Gerechtigkeit 20 Jahre nach ihrem Entstehen darstellt. 

In gewisser Weise ist die Anthologie Beyond Survival eine Fortsetzung von The Revolution Starts at Home, der TJ-«Bibel», die von Piepzna-Samarasinha, Ching-In Chen und Jai Dulani mit herausgegeben wurde. Ein Großteil der frühen Arbeit, die heute unter dem Namen TJ oder CA läuft, entstand als Reaktion auf sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, insbesondere gegen People of Color, die auch im Mittelpunkt von The Revolution Starts at Home stand sowie von frühen innovativen Gruppen wie CARA, INCITE! und generationFIVE. Piepzna-Samarasinha und Dixon haben eine Sammlung zusammengestellt, die dieselben Bereiche wieder aufgreift und dokumentiert, wie sich TJ-CA auf andere Formen der zwischenmenschlichen Gewalt ausgeweitet hat.

«Wenn wir also TG einer kompletten Nachbarschaft oder Stadt zugänglich machen wollen, wie es sich Gruppen wie Harm Free Zones vorstellt, braucht es eine nachhaltige, gemeinschaftsbasierte Infrastruktur.»

Die Zukunft

Ein Teil der Spannung liegt darin begründet, dass transformative Gerechtigkeit als Begriff «ein beliebtes Kind» geworden ist, um die Herausgebenden zu zitieren. Während dieser Moment der größeren Reichweite auch Ängste vor der Kooption durch den Mainstream hervorgerufen hat, reagiert Beyond Survival nicht mit dem Verweis auf Grenzsetzung. Die Herausgebenden sind darauf bedacht, «TJ frei sein zu lassen» und kreatives Experimentieren zu schätzen. Diese Freiheit befördert eine Öffnung hin zu Selbstkritik und Meinungsverschiedenheiten. 

Wenn wir also TG einer kompletten Nachbarschaft oder Stadt zugänglich machen wollen, wie es sich Gruppen wie Harm Free Zones vorstellt, braucht es eine nachhaltige, gemeinschaftsbasierte Infrastruktur. Diese muss sowohl die polizeilich-leichten Funktionen eines Großteils der staatlichen Sozialarbeit wie auch die Domestizierung der Organisierung innerhalb eines gemeinnützig-industriellen Komplexes vermeiden. TG ist zum Teil aus der Asche der kooptierten Antigewaltbewegung erwachsen und hat damit verinnerlicht, wie scheinbarer Erfolg in Wirklichkeit langfristigen Misserfolg bedeuten kann.

So schlägt Mimi Kim, Initiatorin von Creative Interventions, eine Art Wachstum vor, der nicht den «neoliberalen Unternehmenskontext (von) Urheberrechten, Schutzzeichen und Standardisierungen» imitiert. Stattdessen spricht sie von «Regeneration», wenn es um ein dezentralisiertes Wachstum der gemeinschaftlichen Kapazitäten geht, um TG zu praktizieren.

Ein weiteres vielversprechendes Modell ist das von API Chaya, eine Organisation, die sich mit geschlechtsspezifischer Gewalt innerhalb von südasiatischen, asiatischen, pazifischen Insel- und weiteren migrantischen Gemeinschaften in Seattle befasst. Ihre «Community Solutions»-Programme bieten ein 45-stündiges Training für eine bezahlte Kohorte von 15 Gemeinschaftsmitgliedern, die dann gemeinschaftliche TG Prozesse moderieren, die von API Chaya an sie verwiesen werden. Unterstützt werden sie durch monatliche Treffen und Betreuung durch ein erfahrenes (ebenfalls bezahltes) Mentoring. Dahinter steht die Würdigung und Schärfung existierender gemeinschaftlicher Expertise und der rhizomartigen Verbreitung von Fähigkeiten, statt sie in einer professio­nalisierten Bürokratie zu konsolidieren.

Während TJ in den Straßen wiedergeboren wird und die Bewegung schnell wächst, wird zugleich dazu eingeladen, sich auch mit dem Chaos anzufreunden, emotionale Kapazitäten aufzubauen, um die Dissonanz, Unvollständigkeit und Widersprüche auszuhalten, über die TJ-Praktizierende in ihrer Arbeit oft sprechen.

Kontext BRD

In der BRD wuchs die Bedeutung der Strafrechtsfeminismus mit den Folgeerscheinungen der mit dem Schlagwort «Kölner Silvesternacht» in die Annalen eingegangenen Ereignisse 2015/2016. Konsequenzen folgten mit der zeitnahen Erklärung, dass Marokko, Algerien und Tunesien künftig sichere Drittstaaten seien und Menschen leichter dorthin abgeschoben werden können. Der «Schutz» diente also als Vorwand, um Polizei und Justiz weiterhin und verstärkt Gewalt gegen People of Color und migrantische wie migrantisierte Personen ausüben zu lassen.

Zeitgleich habe ich angefangen meine Forschung zur TG-Bewegung in den U.S.A im Projekt «Was macht uns wirklich sicher?» mehr mit dem BRD Kontext zu verknüpfen. In Kollaboration mit Aktivist*innen, Studierenden, und Wissenschaftler*innen haben wir uns in verschiedenen Formaten (u.a. im «Was macht uns wirklich sicher?»-Toolkit) mit den Fragen der Abolition und TG im deutschen (und deutsch kolonialen) Kontext auseinandergesetzt.

Wie können scheinbar ‹gute Ideen›, wie das Unterstützen von betroffenen Personen von Gewalt, so falsch laufen und rassistische Überwachung und Sicherheitsregime festigen? Und was macht uns ‹wirklich sicher›, wenn nicht Polizei, Grenzen, und Gefängnisse? Und wie übersetzen wir Praktiken und Theorien zu Abschaffung von Polizeigewalt und transformative Gerechtigkeit aus dem U.S. Kontext?

In Deutschland sind die politische Verhältnissen und Strukturen anders als beispielsweise in den USA. Während wir im U.S. Kontext über der Prison Industrial Complex (Gefängnis-Industrie) sprechen, werden in Deutschland Strafe und Überwachung gegen Menschen of Color und arme Menschen maßgeblich über andere soziale Strukturen ausgeübt – wie beispielsweise durch das JobCenter oder Heime für Geflüchtete. Nadija Samour, Co-Autorin des Toolkits, spricht von einem «Hartz IV Industrial Complex» in Deutschland, der scheinbar ‹sanftere›, aber schleichende soziale Kontrolle ausübt.

Das Toolkit knüpft daran an und spannt einen umfassenden Bogen von der Verquickung von staatlicher Gewalt mit sexualisierter und Partner*innen-Gewalt in Deutschland, von Strafrechtsfeminismus und queerer Straflust hin zu transformativen Alternativen zu Polizei, Grenzen und Gefängnis in unserem Kontext. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Aktivismus wird durch praktische Übungen unterstützt.

Potential wie auch Fallstricke der TG-Arbeit, besonders in Bezug auf gewaltausübende Personen, gibt es genügend. Da jedes Konzept von Gerechtigkeit gegen betroffene Menschen und ihre Communities genutzt werden kann, ist eine ständige Auseinandersetzung mit der gelebten Praxis und der Queer of Color Tradition, woraus es entstanden ist, notwendig.

Dieser Text ist eine gekürzte Übersetzung des Artikels We keep us safe: the transformative justice movement von Melanie Brazzell, der am 28.05.2021 bei ROAR Magazine erschienen ist (siehe roarmag.org/essays/transformative-justice-movement/).