Vor einigen Jahren fiel mir das Buch Rückkehr nach Reims von Didier Eribon erstmals in die Hände. Auf Social Media hatte ein Account eine Rezension und das Buchcover geteilt. Ich fühlte mich von dem dort berichteten Inhalt angesprochen und kaufte das Buch. Kurz darauf las ich zusätzlich sein Buch Gesellschaft als Urteil. Innerhalb von nur wenigen Tagen verschlang ich sie und blieb verblüfft zurück. Da hatte scheinbar jemand für viele meiner Gefühle Worte gefunden. Wie aber war dies möglich, wo der Autor und ich doch gesellschaftlich sehr unterschiedlich positioniert sind? Die Antwort darauf – und die Tatsache, dass ich stets Parallelen zu den Leben gesellschaftlich unterschiedlich positionierter Arbeiter*innenkinder und Arbeitslosenkinder finden kann – heißt Klassenverhältnisse.

Ich gab meinem Bruder das Buch zu lesen, um in ihm einen vertrauten Gesprächspartner zu finden. Wir reisten bald darauf zu einem Kongress nach Berlin, wo auch Eribon sprechen sollte. Ich quetschte mich in die überfüllten Sitzreihen des Vorlesungssaals, um ihn über die Gelbwesten in Frankreich berichten zu hören. Erst Monate später stellte ich fest, dass ich von der Podiumsdiskussion enttäuscht war, von Eribon enttäuscht war. Dieser Artikel ist der Versuch, meiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen.

Unapologetisch: Während der Duden nur «apologetisch» kennt und damit griechisch apologētikós/ apologeĩsthai = sich verteidigen oder rechtfertigen meint, soll das Wort «unapologetisch» ausdrücken, dass man sich für bestimmte Dinge eben nicht entschuldigen, rechtfertigen und schämen oder diese infrage stellen muss. Dies wird im Verlauf des Artikels verdeutlicht. Das Wort ist im englischsprachigen Raum bereits Teil politischer Selbstermächtigung, z.B. «unapologetically black» oder «unapologetically queer».

Didier Eribon

ist französischer Journalist, Soziologe und Philosoph. Sein Buch Rückkehr nach Reims feierte 2016 große Erfolge im deutschsprachigen Raum und hat sich zum Klassiker der Aufsteiger*innen-Narrative gemausert. Eribon erzählt in seinem Buch über seine ‹Flucht› aus seiner Klasse und zeigt auf, wie seine Herkunft seine Identität prägte. In seinem Denken orientiert er sich stark an Pierre Bourdieu. Angelegt an dessen soziologischen Selbstversuch entwickelt er in Rückkehr nach Reims eine «Autosozioanalyse», die strukturelle Diskriminierung anhand persönlicher Lebenserfahrungen schildert. Letztendlich ist diese Analyse jedoch an ein bürgerliches bzw. akademisches Publikum gerichtet.


Noch am selben Abend des Vortrags beschlossen mein Bruder und ich, meiner Mutter weder Rückkehr nach Reims noch Gesellschaft als Urteil als Lektüre zu empfehlen. Aber warum? Erst einige Zeit später stellte ich mir diese Frage bewusst und mir fiel auf, dass es an der in unseren Augen problematischen Darstellung von Eribons Mutter lag. Wir fühlten uns, als würden wir unsere Mutter bloßstellen und gegebenenfalls verletzen. Dabei dachten wir insbesondere an eine von Eribon beschriebene Szene, in der er auf ein kleines Regal in der Wohnung seiner Mutter schaute, auf welchem sie all die von ihm geschriebenen Bücher nebeneinander aufgestellt präsentierte. Die Szene beschreibend, denkt er darüber nach, dass er nie für ihre Augen geschrieben habe und sie seine Bücher niemals lesen und schon gar nicht verstehen würde. Er lässt sie diese Sichtweise deutlich spüren. Mein Bruder und ich wollten nicht, dass unsere Mutter bei der Lektüre das Gefühl beschleichen könnte, dass wir so über sie denken und erzählen würden, obwohl sich ihr Leben von dem der Mutter Eribons sehr unterschied. Dennoch war uns die Macht, die Narrative auf Subjekte haben können, aus eigener Erfahrung sehr bewusst.

Zusätzlich lässt die Szene vermuten, dass Eribon nie wirklich an einem Dialog mit seiner Mutter gelegen war – zumindest als sie noch lebte –, während er gleichzeitig den zu Lebzeiten fehlenden Dialog mit seinem Vater nach dessen Tod betrauerte. Wäre ihm konsequent daran gelegen, dann hätte er doch genau jenen Moment vor dem Bücherregal genutzt, um mit seiner Mutter zu sprechen. Stattdessen wählte er diesen Moment, um über sie zu schreiben. Er berichtet ausdrücklich in Rückkehr nach Reims über diesen Wunsch: «Aber ich würde ihn [seinen Vater] gerne so vieles fragen, und sei es nur, um dieses Buch zu schreiben.» Eribon nimmt sogar wieder Kontakt zu seinen Geschwistern auf, nur um ihre Gefühle und Geschichten für sein Buch verwerten zu können. Derweil scheint es für ihn völlig klar, dass nur er aus der Position eines Fremdgewordenen ihre Lebensbedingungen beschreiben könne, seine sogenannte «Klassenflucht» somit Voraussetzung für seine Erkenntnisse sei. Jene Einstellung gegenüber des Arbeiter*innenmilieus sowie die Einschreibung seiner Mutter in das Narrativ eines nicht urteilsfähigen Subjekts, sind Ausdruck eines bevormundenden Verständnisses von beherrschten Gesellschaftsgruppen und tragen zu ihrer Ohnmacht bei. Tausende Aufstände, Revolutionen, Streiks, Sabotagen – oftmals von Frauen angeführt – in der globalen Geschichte haben jedoch gezeigt, dass nicht erst die studierte Minderheit das Schicksal der Arbeiter*innen in die Hand nehmen kann. Es gibt im Gegenteil mehrere gescheiterte Versuche der Rekrutierung des Proletariats durch bürgerliche Intellektuelle.

«Tausende Aufstände, Revolutionen, Streiks, Sabotagen – oftmals von Frauen angeführt – in der globalen Geschichte haben jedoch gezeigt, dass nicht erst die studierte Minderheit das Schicksal der Arbeiter*innen in die Hand nehmen kann«.

Weiterhin beschreibt Eribon seine Mutter als gewalttätig, gar gewalttätiger als den Vater. Er lehnt im Zuge dessen explizit eine feministische Perspektive auf ihre Gewalt ab, weil er diese als «epistemisches Hindernis» auffasst. Ich frage mich indessen verblüfft, wie es möglich ist, mehrfach von patriarchaler Gewalt seitens des Vaters gegen seine Mutter und Kinder zu berichten, dabei zu schildern, dass sie sich aufgrund ökonomischer Zwänge, die eindeutig mit einem historisch gewachsenen Sexismus im Kapitalismus zusammenhängen, nicht hat scheiden lassen können, nur um dann die Gewalt der Mutter gegen den Vater zu skandalisieren. Hierbei ist wichtig zu betonen, dass ich die Gewalt, die von Müttern ausgehen kann, nicht per se entschuldigen möchte, vor allem nicht die von Didier Eribon und Édouard Louis geschilderte homophobe Gewalt. Allerdings müssen unterschiedliche Machtverhältnisse in die Betrachtung miteinbezogen und entsprechend differenziert werden. Wenngleich Eribon mehrfach die Unterschiede der Rechte und Möglichkeiten in Bezug auf das Geschlecht thematisiert, versperrt er sich im entscheidenden Moment ausdrücklich einer feministischen Analyse. Dadurch erzählt er seine Mutter nicht nur zu einem unreflektierten Opfer ihrer Verhältnisse, die durch (s)eine bildungsbürgerliche Schilderung begreiflich wird, sondern impliziert, dass sie diese Verhältnisse hätte überschreiten können und der Weitergabe der Gewalt hätte abschwören müssen. Gleichzeitig erklärt er seinen Vater zur Verkörperung des Proletariats und dass er sich nach Versöhnung sehnt: «Mit klammem Herzen dachte ich an ihn zurück und bedauerte, ihn nicht wiedergesehen zu haben. Nicht versucht zu haben, ihn zu verstehen. Oder mit ihm zu reden, früher. Dass ich, in der Tat, zugelassen hatte, dass mich die Gewalt der sozialen Welt überwältigte, wie sie auch ihn überwältigt hatte.»

Durch diese Worte am Ende des Buches wird die Versöhnung mit dem Vater mit einer sozialpolitischen Moral aufgeladen – es wird ein Anspruch formuliert. Ein Anspruch, dem einige nur mit dem Verursachen von Schmerz und Selbstaufgabe gerecht werden können und der eine Form von Stärke bedeuten kann, welche schädlich sein kann. Außerdem stilisiert diese Haltung gegenüber dem proletarischen Vater diesen zu einem Subjekt, das unfähig ist seine eigenen Handlungen zu reflektieren und selbst versöhnlich zu werden und somit einen Teil der Last auf sich zu nehmen und Verantwortung zu übernehmen.

Es ist auffällig, dass der Diskurs der Arbeiter*innenkind-Narrative von Söhnen, die sich nach einer Versöhnung mit den bereits verstorbenen Vätern sehnen, dominiert wird. Während Eribon seine Versöhnung ins Jenseits projiziert, folgt Édouard Louis in seiner Schrift Wer hat meinen Vater umgebracht schließlich dem Rat seines Vorbildes Eribon und tritt in den Dialog mit seinem Vater, und zwar bevor dieser gestorben ist. Er ist in diesem Sinne ‹stärker› als die von Eribon beschriebene Gewalt der sozialen Welt. Doch solch eine sozialpolitische Moral der Stärke unterwirft viele Überlebende patriarchaler Gewalt zusätzlichem Druck, denn in dieser ‹Stärke› bleibt kein Platz für Kontaktabbruch als Handlungsmacht. Vielmehr klammert sie den Entzug des Kontakts als Handlungsmacht gegenüber psychischer und physischer Gewalt aus. Kann nur die- oder derjenige die «Gewalt der sozialen Welt» überschreiten und diese somit ein bisschen besser machen, wenn er*sie den Kontakt mit derjenigen Person aufrechterhält, die jene Gewalt verkörpert? Ich denke nicht, denn es gehört eine Menge Mut und Stärke dazu, in einer misogynen Welt den Kontakt mit dem Patriarchen abzubrechen – und in vielen Fällen gleichzeitig den Kontakt mit der Mutter oder Geschwistern des eigenen Haushaltes aufrechtzuerhalten. Entsprechend brauchen wir mehr Narrative eines mutigen und unapologetischen Kontaktabbruchs, welcher auch in der Lage ist «die Gewalt der sozialen Welt» zu minimieren.

«Entsprechend brauchen wir mehr Narrative eines mutigen und unapologetischen Kontaktabbruchs, welcher auch in der Lage ist ‹die Gewalt der sozialen Welt› zu minimieren».

Warum aber sehnt sich nicht nur Eribon so sehr nach einer Versöhnung mit dem toten gewalttätigen Vater? Er selbst antwortet in Rückkehr nach Reims darauf, indem er den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan zitiert: «Lacan spricht in einem seiner Seminare sehr eindringlich von der Angst, die der Tod des Vaters auslöst, beim männlichen Nachkommen jedenfalls» – beim männlichen Nachkommen jedenfalls?!

Eribon beschreibt, dass der Sohn ab dem Tod des Vaters allein an vorderster Front stünde und dem Tod ins Auge blicke. Abgesehen davon, dass er den Sohn in der hierarchisierten Rolle des Familienoberhauptes verortet, wird der Eindruck vermittelt als hätten nicht bereits viele Frauen in der Geschichte, die Opfer patriarchaler Gewalt geworden sind, der Angst und dem Tod viele tausend Male direkt ins Gesicht geblickt. Oftmals trug dieses Gesicht die Züge des Vaters, des Ehemannes, des Bruders, des Onkels. Sehnt Eribon sich hier nicht letztendlich in die Rolle seines Vaters und somit in das Narrativ eines männlichen Familienoberhaupts, anstatt jene Rolle infrage zu stellen?

Der Tod des Vaters kann in vielen Fällen gar eine Erleichterung darstellen. Ich will deshalb Abstand nehmen von einer Moral, die Folgendes predigt: ‹Versöhne dich mit dem Schatten deiner selbst auf dem Sterbebett deines Vaters und verurteile deine Mutter dafür, dass sie nicht stärker war als die Gewalt, die ihr mindestens in doppelter Weise, durch Kapitalismus und Sexismus und oftmals zusätzlich durch Rassismus, zugefügt wurde.› Wir müssen bedenken, dass es ebenso möglich ist, sich mit Kontaktabbrüchen statt mit Vätern zu versöhnen, weil gerade diese unapologetisch sein können.

«Es ist deshalb an der Zeit die Geschichten von Müttern, alleinerziehenden Müttern, Lesben, kinderlosen Frauen und alternativen Familienmodellen laut werden zu lassen. Denn Geschichten haben Macht über uns«.

Nachdem Édouard Louis über sich selbst und danach zunächst über seinen Vater geschrieben hat, wird im November 2021 die deutschsprachige Ausgabe seines Buches über seine Mutter veröffentlicht. Es trägt den Titel Die Freiheit einer Frau. Auf Instagram schreibt Louis, dass er dort über die doppelte Unterdrückung seiner Mutter und ihren Ausbruch aus dieser berichten wird – ihre Metamorphose.

So wichtig die Narrative von Louis und Eribon für mich waren und wie sehr es zu begrüßen ist, dass Klasse intersektional thematisiert wird und die vergessenen Mütter die Bühnen der Literatur betreten, so müssen wir Arbeiter*innenkinder uns trotzdem fragen, für wen wir schreiben. Wofür legen wir die Geschichten unserer mehrfach unterdrückten Familienmitglieder offen? Und wie repräsentieren wir sie? Welche Ansprüche haben wir an sie, zum Beispiel auch im Vergleich zu den Vätern? Wem verzeihen wir und nach wem sehnen wir uns?

Gerade die exklusive Sprache, in der Eribon sein Buch formuliert, öffnet vor allem einem bürgerlichen Voyeurismus die Tür. Eribon gibt seine Familie diesem Blick preis und verkauft ihre Geschichten und ihren Schmerz. Sie wurden zum Objekt des intellektuellen Blicks.

Louis versucht in Wer hat meinen Vater umgebracht für seine Klasse zu schreiben, statt über sie. Sicherlich waren wir Arbeiter*innenkinder innerhalb unserer Klasse patriarchaler und anderer Gewalt ausgesetzt. Wir waren dem kapitalistischen System in vielen Momenten machtlos ausgeliefert und mussten uns täglich fragen, wie wir zwischen Solidarität und eigener Handlungsmacht balancieren. Allerdings dürfen wir unsere arbeitenden, arbeitslosen oder mittellosen Familienmitglieder und Freund*innen nicht einer erneuten Kapitalisierung ihres Leids ausliefern und daraus Profit schlagen oder Karrieren aufbauen. Ich sehe unsere Aufgabe eher darin, was bell hooks in Die Bedeutung von Klasse schreibt: «Ich würde zum College gehen und lernen, wie man eine Welt erschuf, in der sie nicht so schwer würden arbeiten müssen» – und eben diesen Anspruch dürfen wir nicht vergessen. Wir müssen uns fragen: Wie kann ich daran teilhaben, dass gesellschaftliche Grundbedingungen geschaffen werden, damit meine Mutter für sich selbst sprechen kann und vor allem weniger (Care-)Arbeit leisten muss?

Meiner Mutter empfahl ich das Buch schließlich letztes Jahr zu lesen. Bei Wein und Zigaretten diskutierten wir gemeinsam mit meinem Bruder einen gesamten Abend lang auf dem Balkon über das Buch, Erfahrungen von Arbeiter*innenkinder an der Uni und über Klassenverhältnisse. Sie echauffierte sich in Bezug auf Eribon einerseits über die exklusive Sprache, mit welcher er über ‹uns Arbeiter*innen› spricht und fragte schließlich, ob wir es auch so schwer an der Uni haben, denn Eribon «muss es laut seiner Erzählung ja ganz schön schwer gehabt haben, der arme Kerl – dabei hat er es doch geschafft».

Ich habe die Stärke meiner Mutter oft übersehen und ihr ihre menschlichen Schwächen doppelt übelgenommen – Teil eines sexistischen Blicks auf alleinerziehende Mütter. Es ist deshalb an der Zeit die Geschichten von Müttern, alleinerziehenden Müttern, Lesben, kinderlosen Frauen und alternativen Familienmodellen laut werden zu lassen. Denn Geschichten haben Macht über uns. So wie Eribon manch eine Person überlegen lässt, aus einem falschen Stärkeanspruch heraus, Kontakt mit gewalttätigen Familienmitgliedern wiederaufzunehmen, so können Geschichten von heilsamen Familienkonstellationen und feministischer Stärke, die gesellschaftliche Verhältnisse kritisieren, Utopien und Hoffnungen bedeuten.