Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen – dieser Buchtitel aus dem Jahr 2002 steht emblematisch für ein Verhältnis zur Macht, das in Teilen der Linken lange Zeit vorherrschend war. Der Autor des Buches, John Holloway, war selbst Teil der Weltsozialforen-Bewegung und stellte sich entschieden gegen herkömmliche Vorstellungen linker Gegenmacht, etwa im Sinne des Aufbaus einer linken Massenpartei. Aus derselben Zeit stammt auch das Konzept der «Multitude» aus der Feder von Michael Hardt und Antonio Negri. Es richtete sich gegen den identitären Begriff eines «Volkes», und ebenso gegen eine politische Bezugnahme auf die «Arbeiter*innenklasse». Diesen politischen Subjekten wurde eine Vielfalt widerständiger, global verteilter Praktiken und Gruppierungen entgegengestellt, die sich jedoch nicht vereinheitlichen ließen. Das Verhältnis dieser Multitude zur Erringung von Macht wurde offengelassen.
20 Jahre später hat sich die Debatte in der gesellschaftlichen Linken gedreht. Massenhafte Mobilisierungen und linke Partei- und Regierungsprojekte haben in der Zwischenzeit die Frage nach einem realen Bruch mit dem Neoliberalismus auf die Tagesordnung gesetzt. Im deutschsprachigen Raum plädieren die «Neue Klassenpolitik» und die Methode des Organizing für eine stärkere Ausrichtung linker Politik an nicht-akademischen Milieus, um linke Gegenmacht aufzubauen. Mit demselben Ziel, aber einer völlig anderen Stoßrichtung, wurden parallel dazu Ansätze eines linken Populismus in die Debatte eingebracht. Anstatt eines positiven Bezugs auf die Arbeiter*innenklasse setzt der Linkspopulismus auf einen diffusen Begriff des Volkes oder der Mehrheit jenseits von klaren Klassen- oder Links-/Rechts-Kategorien. Auch wenn diese Debatten noch nicht abgeschlossen sind, lässt sich gegenüber dem Konzept der Multitude, das sich kritisch sowohl gegen Volks- als auch Klassenkategorien richtete, eine deutliche Verschiebung feststellen. Konkrete Methoden und Strategien zum Aufbau linker Gegenmacht oder gar der Erringung von Regierungsmacht sind an die Stelle von eher abstrakt polit-philosophischer Diskussionen getreten.
Das hat auch mit Verschiebungen auf ökonomischer und politischer Ebene zu tun. Ein flexibler Interventionskapitalismus, der zunehmend auch die Geldschöpfungsfunktion der Zentralbanken einsetzt, um die Kapitalreproduktion zu stützen, ist an die Stelle des laissez-faire-Neoliberalismus getreten. Ein vollständiger Bruch mit dem Neoliberalismus scheint nicht mehr in unerreichbarer Ferne. Doch um von der Krise des Neoliberalismus, die durch die Corona-Pandemie weiter intensiviert wurde, zu profitieren, reichen die Debatten um Neue Klassenpolitik oder Linkspopulismus nicht aus. Beide Ansätze weisen eine voluntaristische Stoßrichtung auf – so als ob sich linke Erfolge durch linkspopulistische Diskursstrategien oder Organizing-Methoden automatisch einstellen würden. Es fehlen wichtige Einsichten über die strukturellen Möglichkeiten und Grenzen linker Gegenmacht, wie sie in der materialistischen Staatstheorie entwickelt wurden.
Woher kommt Macht im Kapitalismus?
Die Kernaussage der materialistischen Staatstheorie ist, dass ökonomische und politische Macht sich zwar gegenseitig bedingen, sie im Kapitalismus jedoch institutionell getrennte Formen annehmen. Grundlage der Macht aus materialistischer Perspektive ist die Spaltung der Gesellschaft in Klassen, die mit der systematischen Ausbeutung von Arbeitskraft einhergeht. Im Kapitalismus erfolgt diese Spaltung durch die einmal erfolgte und permanent reproduzierte Enteignung des großen Teils der Bevölkerung, um formale Eigentumstitel anzuhäufen, die als Kapital eingesetzt werden können, um Geld zu vermehren. Diese Spaltung nimmt jedoch keine rein ökonomische Form an, denn in diesem Fall könnte die Machtausübung direkt durch einen privaten Apparat der herrschenden Klasse erfolgen. Stattdessen nimmt Macht im Kapitalismus den Charakter offizieller Staatsmacht an, die sich auf das Allgemeinwohl bezieht und sich häufig als parlamentarische Demokratie formiert. In der ursprünglichen Akkumulation erfolgte die Massenenteignung der Bevölkerung durch die simultane Vereinheitlichung des Rechts und der Etablierung des Gewalt- und Geldschöpfungsmonopols. Der entstehende nationale Verfassungsstaat war wiederum auf Steuern und Staatsanleihen des Kapitals angewiesen.
«Es geht darum, den Zug bei voller Fahrt
in etwas völlig Neues zu verwandeln.»
Moderne Staatlichkeit und die kapitalistische Akkumulationsökonomie haben sich Hand in Hand entwickelt. Das bedeutet, dass Staat und Ökonomie Teil einer sich wechselseitig reproduzierenden Gesamtstruktur sind.
Dieser Grundgedanke der materialistischen Staatstheorie zeigt uns die Möglichkeiten und Widersprüche auf, mit denen ein linkes Gegenprojekt konfrontiert ist: Einerseits entsteht durch die institutionelle Trennung und relative Autonomie der politischen von der ökonomischen Sphäre die grundsätzliche Möglichkeit, im Rahmen des politischen Systems Veränderungen zu artikulieren oder sogar durchzusetzen, die über die unmittelbaren Notwendigkeiten der Kapitalreproduktion hinausgehen oder sogar partiell in Widerspruch mit ihr geraten. Andererseits können diese Widersprüche aufgrund der tieferliegenden Verwobenheit der ökonomischen und politischen Sphären nicht beliebig weit auseinanderklaffen, ohne dass die kapitalistische Akkumulationsökonomie in eine Krise gerät und dem politischen System damit die Grundlage entzieht. Im Moment tiefgreifender Widersprüche zwischen der ökonomischen und der politischen Sphäre müsste eine neue materielle Machtbasis hergestellt werden, die das politische System übergangsweise absichert. In anderen Worten: Jede linke Strategie, ob sie Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften oder andere Akteur*innen zum Ausgangspunkt nimmt, stößt über kurz oder lang auf das Problem, dass es keine entwickelten Elemente und schon gar keine Synthese eines alternativen Wirtschaftssystems gibt, die im Falle vorzeigbarer Erfolge in der politischen Sphäre und der dadurch entstehenden Widersprüche mit der ökonomischen Grundstruktur der Gesellschaft in Stellung gebracht werden könnten. Raul Zelik hat in seinem Buch Wir Untoten des Kapitals diese widersprüchliche strategische Ausgangslage mit einem fahrenden Zug verglichen, der nicht einfach nur durch einen revolutionären Griff nach der Notbremse zum Stehen gebracht werden müsse. Vielmehr gehe es darum, den Zug bei voller Fahrt in etwas völlig Neues zu verwandeln.
Vom «Stellungskrieg» zur «Doppelstrategie»
Um die Widersprüchlichkeit dieses Unterfangens besser zu greifen, lohnt sich der Blick zurück: Nach dem Scheitern der Revolutionen in Westeuropa in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte Antonio Gramsci das Konzept der Hegemonie, mit dem er die relative Stabilität des bürgerlichen Staates im Westen zu erklären versuchte. Gramsci entwickelte die materialistische Staatstheorie dahingehend weiter, dass er die Zivilgesellschaft als Vermittler zwischen Staat und Ökonomie identifizierte. Als erweiterter Staat steht sie zwischen «ökonomischer Struktur und dem Staat mit seiner Gesetzgebung und seinem Zwang».1 Diese vermittelnden Institutionen wie Parlament, Medien, Bildungs- und Wissenschaftssystem sind Orte, in denen die partikularen Interessen der Kapitalbesitzenden als Gemeininteresse artikuliert und mit Kompromissen abgesichert werden. Die so entstehende Hegemonie sorgt dafür, dass die staatliche Zwangsgewalt des Kapitals nicht als solche erscheint, «sondern im Gegenteil vom Konsens der Mehrheit, wie er in den sogenannten Organen der öffentlichen Meinung zum Ausdruck kommt, getragen erscheint.»2 Die in der Zivilgesellschaft materialisierte Hegemonie der Kapitalbesitzenden wendet sich umgekehrt gegen eine Legislativgewalt, welche die Reproduktion des Kapitalismus in Frage stellt oder stört. Die Zivilgesellschaft ist also kein neutrales Bindeglied zwischen Staat und Ökonomie (und schon gar kein potenziell herrschaftsfreier Diskursraum, wie es ab den 1980er Jahren bei Jürgen Habermas hieß).
Daher ist es auch nicht leicht, aus Gramscis Analyse strategische Schlüsse abzuleiten. Oft wird die Chiffre des Stellungskrieges (im Sinne eines schrittweisen Aufbaus linker Gegenmacht auf dem Terrain der Zivilgesellschaft) im Gegensatz zum Bewegungskrieg (im Sinne einer frontalen Eroberung der Staatsmacht) mit Verweis auf Gramscis Hegemoniekonzept angeführt. Gramsci selbst hat diese Überlegungen jedoch nicht systematisch ausgeführt. Vielmehr lassen sich Gramscis Gedanken als ein Beitrag zum besseren Verständnis der schwierigen strategischen Ausgangslage der gesellschaftlichen Linken deuten, die nicht nur mit der strukturellen Macht des Kapitals, sondern auch mit dessen ideologischer Macht und deren Verankerung und Absicherung in den Organen der Zivilgesellschaft konfrontiert ist.
Die widersprüchliche Ausgangslage, vor der eine linke Transformationsstrategie steht, wurde vom griechisch-französischen Politikwissenschaftler Nicos Poulantzas in Rückgriff auf Gramsci noch eingehender analysiert. Die staatstheoretische Debatte der 1970er Jahre, in der Poulantzas zu verorten ist, setzte sich mit dem – von Teilen der Linken als Scheitern empfundenen – Abflauen der 68er Bewegung auseinander. Der bürgerliche Staat hatte seine Widerstands- und Anpassungsfähigkeit ein weiteres Mal unter Beweis gestellt. In Poulantzas Formulierung, der Staat sei als materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen zu begreifen, wird der Grundgedanke der materialistischen Staatstheorie auf den Punkt gebracht: Einerseits entwickelt sich der Staat aus der ökonomischen Grundstruktur der Gesellschaft, nämlich aus den Klassenverhältnissen. Als «materielle Verdichtung» von Kräfteverhältnissen erlangt der Staat andererseits jedoch gegenüber der Ökonomie eine relative Autonomie. Auch die Staatsapparate untereinander entwickeln eine gewisse Eigenständigkeit.
«Wie lässt sich durch die sukzessive
Herstellung eines neuen ökonomischen
Zusammenhangs eine materielle Machtbasis
eines postkapitalistischen Gesellschaftsprojekts
aufbauen und erhalten?»
Aus dieser Analyse wurde der als Doppelstrategie firmierende Ansatz abgeleitet: Anstatt den Staat «in leninistischer Manier» einfach zu erobern oder ihn «im Sinne Gramscis einem zivilgesellschaftlichen Belagerungszustand» auszusetzen, müsse eine linke Strategie sowohl im als auch gegen den Staat agieren.3 Die Entfaltung linker Gegenmacht laufe dabei nicht auf die «Konfrontation zwischen dem Staat als ganzen Block und den Bewegungen» hinaus; die Schaffung von Gegenmacht außerhalb des Staates führe «vielmehr zu einer Differenzierung und Polarisierung innerhalb der Staatsapparate».4
Was bedeutet Doppelstrategie heute?
Die Doppelstrategie ist einerseits eine hilfreiche Denkschablone, die jedoch andererseits entlang konkreter Fragen erst noch zu einer richtigen Strategie entwickelt werden müsste. Welche Mechanismen, Instrumente und Apparate des Staates sind es genau, innerhalb derer linke Bewegungen agieren können? Wie genau lassen sich diese Instrumente aneignen und transformieren und welche Zwischenschritte sind dabei nötig? Wie lassen sich die konkreten Auseinandersetzungen im Staat und außerhalb des Staates koordinieren? Und wie lässt sich durch die sukzessive Herstellung eines neuen ökonomischen Zusammenhangs eine materielle Machtbasis eines postkapitalistischen Gesellschaftsprojekts aufbauen und erhalten?
Das Scheitern der SYRIZA-Regierung in Griechenland im Jahr 2015 ist ein gutes Beispiel, um besser zu verstehen, welche gravierenden Auswirkungen das Fehlen von konkreten Antworten auf diese abstrakten Fragen hat. Nach dem OXI-Referendum im Sommer 2015 mit einem klaren Nein zur europäischen Sparpolitik war es unklar, wie die SYRIZA-Regierung sich staatliche Instrumente hätte aneignen können, um trotz der Verweigerung weiterer Kredite durch die EZB handlungsfähig zu bleiben. Der damalige Finanzminister Yannis Varoufakis hatte einen Plan für eine digital gestützte Parallelwährung ausgearbeitet, der im Kabinett jedoch keine Mehrheit fand. Wie hätte dieser Plan real ungesetzt werden können, und welche ökonomischen Auswirkungen hätte er gehabt? Die SYRIZA-Abspaltung «Laiki Enotita» forderte, das Ergebnis des Referendums umzusetzen und dafür unter anderem die Goldreserven der griechischen Zentralbank zu liquidieren und die Schlüsselsektoren der Wirtschaft zu verstaatlichen. Auch die konkrete Umsetzbarkeit dieser Forderungen blieb unklar, zumal sie in der griechischen Bevölkerung keinerlei Basis hatten, wie sich im schlechten Abschneiden der Partei bei den Wahlen im Jahr 2015 zeigte. Der Fall SYRIZA führte erneut vor Augen, wie linke Gegenmacht, die sich über massenhafte Streiks, Demonstrationen, Wahlen und Referenden aufgebaut hatte, an der strukturellen Macht der ökonomischen Sphäre scheitert. Er zeigte auch, wie bestimmte Staatsapparate, etwa das griechische Parlament, mit anderen, in Teilen transnationalisierten Staatsapparaten, wie etwa der EZB und der IWF als Kreditgeber letzter Instanz, in Konflikt gerieten und unterlagen.
Einen aktuelleren und möglicherweise hoffnungsvolleren Referenzpunkt stellt die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen dar. Durch das Instrument des Volksentscheids werden Kämpfe in der Zivilgesellschaft mit Kämpfen innerhalb des Staats verknüpft und damit zugespitzt. Doch zugleich stellt sich die Frage, welche Instrumente und Ressourcen sowohl die Immobilienwirtschaft als auch die verschiedenen Staatsapparate mobilisieren können, um bei einem positiven Ergebnis dessen Umsetzung blockieren, verzögern oder abschwächen zu können. Soll Artikel 15 des Grundgesetzes, auf den sich die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen bezieht, zur Vergesellschaftung weiterer Unternehmen und schließlich ganzer Wirtschaftszweige eingesetzt werden, würde sich diese Problematik in zugespitzter Form stellen.
Es geht bei Antworten auf die Fragen, die sich aus einer (Doppel-)Strategie radikaler Transformation ableiten, letztlich um die konkrete Beschaffenheit eines alternativen Wirtschaftssystems auf Makroebene, die in der Linken jedoch kaum mehr diskutiert wird. Doch ohne konkrete Pläne für ein Übergangssystem, das Elemente der Umverteilung, Vergesellschaftung und ökonomischen Planung miteinander verknüpft, werden linkspopuläre oder auf Organizing abzielende Strategien immer wieder an der Gegenmacht des Kapitals scheitern.