Die arranca! schreibt zu diesem Heft: «Die Welt, in der wir leben, ist geprägt von komplexen Machtgefällen und Herrschaftsformen». Ein besonderes Machtverhältnis versucht der Begriff Hegemonie zu erfassen. Hegemonie bedeutet nach Antonio Gramsci, dass die Interessen der Herrschenden nicht nur durchgesetzt, sondern auch aktiv und passiv unterstützt beziehungsweise hingenommen werden. Dabei werden deren Teilinteressen als Allgemeinwillen verkauft. Sie wirken, wie der Politikwissenschaftler Ulrich Brand schreibt, als «aharmonischer Konsens» welcher nicht durch Kompromissbildung zustande kommt, dafür jedoch umso kompromissloser wirkt.

«Der eigene Anspruch des Weiter, Schneller, Größer und der absoluten Dominanz zeigt sich in den wirtschaft­lichen Ambitionen der Konzerne ebenso wie in den SUV-Modellen, die heute das Straßenbild prägen – und darüber hinaus auch die Klimabilanz.»

Eine solche Stellung nimmt hierzulande das autozentrierte Verkehrs­system ein. In den Nachkriegsjahrzehnten wurde das Auto zum Grundpfeiler einer wiedererstarkenden Wirtschaft, zu einem Symbol für Aufschwung, Wohlstand, Stabilität und technologischen Fortschritt. Kein anderes materielles Gut ist seither so sehr mit der (männlich-)deutschen Identität verknüpft. Der eigene Anspruch des Weiter, Schneller, Größer und der absoluten Dominanz zeigt sich in den wirtschaftlichen Ambitionen der Konzerne ebenso wie in den SUV-Modellen, die heute das Straßenbild prägen – und darüber hinaus auch die Klimabilanz.

Der Umschwung auf elektrische Antriebe soll die Verkehrsmittel nun klimafreundlicher machen. Diese Produktionsumstellung wird als klimaneutrale Alternative verkauft, die aus rein ökologischer Verantwortung heraus geschehe. Dabei wird die ökologische gegen die soziale Frage der Konversion der Betriebe ausgespielt und mit Arbeitsplätzen als Druckmittel in der Hinterhand verhandelt. Denn während der damit einhergehende Arbeitsplatzabbau als unausweichlicher Kollateralschaden deklariert und besonders in Coronazeiten lauthals nach staatlichen Hilfsgeldern gerufen wird, ist man sich in den Konzernspitzen sehr wohl des riesigen Profitpotenzials bewusst, das in einem Austausch der gesamten Pkw-Flotte vornehmlich durch Elektro- und Hybrid-Autos liegt.

Wenn nun also sämtliche Politiker*innen von Union bis Grüne die Vorzüge der E-Mobilität preisen und sich die Konzerne in ihren Versprechungen über den kommenden Wandel gegenseitig übertrumpfen, um sich das Label der Nachhaltigkeit anzuheften, dann haben sie dafür gute Gründe. Denn durch diese scheinbaren Zugeständnisse an einen durch das Erstarken von Akteur*innen wie Fridays for Future beeinflussten öffentlichen Diskurs verbleibt die Debatte über die Mobilitätswende bei der Frage des Antriebs. Die notwendige Veränderung scheint hier eine materiell-technische Lösung zu erfordern. Nicht hinterfragt wird hingegen die weiter stillschweigend hingenommene Hegemonie des motorisierten Individualverkehrs als zentrales Element aller verkehrspolitischen Überlegungen. Die Herausforderung für eine radikale Linke besteht darin, diese unsichtbare Vorherrschaft sichtbar zu machen, um gezielt diese Machtposition in Frage zu stellen.

Das Machtverhältnis brechen

Noch im Frühjahr 2019 schrieben Janna Aljets und Tadzio Müller in der arranca! #53: «Alle reden übers Auto. Nur die radikale Linke nicht.» Zwei Jahre später können wir festhalten, dass auch hier inzwischen über Verkehr und Mobilität gesprochen, diskutiert und gestritten wird. Aber auch genug? Es stellt sich die Frage, wie wir sowohl antikapitalistisch als auch revolutionär-realpolitisch in den automobilen Konsens intervenieren können.

Hegemonie wird nach Gramsci in besonderer Weise von der staatspolitischen Sphäre bestimmt. Der Staat tritt bei Mobilitätsfragen zumeist als Akteur in Erscheinung, der einen echten Wandel ausbremst – dabei wäre gerade dort der Realisationsort gesamtgesellschaftlicher Alternativen zu suchen. So sitzt der parlamentarische Staat an einigen der größten Hebel der Veränderung, mit dem Beschluss der Gesetze, der Priorisierung neuer Infrastrukturprojekte und der Verteilung von Subventionen. Diese müssten im großen Maße vom (meist fossilen) Individualverkehr in Richtung gemeinschaftlicher und nachhaltiger Verkehrsmittel gelenkt werden. Sieht Gramsci in der Zivilgesellschaft den Ort gegenhegemonialer Auseinandersetzung, so wollen auch wir nicht bei Appellen an den Staat verleiben, sondern selbst eine intervenierende Gegenmacht aufbauen.

Wir verstehen den Aufbau dieser gesellschaftlichen Gegenmacht als mindestens zweistufigen Prozess. Erstens geht es um ein Sichtbarmachen der und ein Arbeiten gegen die diskursive und tatsächlich-materielle Hegemonie des Systems Auto. In den vergangenen Jahren wurde hier tatsächlich schon einiges erreicht. So zeigten feministische, antirassistische und dekoloniale Perspektiven klar den Zusammenhang von Automobilfetisch, Konzernen und regionalen sowie globalen Ausbeutungsverhältnissen auf. Dies ermöglichte eine Sichtweise, die neben der ökologischen Krise auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit in den Fokus rückte.

Der breite Widerstand gegen den Bau der Autobahn A49 durch den mittelhessischen Dannenröder Wald ist der jüngste Kristallisationsort der Anti-Auto-Bewegung. Hier wurde erfolgreich skandalisiert, dass «business as usual» auch bei grüner Regierungsbeteiligung bedeutet, dem Auto stets die Vorfahrt einzuräumen. Die letztjährige 24-Stunden-Werksblockade bei VW in Wolfsburg lenkte die Proteste direkt gegen die Produktion der Dreckluftschleudern und ihren riesigen Ressourcenverbrauch.

Neben Baustellen und Fabriken als Orte der Produktion wurden auch Messen und Veranstaltungen, als Orte der ideologischen Reproduktion des autozentrierten Verkehrssystems durch Aktionen zivilen Ungehorsams bespielt. Hervorzuheben sind hierbei die Proteste während der Internationalen Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt vor zwei Jahren. Diese erschütterten den verkehrspolitischen Wohlfühldiskurs und hatten damit sicherlich keinen geringen Anteil am Umzug der IAA nach München sowie ihrer neuen, aufwendigen Imagekampagne. Gerade deshalb werden die Kämpfe der nahen Zukunft aber auch äußerst durchdacht zu führen sein. Es gilt besonders, die Konzerne nicht mit ihrem sozial und ökologisch desaströsen Greenwashing durchkommen zu lassen.

Emanzipatorisch wirkende, konkrete Utopien

Zu einer gegenhegemonialen Strategie gehört aus unserer Sicht zweitens, mit subversiven Praktiken die Möglichkeit einer alternativen Mobilität erlebbar zu machen. Wo der hegemoniale Diskurs von Staat und Industrie immer wieder auf technologischen Fortschritt gelenkt und reduziert wird, wollen wir von sozialem Wandel sprechen.

Hier lohnt sich ein Blick auf den Präfigurations-Begriff von Alissa Starodub. Ebenfalls als Aktivistin in selbstverwalteten Freiräumen unterwegs, beschreibt die Politikwissenschaftlerin in ihrem Buch Lasst es glitzern, lasst es knallen Präfiguration als «eine Art der Bewegung in Richtung Utopie, die potenziell überall auftreten kann, um soziale Transformation von unten zu erzeugen». Die präfigurativen Praktiken nehmen dabei das eigentliche Ziel vorweg, indem sie es mit der direkten Aktion bereits (meist zeitlich oder räumlich begrenzt) verwirklichen.

«Interventionen wie Parking Days, Critical Masses, Pop-Up-Radwege, selbstverwaltete Fahrradwerkstätten, nachbarschaftlich organisiertes Lastenrad-Sharing und weitere Praktiken wirken präfigurativ, indem sie den System­wechsel andeuten und dabei durchaus anschlussfähig sein können.»

Interventionen wie Parking Days, Critical Masses, Pop-Up-Radwege, selbstverwaltete Fahrradwerkstätten, nachbarschaftlich organisiertes Lastenrad-Sharing und weitere Praktiken wirken präfigurativ, indem sie den Systemwechsel andeuten und dabei durchaus anschlussfähig sein können.

Solidarische Aktionen und Praktiken können Menschen, die aktuell einen erschwerten Zugang zu Mobilität haben, diesen erleichtern. Eine Mobilität, die sich an tatsächlichen Bedürfnissen orientiert, ist vielfältig – und verlangt einen kollektiven Aushandlungsprozess. Klimafreundliche Mobilität wird es nicht ohne eine gerechtere Organisation des Zusammenlebens geben. Durch sie kann der Wechsel vom reinen Anti-Auto-Aktivismus zur Bewegung für eine bessere Mobilität auch in der Außenwirkung vollzogen werden. Eine der größten Aufgaben wird es sein, dabei auch jene konsequent mitzudenken, die in der Transformation der Autoindustrie vor allem eine existenzgefährdende Bedrohung ihrer Arbeitsverhältnisse sehen.

Erste Konzepte bieten hier Initiativen wie JustTransition, die Klima­gerechtigkeits- und Arbeiter*innenbewegung zusammendenken und eine soziale Absicherung von Lohnabhängigen mit einer radikalen Umgestaltung der Industrie zu vereinen sucht. Es braucht eine sozial gerechte Organisation der Produktionsumstellung auf klimagerechte Verkehrsmittel, um auch die Beschäftigten sowie die progressiven Teile der Gewerkschaften erreichen und mobilisieren zu können. Denn nur wenn den großen Automobilkonzernen das scheinheilige Argument des Arbeitsplatz­erhaltes entrissen werden kann, wird es möglich sein, eine geschlossene linke Bewegung gegen den automobilen Konsens ins Leben zu rufen.

Schließlich berührt Mobilitätsgerechtigkeit nicht nur verkehrspolitische Fragen, sondern vereint auch die Kämpfe um Flächengerechtigkeit, soziale und ökonomische Teilhabe, Geschlechtergerechtigkeit und stellt fundamental unsere Arbeits-, Produktions- und Lebensweise zur Debatte. Das System Auto, der individuelle Personen- und Güter­verkehr ist ein Grundpfeiler des fossil-patriarchalen Kapitalismus. Gerade deshalb wird seine Machtposition so vehement verteidigt – und gerade deshalb sollten wir das Zerschlagen dieses Machtverhältnisses auch als Möglichkeit zum Überwinden kapitalistischer Strukturen verstehen.