«Noch ein Bier, Max?»

Leon J. Koch, damit beschäftigt die Tische vor seinem Imbisswagen abzuwischen, wandte sich seinem derzeit einzigen Gast zu.

Max Larrk schüttelte den Kopf. «Hab noch. Aber falls du die Zeitung von heute hast …»

«Du kannst meine haben», sagte eine Stimme hinter ihm. Larrk tat, als habe er nicht gehört. Er kannte die Stimme hinter sich und das Letzte, was er gebrauchen konnte, war die Gesellschaft von Dowato Droehnohr. Koch schien ähnlich zu empfinden, denn er kehrte rasch in seinen Wagen zurück.

Unbeeindruckt ließ Droehnohr die Zeitung auf den Tisch fallen. «Hast du von dem neuen Bedürftigenschutzgesetz gehört, Max?», fragte er. «Ist gerade durchgestimmt worden. Ging schnell.»

«Nein», knurrte Larrk zurück.

«Ich lese es dir vor», sagte Droehnohr und setzte sich. «Machst du mir das Übliche, Leon?»

Koch murmelte etwas, was sowohl «Ja» als auch «Nein» als auch «Ich wünschte, du würdest dich verpissen.» heißen konnte, klapperte aber arbeitsam mit seiner Grillzange.

«Also,», sagte Droehnohr, wieder zu Larrk gewandt. Er räusperte sich und begann zu lesen:

«Die Zusammenlegung von Polizei und Sozialarbeit war längst überfällig, erklärte Innensenator Michael Tromler von der Deutschen Partei für Moralischen Pragmatismus (DMP) im Gespräch mit der Berliner Zeitung. ‹Gerade was die Hilfe für kriminelle Bedürftige angehe, war die Trennung von bestrafenden und unterstützenden Maßnahmen ineffektiv. Daraus wurden nun Konsequenzen gezogen und die Polizei und Sozialarbeit zu einem Zweig vereint: der Sozialpolizei.›»

«Was um alles in der Welt soll das denn heißen?», fragte Larrk.

«Hör doch zu! Die Sozialarbeit werde erweitert und mit mehr Kompetenzen ausgestattet. Eine Aufwertung dieses Berufsstandes war dringend nötig …»

«Lies mal lauter!», forderte Koch. «Die Fritteuse ist so laut, ich versteh nur die Hälfte!»

«Sozialarbeiter*innen werden künftig an der Waffe und im Nahkampf ausgebildet.»

«Sozialarbeiter*innen werden künftig an der Waffe und im Nahkampf ausgebildet», las Droehnohr vor. Er hob den Blick von der Zeitung und sah Larrk an. «Um die aufsuchende Sozialarbeit weniger gefährlich zu machen.»

«Die meinen wohl, um die aufsuchenden Sozialarbeiter*innen gefährlich für die von ihnen Aufgesuchten zu machen», sagte Larrk. Er atmete einmal tief ein und aus. «Okay, lies weiter.»

«Ausschlaggebend für die Änderungen war eine Studie der Stiftung für Volkspflege, in der die Wirksamkeit sozialarbeiterischer Maßnahmenpläne untersucht wurde. Die Auswertung der Studie hat ergeben, dass Arbeitskräfte in der ­Sozialarbeit zu viel Zeit damit verbringen, Bedürftige an Termine zu erinnern. Von 50 Terminen werden lediglich fünf eingehalten, Absprachen werden meistens nicht befolgt. Deshalb fiel die Entscheidung, diesen Beruf effizienter zu gestalten und die Sozialpolizei zu schaffen … blabla … Die Sozialpolizei darf bedürftige Menschen auch gegen ihren Willen zu Amtsterminen oder Arbeitsmaßnahmen befördern.»

«Wie soll das denn gehen?», fragte Larrk.

«Im Streifenwagen mit Handschellen und vorgehaltener Waffe wahrscheinlich», antwortete Koch. Er war herangekommen und stellte Droehnohr den bestellten Grillteller hin. «Nackensteak mit Pommes, Extraportion Minibouletten, Currysauce und Mayo. Lass es dir schmecken, Dowato.»

«Mir ist der Appetit vergangen!» Larrk wandte sich ab.

«Ist ja auch für mich», antwortete Droehnohr und zog die Zeitung unter dem Teller hervor. «Kannst du weiterlesen, während ich esse?»

«Die neuen Maßnahmen seien jedoch keineswegs als Sanktionen zu verstehen, sondern als verstärkte Unterstützung bei der Eingliederung in die deutsche Gesellschaft.»

Larrk sah ihn finster an, nahm jedoch die Zeitung entgegen. «Früher wurde damit ge­arbeitet, unkooperativen Bedürftigen die finanzielle Unterstützung zu entziehen, aber leider hat das nicht zu Einsicht bei den Betroffenen geführt. ‹Diese Menschen haben einen ganz besonderen Förderbedarf, der sich aus ihren Defiziten in Bezug auf ihre Lebensgestaltung ergibt. Das ist ja gerade bei Süd- und Ost­europäern, die mit einer ganz anderen Mentalität aufgewachsen sind, häufig der Fall›, so Tromler weiter. Die neuen Maßnahmen seien jedoch keineswegs als Sanktionen zu verstehen, sondern als verstärkte Unterstützung bei der Eingliederung in die deutsche Gesellschaft.»

Larrk machte eine Pause, um Droehnohr seine Bierflasche zu reichen. Dieser nahm einen großen Schluck und nickte dann. «Danke. Jetzt wäre mir das Steak doch fast im Hals steckengeblieben.»

«Ich finde die ganze Idee gar nicht schlecht», sagte Koch. Er stützte sich auf die Lehne eines freien Stuhls und hielt sein Gesicht in die Sonne. «Klare Regeln dazu, was jemand leisten muss, um gesellschaftlich beteiligt zu werden. Klare Verantwortungsübernahme durch den Staat, den alle gewählt haben. Wirklich, ich finde das ganz gut.»

«Das konnten wir uns denken, dass du das findest», sagte Droehnohr und nahm noch einen Schluck aus Larrks Flasche. «Gibt’s auch gute Nachrichten, Max?»

«Ja, der Artikel ist gleich zu Ende», antwortete Larrk. «Hier wird noch gefragt, ob die Sozialpolizei dann also die Aufgabe habe, Menschen sozusagen zu ihrem Glück zu zwingen und Tromler antwortet, dass keine Rede von Zwang sein könne, weil die Betroffenen schnell sehen werden, wie gut die Unterstützung ihnen tut, sobald ihr Leben erstmal Form angenommen hat. Das war’s.»

«Und nun?», fragte Droehnohr. Er verteilte Currysauce über seine Bouletten. «Hast du gar nichts zu sagen? Ich hab’ mich die ganze Zeit gefreut auf einen Vortrag über die Entfremdung des Menschen von der Arbeit und wie das in der Sozialarbeit gipfelt! Über Menschen, die angehalten werden mittels Zurechtweisung, Festsetzung, Entrechtung anderer Menschen ihre Quoten zu produzieren! Darüber, wie nicht Verbesserung von Lebensqualität, sondern die richtigen Haken auf den richtigen Formularen die Grundlage bilden, auf der gedacht und geplant wird! Und da sitzt du und sagst gar nichts!»

«Warum auch, du hast es ja gerade für mich gesagt», antwortete Larrk. «Gerade war ich nicht bei der Theorie, sondern bei der Praxis. Ich bin auch arbeitslos, Dowato Droehnohr. Ich bin drauf und dran, aus meiner Wohnung zu fliegen und ich habe keine Wahl, als mich dann ebenfalls an die große Lebensmanagement-­Agentur zu wenden, für die diese Sozial­polizei arbeitet.»

Droehnohr zögerte. «So schlimm wird es schon nicht werden», sagte er dann. «Das hier sind doch alles nur Worthülsen. Die heißen gar nichts.»

«Worthülsen», wiederholte Larrk. «Bedürftigenschutzgesetz ist eine Worthülse, von der ich lieber nicht getroffen werden will.»

«Wowast dannangst?», fragte Droehnohr durch einen Mund voller Bouletten. Er schluckte. «Dass sie dich in Handschellen zu ’nem Job als Straßenkehrer schleifen werden? Das machen die nicht.»

Koch schlenderte zum Wagen zurück und öffnete die Tür.

«Noch habe ich ein paar Ersparnisse und eine Frist. Wenn ich in der genug Aufträge zusammenbekomme, kann ich meine Wohnung behalten», sagte Larrk. «Aber wenn das vorbei ist, Dowato, werde ich genauso als Bedürftiger geführt wie die Menschen, an die du gerade denkst. Und wenn ich dann irgendeiner bezaubernden Couch-Pissnelke für allgemeines Lebensmanagement gegenübersitze und der erzähle, dass ich hauptsächlich mit Analysen dieser übergeschnappten Gesellschaft befasst bin, in der Hoffnung ein menschlicheres Zusammenleben zu ermöglichen, was glaubst du, was die davon halten wird?»

Droehnohr schüttelte den Kopf. «Aber du hast doch keine Angst, dass die dich wegsperren könnten! Das machen die doch nur mit –.»

«Aber hast du noch nicht gemerkt, wie schnell man inzwischen für illegal erklärt wird? Es geht nicht nur um den Pass. Es geht darum, sich einzufügen.»

«Illegalen», sagte Larrk. «Ja. Aber hast du noch nicht gemerkt, wie schnell man inzwischen für illegal erklärt wird? Es geht nicht nur um den Pass. Es geht darum, sich einzufügen. Und für alle, die mit ihren Arbeitsbedingungen nicht zufrieden sind und sich weigern könnten zu arbeiten, ist jetzt eine Sozialpolizei zuständig. Pass‘ gut auf deinen Job auf, Dowi. Sonst sehen wir uns in derselben Arbeitsmaßnahme wieder, und für dich und mich werden sie sicher auch ein paar Erziehungsideen haben.»

«Erziehung?»

«Natürlich Erziehung!»

Koch verschwand im Inneren des Wagens und schloss die Tür hinter sich.

«Was denkst du denn, was ‹bedürftig› heißt?», fragte Larrk ein paar Stimmlagen lauter. «Nur finanziell bedürftig? Wohl kaum! Der Erziehung bedürftig! Und ich wette, sie arbeiten bereits daran, in den Haftanstalten neue Abteilungen zu bauen, für Menschen, die nicht zur Gesellschaft gehören aber trotzdem für sie arbeiten sollen! Menschen, die man ohne großes Aufsehen wegsperren und zur Arbeit zwingen kann! Zu Erziehungszwecken!»

«Das wird doch nicht dich treffen», wiederholte Droehnohr. «Du verschwindest nicht, ohne dass es einen Skandal gibt.»

«Hoffen wir, dass das so bleibt», sagte Larrk und stand auf. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser auf Jobsuche.»

Als er aufstand, ertönte hinter ihm ein protestierender Schrei. Offenbar hatte er seinen Stuhl geradewegs gegen das Schienbein einer lebenden Person gestoßen.

«Verdammt, mach’ doch die Augen auf!»

«Was stehst du denn auch hinter meinem Stuhl!», gab Larrk zurück. Droehnohr gab ihm einen Schubs und ruckte mit dem Kinn Richtung Schulter der jungen Frau. Dort schimmerte eine Plakette mit der Aufschrift «Sozialpolizei».

«War nicht so gemeint», sagte Larrk.

Die Sozialpolizistin erwiderte seinen Blick. «Ich hab’ euer Gespräch gehört», sagte sie.

«Aha», sagte Larrk und dachte: «Das ist nicht mein Tag. Erst Droehnohr mit seinem Mundgeruch, dann ein Bedürftigenschutzgesetz und jetzt das hier.» Er blickte zu Droehnohr, aber der hatte seine Nase im Grillteller versenkt.

«Ich freue mich, dass ich ab heute an der Waffe ausgebildet werde. Auf wen ich sie richte, wird sich noch zeigen.»

«Ich bin noch nicht lange Sozialarbeiterin, aber ich kannte es bisher so», sagte die Sozial­arbeiterin-und-jetzt-Polizistin, «dass wir Macht über die Menschen hatten, mit denen wir arbeiten, aber weder sie noch wir hatten Einfluss auf … irgendetwas. Das ist ein verdammtes Scheißgefühl, kann ich dir sagen, wenn du den ganzen Tag mit Menschen verbringst, die die Gesellschaft einfach nicht haben will und du kannst es nicht ändern.» Sie sah zwischen Larrk und Droehnohr hin und her. Beide starrten sprachlos zurück. «Ich freue mich, dass ich ab heute an der Waffe ausgebildet werde. Auf wen ich sie richte, wird sich noch zeigen.»

Damit zog sie ihre Kapuze über den Kopf und ging davon, am Funkturm vorbei, auf die S-Bahn zu.