Doch was, wenn Wirkungslosigkeit nicht das größte Problem ist? Wer in jüngerer Zeit einen Blick auf Debatten zu Protest, Dissidenz und Gesellschaftskritik wirft, findet sich schnell mit einer ganz anderen Problematik konfrontiert: Gegenstrategien bleiben, so die These, nicht nur nicht ungehört, sondern werden zunehmend als Systemressourcen entdeckt. Allerorts springt uns die in Wissenschaft und Feuilleton – aber auch in bewegungsnahen Zusammenhängen – populäre Diagnose entgegen, dass Abweichung und Dissidenz, dass Autonomie und Nonkonformität von potentiellen Störfaktoren zu Produktivkräften des Kapitalismus avanciert sind. Was ist dran an dieser Diagnose? Und welche Konsequenzen hat sie für linke Bewegungspolitik?
Die Vereinnahmungsdiagnose
Historisch betrachtet hat sich der Kapitalismus im Prozess der (äußeren) Landnahme zunächst in kolonialistischer Manier die nicht-kapitalistischen Gesellschaften einverleibt, um dann im Zuge der „inneren Landnahme“ die vorindustriellen Sektoren sowie die Reproduktionsbedingungen in den kapitalistischen Metropolen selbst der Vermarktlichung zuzuführen. Nun wird in jüngerer Zeit eine Dynamik ausgemacht, die sich als „innerste Landnahme“ beschreiben lässt: Diese laufe darauf hinaus, nicht mehr (nur) die Arbeitskraft, sondern den ganzen Mensch mitsamt seiner subjektiven Potenziale, Emotionen und eben auch Eigensinnigkeiten zu erschließen. Arbeits- und Industriesoziolog_innen haben gezeigt, dass neue Managementkonzepte als Reaktion auf die Krise der fordistischen Massenproduktion zunehmend auf die Selbststeuerungspotenziale von Beschäftigten setzen: Initiativen zur Abflachung von Hierarchien und zur Förderung von Eigeninitiative und Kreativität entsprächen dabei ebenso in vielen Punkten jahrelang den Forderungen von Gewerkschaften und Betriebsräten wie der Ausbau von Gruppenarbeit. Nichtsdestotrotz handele es sich um eine ambivalente Entwicklung, da die Gewährung von Autonomie zu einer neuen, schwer zu durchschauenden, effizienteren Herrschafts- und Ausbeutungstechnik werde, so die Analyse der kritischen Arbeitssoziologie.
Auch die französischen Soziolog_innen Luc Boltanski und Eve Chiapello haben in ihrer Studie Der neue Geist des Kapitalismus aufgezeigt, dass das kapitalistische System zu seiner Rechtfertigung zunehmend auf die Kritik seiner Gegner_innen zurückgreift und sie zur Legitimationsressource ummodelliert. Dies betreffe insbesondere die in der 1968er-Bewegung einflussreich gewordene Künstlerkritik, die Unterdrückung, Entfremdung und Uniformierung in der Massen- und Konsumgesellschaft thematisiert und im Gegenzug Autonomie, Kreativität und Freiheit als gesellschaftliche Ideale propagiere. Im Zuge der Integration dieser Kritik sei ein projektbasierter Geist des Kapitalismus entstanden, in dem flachere Hierarchien, soziale Netzwerke, Flexibilität und partizipative Managementtechniken sukzessive an Bedeutung gewonnen hätten.
Die im Feld der akademischen Linken – aber auch darüber hinaus (so in der Fantômas oder im Kontext der BUKO) – populären Gouvernementalitätsstudien im Anschluss an den französischen Philosophen Michel Foucault gelangen zu einer ähnlichen, wenngleich noch stärker zugespitzten Diagnose: So konstatiert Ulrich Bröckling in seiner viel gelesenen Studie Das unternehmerische Selbst, dass die Subversion der Ordnung Teil ihrer Optimierung geworden sei und „Überschreitung statt Regelbefolgung“ als Handlungsmaxime gelte. Die aktuelle Orientierungslosigkeit gesellschaftskritischer Positionen hat ihm zufolge ihren Grund „in der unbequemen Erkenntnis, dass der vermeintliche Sand, mit dem man hoffte, das Getriebe blockieren zu können, dieses inzwischen als Schmiermittel am Laufen hält.“
Was wird aus Kritik und Dissidenz, wenn sie derart zu Lernhilfen einer optimierten kapitalistischen Produktion und Vergesellschaftung umgebaut werden können? Corinne Maier propagiert in ihrem erfolgreichen Ratgeber Die Entdeckung der Faulheit. Von der Kunst, bei der Arbeit möglichst wenig zu tun: „Es ist nutzlos, das System verändern zu wollen; wenn man sich ihm widersetzt, stärkt man es; wenn man es bekämpft, geht es umso ungreifbarer daraus hervor.“ Verenden gar Revolutionen „in noch pittoreskeren Formen von Integration“, wie Umberto Eco feststellt?
Es ist ein großes Verdienst dieser Analysen aufgezeigt zu haben, dass Herrschaft und Autonomie, dass Fremdbestimmung und Nonkonformität im Gegenwartskapitalismus keine einfachen Gegensätze mehr darstellen: Autonomie kann zur Herrschaftstechnik werden, Nonkonformität kann zum geforderten Leistungskanon gehören. So instruktiv die Vereinnahmungsdiagnose in ihrer Sensibilisierung für die flexible Anpassungsfähigkeit des kapitalistischen Systems ist, so unbefriedigend bleibt sie jedoch für die Analyse konkreter – gelungener wie misslungener – Vereinnahmungen.
Diagnose ohne Kontext?
Die Vereinnahmungsdiagnose ist in hohem Maße abgehoben: Abstrakte Subjekte spazieren durch eine Welt, die jedes selbstregulative Potenzial und jede subversive Handlung unterschiedslos zu Innovationsgeneratoren umarbeitet. Wer aber erwartet Kreativität und Mobilität von illegalisierten Migrant_innen, die die Grenzen der Festung Europa überwinden? Welche Supermarkt-Kassiererin erfreut ihren Chef mit hoher Kommunikationsorientierung beim Kassieren oder mit selbstbestimmtem Zeitmanagement? Welcher Hartz-IV-Empfänger den Fallmanager mit kreativen Ideen ohne Lohnarbeitsbezug?
Um welche Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse geht es eigentlich, wenn von der umfassenden Preisgabe von Kritik und Abweichung im System die Rede ist? Journalist_innen, Wissenschaftler_innen und bewegte Linke scheinen über sich selbst und ihre privilegierte Situation zu sprechen. Klassische Kontroll- und Disziplinierungsformen und die weitgehende Ausschaltung subjektiver – zumal kritischer – Potenziale sind in vielen Bereichen aber nach wie vor an der Tagesordnung. So ist der Alltag der meisten Beschäftigten bestimmt durch ein komplexes Ineinandergreifen von Mechanismen der Fremd- und Selbstkontrolle: „Mach, was du willst, aber nur an Orten und im Rahmen des Erlaubten“ – so ließe sich die Situation pointieren. Genau dieses Konglomerat, das mit großen Verunsicherungen für die Beschäftigten verbunden ist, gilt es aber zu entwirren und auf konkrete Ansatzpunkte für Widerständigkeit abzuklopfen. Mitunter reicht es, eine gewünschte Praxis einfach auf einen anderen Kontext zu übertragen – Stichwort: Kreativität ohne Lohnarbeitsbezug im Umgang mit dem Amt – und das Störpotenzial wäre garantiert.
Diagnose ohne emanzipatorisches Ansinnen
Die Vereinnahmungsdiagnose ist zudem in hohem Maße formalistisch: Die diskutierten Verhaltensweisen und Mechanismen – seien es Kreativität, Selbststeuerung, Flexibilität oder Nonkonformität – werden inhaltlich kaum rückgebunden, so dass offen bleibt, mit welchem Ziel sie eigentlich zum Einsatz kommen: Autonomie und Selbstorganisation in Bezug auf die Selbstökonomisierung als Freiberufler_in oder die Vorbereitung von Protesten gegen den G8-Gipfel? Flexibilität und Mobilität im Sinne der betrieblichen Erfordernisse oder im Bezug auf die eigene Fluchtgeschichte? Nonkonformität und Eigensinn als einträgliches Kunstprojekt in der Stadtteilgalerie oder als Überlebensstrategie am Fließband?
Die berechtigte theoretische Unsicherheit darüber, von welchem inhaltlichen Standpunkt aus eine Kritik der (kapitalistischen) Verhältnisse zu formulieren ist, wenn die Kritik immer schon Bestandteil eben dieser Verhältnisse ist, wird in eine Sackgasse weitergedacht: Ein inhaltlicher Standpunkt, von dem aus die Kritik „ihr Nein formulieren könnte“ (Ulrich Bröckling), müsse aufgegeben werden, so verschiedene Protagonist_innen der Debatte. Da man auch im postmodernen Flüchtigkeitsgestus auf eine kritische Perspektive nicht gänzlich verzichten möchte, werden Widerständigkeit und Dissidenz infolgedessen allein über die Umkehrung der identifizierten Systemressourcen bestimmt: „Kreativität und Mobilität sind gewünscht? Dann bleiben wir zu Hause und gestalten die Tage möglichst eintönig.“ „Wir sollen eigeninitiativ und hochkommunikativ sein? Dann werden wir eben depressiv“ – um es zugespitzt zu formulieren. Es wird allein danach gefragt, ob Verweigerung die gegebene Ordnung stört, nicht aber, ob sie in emanzipatorischer Hinsicht die Lebensverhältnisse der Menschen verbessert. Nur vor solch einem Hintergrund wird verständlich, wie aus post-strukturalistischer und gouvernementalitätstheoretischer Perspektive, immerhin derzeit der Linken liebste Theoriekinder, Entsubjektivierung, „Spiele der Nutzlosigkeit“, Depression, passive Resistenz oder „leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation“ zu Widerstandsmaximen werden konnten. „Wirklich ‚sauber‘ bleibe ohnehin nur der Subversive, dessen Subversion keiner bemerkt“, wie der Autor und Journalist Robert Misik jüngst konstatierte. Wie wahr und wie falsch zugleich: Wo sich etwas bewegt, wird in der Tat Staub aufgewirbelt, wo Theorie praktisch wird, wird die klinisch saubere wie gefahrlose Pseudoradikalität der kommentierenden Linken verlassen – und das ist gut so. Es drängt sich die Frage auf, ob die populäre Absage an einen Standpunkt und konkrete Prozesse der politischen Organisierung, ob das Abgefeiere von Flüchtigkeit und Spontaneität durch erklärte Kritiker_innen der kapitalistischen Gesellschaft nicht die radikalsten Formen sind, den Verhältnissen „auf den Leim“ zu gehen. Autonomie und Selbstbestimmung sind eben nicht nur Managementtechnik und Ausweis liberaler Ideologie, sondern eine grundlegende Notwendigkeit für jede individuelle wie kollektive emanzipatorische Perspektive.
Auswege und ein Blick zurück
Was bedeutet das für eine Gruppe wie FelS? Es bedeutet – bei aller Kritik –, dass die Vereinnahmungsgefahr ernst genommen werden muss und zwar dort, wo sie aktuell vor allem droht: In der Symbolpolitik, wenn alltagsferne Nonkonformität und kreative Abweichung, die im Konkreten niemanden stören, auf dem besten Wege sind, zur Art Déco eines Projekte generierenden Kapitalismus zu werden. Die Gruppe FelS hat im letzten Jahr eine Konsequenz aus genau dieser Gefahr gezogen: Sie hat die so erfolgreich gestartete Mayday-Parade gegen die Prekarisierung der Lebensverhältnisse aufgegeben, als die Parade zum radical chic, zum hippen Mai-Event ohne Alltagsverankerung und ganzjährige Praxis zu werden drohte. Auch Farbbeutel auf ein Ministerium konnten nicht (mehr) darüber hinwegtäuschen, dass an dem viel beachteten kreativem Umzug niemand Anstoß nehmen musste, solange die Demonstrierenden am 2. Mai in den Normalmodus Alltag zurückkehrten und die prekarisierte Bohème zudem weitgehend unter sich blieb. Damit ist das Projekt aber keineswegs auf ganzer Linie gescheitert, können doch Grenzen und konkrete Vereinnahmungsgefahren linksradikaler Politik nicht am Reißbrett bestimmt, sondern nur in einer für Kritik und Veränderungen offenen politischen Praxis ausgelotet werden. So ist es durchaus gelungen, neue Ausdrucks- und Politikformen zu entwickeln, die den Vielschichtigkeiten und Widersprüchen prekarisierten Lebens Raum geben. Erinnert sei an dieser Stelle nur an die leeren Sprechblasen, auf denen die Teilnehmer_innen der Parade ihre eigenen Forderungen und Statements eintragen konnten und die seitdem – über die Mayday-Parade hinaus – die Demolandschaft in Berlin verändern. Klar wurde aber eben auch, dass die erfolgreiche Parade ohne Verstetigung einer widerständigen Alltagspraxis Gefahr lief, den beabsichtigten Stachel zu verlieren und zur Demo-Party zu werden.
Doch mit Erkenntnissen dieser Art stehen erfolgreiche (System-)Kritik und Dissidenz keineswegs generell zur Disposition, wie es die allgegenwärtigen Vereinnahmungswarnungen glauben machen wollen: Sowohl das kapitalistische System als auch die kritische Praxis sind so facettenreich, dass die Annahme einer einfachen Formähnlichkeit von System und Kritik nur in eine Sackgasse führen kann. Gerade weil die Vereinnahmungsdiagnose aufzeigt, dass Kritik und Dissidenz zu Innovationsgeneratoren und flexiblen Ressourcen werden können, gilt es anhand linker Bewegungsgeschichte sowie anhand konkreter Praktiken realer Akteur_innen auszuloten, unter welchen Bedingungen genau dies nicht geschieht – beziehungsweise nicht geschehen ist. Dabei ist für die Erfolgsbestimmung zu berücksichtigen, dass nicht jede kritische oder dissidente Praxis durch ihre Vereinnahmung entwertet wird: Was zur Produktivkraft mutiert, verliert nicht unter allen Umständen seinen subversiven Charakter, kann doch jedes Schmiermittel, sobald es nicht mehr die Maschine ölt, sondern den Boden bedeckt, seine Funktion verändern.
Man nehme das Erfolgsbeispiel der feministischen Kritik: Auch wenn Geschlechterhierarchien und Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen nach wie vor an der Tagesordnung sind, kann die Entwicklung der letzten 100 Jahre nicht über zahlreiche Erfolge des feministischen Kritikprojekts hinwegtäuschen. Wenn nun von feministischer Seite beklagt wird, dass „der Traum von Frauenemanzipation in den Dienst der kapitalistischen Akkumulationsmaschine gestellt wird“ (Nancy Fraser), gerät zweierlei aus dem Blick: Erstens, dass der Umstand, dass Frauen als Ressource außerhalb der Reproduktionssphäre entdeckt wurden, auch ein großer Erfolg ist und dieser Entwicklung doch (bei allen fortdauernden Problemen) die zunehmende Gleichstellung von Männern und Frauen und die sukzessive Überwindung vormoderner Abhängigkeitsstrukturen zugrunde liegt. Wem dies zu positiv gezeichnet ist, der werfe einen Blick auf Geschlechterverhältnisse in Filmen oder Werbungen der 1950er Jahren und vergleiche. Natürlich ist dies erst einmal nur eine zunehmende Gleichstellung im Rahmen des Bestehenden, aber es gilt zweitens: Die Inkorporation und Nutzung weiblicher Arbeitskraft und Ressourcen durch das Kapital bedeutet eben nicht, dass die feministische Kritik für ein antikapitalistisches Projekt verloren ist. Im Gegenteil: Die wachsende Gleichstellung (im flexiblen Kapitalismus) ist unabdingbare Voraussetzung und Ressource für die Kritik desselben und ein über diese Verhältnisse hinausgehendes Emanzipationsprojekt.
Für die Bewertung des Erfolgs von Kritik und Protest gilt dabei nicht zuletzt: Störung allein genügt nicht, wenn in der radikalen Negation der Systemimperative die emanzipatorische Perspektive aus dem Blick gerät. Auch wenn Depression und Passivität die effektivsten Produktivitätskiller sind, zerstörte Straßenbeleuchtungen, zerstochene Reifen und die Anhäufung von Hundescheiße den Gentrifizierungsprozess verlangsamen mögen – schön ist das Leben so nicht. Wir müssen nicht aufhören, kreativ, mobil, selbstorganisiert, ideenreich und nonkonform zu sein, weil uns die soft skills des flexiblen Kapitalismus zu Überläufer_innen werden lassen (könnten), sondern wir werden es dort, wo es nicht erwartet wird, wo es definitiv unerwünscht ist, wo es – weiterhin und immer wieder – stört: durch Aktionen im Stadtteil, auf dem Amt (so die Militante Untersuchung von FelS im Jobcenter Neukölln) oder am Arbeitsplatz. Als die Hamburger Künstler_innen im Gängeviertel dem Kreativitätshype den Kampf ansagten und kreativ widerständig wurden, wurde unübersehbar, dass nicht alles als Kreativgut vereinnahmbar ist. In ihrem Manifest Not in our name. Marke Hamburg heißt es: „Unmissverständlicher kann man nicht klarstellen, was ‚Kreativität‘ hier (von Seiten der Stadtoberen) zu sein hat: ein profit center für die wachsende Stadt. Und da sind wir nicht dabei. Wir wollen nämlich keine von Quartiersentwicklern strategisch platzierte Kreativimmobilien und Kreativhöfe.“ Und sie wollten erfolgreich nicht.
Das Wissen darum, dass es keinen dauerhaft sicheren, von den gesellschaftlichen Machverhältnissen undurchdringbaren Ort der Kritik und praktischen Dissidenz gibt, darf nicht zu dem fatalen Umkehrschluss verleiten, dass es keine vorübergehend zu enternden, provisorisch zu sichernden Stand- und Widerstandspunkte gibt. Dass dieser Ort der Abweichung und Aneignung stets gefährdet, umkämpft und vereinnahmbar bleibt, erfordert permanente Reflexion und Praxis – und nicht die Verweigerung, autonom und kreativ zu sein. Wer keine Blumen mehr vors Haus setzt, weil dann die Gentrifizierung droht, hat schon verloren.