Trotz Foucault und Bourdieu wird in emanzipatorischen Diskursen nicht über Klassenkörper gesprochen. Sarrazin löste eine Migrations-Debatte aus, aber keine klassenbezogene Erbintelligenz-Debatte. Dabei ist das Elterngeld stillschweigend eingeführt worden, weil „in Deutschland die Falschen die Kinder bekommen“, wie Gesundheitsminister Daniel Bahr 2005 formulierte, die Begründung für das Erbgesundheitsgesetz von 1933 wiederholend. Intelligenz wird als eine klassenspezifisch vererbliche Eigenschaft des Körpers ausgemacht, mit dem Elterngeld soll daher die Produktion von Klassenkörpern gesteuert werden. Von emanzipatorischer Seite wurden weder Foucaults Sexualität und Wahrheit noch seine Ausführungen zur Eugenik im Biomacht-Kontext zitiert oder gar neu gelesen, und Bourdieus 20 Jahre alte Replik Rassismus der Intelligenz ebenfalls nicht.
„Klasse“ – der arme Vetter im Diskriminierungsdiskurs
Die Klassen-Kategorie ist im Diskurs der emanzipatorischen Linken noch immer „der arme Vetter“.1 Wenn überhaupt von ‚Race, Class, Gender‘ gesprochen wird, dann findet ‚Class‘ seltener Berücksichtigung als andere Kategorien. Natürlich ist dies in der marxistischen Linken anders, wo allerdings ‚Klasse‘ als ökonomisch/politische Kategorie und nicht als Diskriminierungskategorie verstanden und der Begriff ‚Klassismus‘ verdächtigt wird, die Wirkmechanismen des Kapitalismus zu verschleiern.
Beispiel Diskursforschung
Probeweise zog ich die Reihe Edition DISS heran und kam auf 13 Titel, die sich den Themenfeldern Rechtsextremismus/Neokonservatismus zuwenden, ebenso viele zum Thema Rassismus, elf zum Thema Migration/Einwanderung, acht Titel zum Feld Nationale Identität/Demokratiefeindlichkeit, je sieben zu den Themen Biologismus/Biomacht und Sexismus/Gender, vier zum Thema Alter/Jugendliche, drei behandeln das Thema Krieg. Nur zwei Artikel widmen sich den Diskriminierungsthemen Antisemitismus/Krankheit/Behinderung/Psychiatrie/Religion und Prekarität/Arbeitslosigkeit. Wenn wir nur die drei „Masterkategorien“ Race, Class, Gender betrachten, so widmen sich die DISS-Bände vor allem Rassismus-Analysen, dann den Sexismus-Analysen und nur sehr marginal den Klassismus-Analysen. Dies verwundert umso mehr, als Siegfried Jägers Klassiker Kritische Diskursanalyse von 1993 sich intensiv mit Ansätzen, die im Zusammenhang mit Klassentheorien entstanden sind, beschäftigt. Es kann also nicht an einer methodischen Fremdheit der Diskursanalyse gegenüber dem Klassenthema liegen, dass dieses links liegengelassen wird.
Beispiel Antidiskriminierungspolitik
Die Europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien sehen klassenspezifische Diskriminierungsgründe nicht vor. Diese wurden im Zuge des Zustandekommens der Amsterdamer Verträge Ende der 1990er Jahre gestrichen. Die Folgen dieser Diskriminierungshierarchie sind gravierend: Antidiskriminierungsbüros müssen diskriminierte Menschen abweisen, wenn diese aufgrund klassenspezifischer Gründe diskriminiert werden; Enzyklopädien und Lexika gehen dazu über, Diskriminierung durch Aufzählungen zu definieren, in denen Kategorien wie Klasse, soziale Herkunft, Vermögen nicht vorkommen. Klassendiskriminierung kann es per Definition nicht mehr geben; Forschungsaufträge werden nur für die anerkannten Diskriminierungsgründe bewilligt, wodurch Klassendiskriminierungen „wissenschaftlich“ noch unsichtbarer werden; aus diesen diskriminierungshierarchischen Forschungen resultieren dann Handlungsanweisungen, die ebenfalls „klassenblind“ sind.
Doch selbst in linken Gruppierungen, die Race, Class und Gender intersektionell thematisieren, fällt der Bezug auf „Klasse“ oftmals schwer. Anne Christine Lenz und Laura Paetau kamen in Feminismen und ‚Neue Politische Generation‘ (2009) zu dem Schluss, dass die interviewten Aktivist_innen aus linken Berliner Gruppen, die zugleich Rassismus, Sexismus und Klassismus bekämpfen wollten, zu keiner antiklassistischen Praxis fanden.
Beispiel öffentliche Thematisierung von Diskriminierungsdiskursen
Betrachten wir die Sarrazin-Debatte, so zeigt eine Analyse der Äußerungen und Texte Sarrazins, dass er sich gleichermaßen abwertend gegenüber der deutschen Unterschicht wie gegenüber Migrant_innen mit islamischer Glaubensrichtung äußert. Dies stellte bereits die Schiedskommission der SPD im Frühjahr 2010 mit irrer Logik fest: Sarrazin sei kein Rassist, schließlich äußere er sich genauso abfällig gegenüber der deutschen Unterschicht wie gegenüber Migrant_innen. Dennoch hat die Sarrazin-Debatte vor allem seinen Rassismus thematisiert: Google zeigt über 1200000 Treffer bei der Suche „Sarrazin Migration“, 550000 bei „Sarrazin Islam“, 460000 bei „Sarrazin Integration“, aber nur 56000 bei „Sarrazin Unterschicht“.
Klassenkörperlichkeit oder Das Dispositiv der Sexualität
Zur Etablierung des Bürgertums schreibt Foucault in Sexualität und Wahrheit: Das Bürgertum „[…] hat sich einen Körper gegeben, den es zu pflegen, zu schützen, zu kultivieren, vor allen Gefahren und Berührungen zu bewahren und von den anderen zu isolieren galt, damit er seinen eigenen Wert behalte.“
Die Passage „von den anderen zu isolieren“ beinhaltet das altbekannte „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“. Sie findet sich unter anderem auch in allen modernen Spielarten von Zombiefilmen, in denen es darum geht, nicht von den Untermenschen infiziert zu werden und umfasst zudem die Homogamie, die Frage, wer wen heiratet.
Auch wenn Foucault von Klassenkörper und Klassensexualitäten spricht, ist Sexualität und Wahrheit nie als Beitrag zur Klassenanalyse wahrgenommen worden: Das Bürgertum „hat sich […] seit der Mitte des 18. Jahrhunderts damit beschäftigt, sich eine Sexualität zu geben und sich von da aus einen spezifischen Körper, einen ‚Klassenkörper‘ mit einer eigenen Gesundheit, einer Hygiene, einer Nachkommenschaft, einer Rasse zu erschaffen: Selbstsexualisierung seines Körpers, Inkarnation des Sexes in seinen eigenen Körper, Endogamie zwischen dem Sex und dem Körper.“
Man muss Sarrazin und den Diskurs, in dem das Elterngeld-Gesetz verabschiedet wurde, in diesem foucaultschen Sinne interpretieren.
„Wenn die Affirmation des Körpers eine der Hauptformen des Klassenbewußtseins ist, so gilt dies gewiß für das Bürgertum des 18. Jahrhunderts, das das blaue Blut des Adels in einen kräftigen Organismus und eine gesunde Sexualität verwandelt hat. So wird verständlich, warum das Bürgertum so lange gezögert hat, bis es den anderen, eben von ihm ausgebeuteten Klassen einen Körper und einen Sex zuerkannt hat.“
Und Foucault geht von verschiedenen „Klassensexualitäten“ aus: „Wenn die ‚Sexualität‘ das Ensemble von Auswirkungen ist, die in den Körpern, den Verhaltensweisen, den gesellschaftlichen Beziehungen durch das Dispositiv einer komplexen politischen Technologie herbeigeführt werden, so wirkt sich dieses Dispositiv nicht auf allen Seiten in gleicher Weise aus, führt es nicht überall zu denselben Effekten. Man muß darum wieder zu Formulierungen zurückkehren, die seit langem in Verruf sind. Man muß sagen, daß es eine bürgerliche Sexualität gibt, daß es Klassensexualitäten gibt. Oder vielmehr daß die Sexualität in ihrem historischen Ursprung bürgerlich ist und daß sie in ihren sukzessiven Verschiebungen und Übertragungen zu spezifischen Klasseneffekten führt.“
Habitus als Klassenverkörperung
Pierre Bourdieu spricht ebenfalls von Klassenkörpern, der Begriff Habitus meint Klassenverkörperung. Er legte in seinem Buch Meditationen. Kritik der scholastischen Vernunft eine Spur, der es zu folgen lohnt.
„[…] Es gilt, eine materialistische Theorie zu konstruieren, die, wie Marx in seinen Thesen über Feuerbach forderte, vom Idealismus ‚die tätige Seite‘ der praktischen Erkenntnis übernimmt, die die materialistische Tradition ihm überlassen hatte. Genau dies ist die Funktion des Begriffs Habitus: Er gibt dem Akteur eine generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht zurück und erinnert zugleich daran, dass diese sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu schaffen, nicht die eines transzendentalen Subjekts ist, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers, der sozial geschaffene und im Verlauf einer räumlich und zeitlich situierten Erfahrung erworbene Gestaltungsprinzipien in die Praxis umsetzt.“
Mit diesem Materialismus, der Körper als Gesellschaftskörper begreift, wird eine kritikgenerierende Perspektive eingenommen, die auch nach Jahrzehnten noch Bestand hat. So lesen sich nicht nur Foucaults Äußerungen zur Biomacht aus den 1970er Jahren als aktuelle Antworten auf Sarrazins Deutschland schafft sich ab, sondern ebenso eine Passage aus Bourdieus Artikel zum
Rassismus der Intelligenz
„Die neuen Rassisten stehen vor einem Optimierungsproblem: Entweder sie steigern den Tenor des Diskurses (etwa durch ein Eintreten für die Eugenik) zum erklärten Rassismus, riskieren dabei aber, ihr Publikum vor den Kopf zu stoßen und Einbußen an Kommunizierbarkeit, Mittelbarkeit zu erleiden, oder sie akzeptieren, dass sie Weniges sagen, und dieses Wenige in stark euphemisierte, das heißt den Normen der gerade geltenden Zensur entsprechender Form (indem sie von Genetik oder Ökologie sprechen), und vergrößern auf diese Weise ihre Chance, ihre Botschaft zu Gehör zu bringen, indem sie sie unhörbar zu Gehör bringen. Der heute am weitesten verbreitete Euphemisierungsmodus ist ganz klar die Scheinverwissenschaftlichung des Diskurses.“
Klassenkörper: auch nur Kopien von Kopien
Queere Umgangsweisen mit Körpern, die mit Judith Butler davon ausgehen, dass Körper nur Kopien von Kopien sind, beziehen sich wesentlich auf Geschlechtskörper. Sie kopieren hier bewusst falsch, um zu irritieren, um so auf die Konstruiertheit von Körpern hinzuweisen. Die emanzipatorische Linke ist weit davon entfernt, auch ihre Klassenkörper als Kopien von Kopien zu verstehen. Selbst dann, wenn wie im Fall Guttenberg Kopien und Klassen in allzu großer Verbundenheit und Deutlichkeit wochenlang die Medien beherrschen, wird kein Bezug zur Queer-Theory hergestellt. Der Biologismus des Genie-Kults und des Begabungs-Diskurses, der sich in der Praxis von in „Einsamkeit und Freiheit“ geschriebenen Doktor-Arbeiten ausdrückt, ist der Hintergrund für die angebliche Echtheit und Einzigartigkeit von Doktoren. Die Linke zeigte mit dem Finger auf ihn: „Der ist nicht echt“, aus unteren Schichten wurde gekontert: „Wir sind alle nicht echt, wir haben doch alle schon mal abgeschrieben“. Das alles ist komplizierter, aber als Mittel zum Zweck ließe sich auf eine Art Hauptmann-von-Köpenick-Queerness zurückgreifen. Als Bildungsaufsteiger sind Arbeiterkinder mit dem Vorwurf der „Hochstapelei“ konfrontiert, es muss die nichtexistente Echtheit bewiesen werden. Dagegen steht die relative Leichtigkeit, mit der Akademikerkinder die besseren Jobs bekommen: „Man muss nur authentisch sein“; „Also die Spielregeln sollte man schon einhalten“; „Das weiß man doch“. Das alles sind Klassenkörperfragen, vom verräterischen Erröten, sich nicht wohl in seiner Haut fühlen, bis zur Sprachlosigkeit über Äußerungen zur „Vererblichkeit von Intelligenz“ auch in der linken Szene, oder eben die körperliche Authentizität des klassenbezogenen Vorbehalts. Fragen für ausführliche Diskussionen und vielleicht auch für die Therapie – wenn es denn eine nicht-bürgerliche gäbe.