¿In deinem neuen Buch entwickelst du eine Kritik an der deutschen Integrationspolitik und schlägst alternativ dazu das Programm „Interkultur“ vor. Was ist der Kern deiner Kritik?
Der Begriff „Integration“ stammt aus den 1970er Jahren und hat nach 2000 eine Renaissance erfahren. An dieser Stelle gab es einen wichtigen Bruch. Denn 1998 hat die rot-grüne Bundesregierung als erste anerkannt, dass der Einwanderungsprozess in Deutschland unumkehrbar ist und eine substantielle Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts auf den Weg gebracht. Seitdem ist festgeschrieben, dass die Einwander_innen Bestandteil der Bevölkerung sind. In diesem Sinne gibt es mittlerweile eine Art pragmatisches Verständnis von „Integration als Integrationspolitik“. Länder und Kommunen haben Integrationskonzepte erarbeitet, in denen Maßnahmen und Steuerungsaufgaben festgeschrieben werden. Da gibt es bessere und schlechtere Konzepte.
Nun gibt es aber eine fatale Kontinuität. In die heutige Integrationsdebatte hat sich eine normative Dimension aus den 1970er Jahren hinübergerettet, die besagt, dass es in der bundesdeutschen Gesellschaft eine Gruppe gibt, die ‚zu uns‘ dazukommen ist: Das sind die Menschen mit Migrationshintergrund. Und diese Leute weisen angeblich bestimmte Defizite auf. Interessant ist, dass sich diese Defizite seit dem Aufkommen des Integrationskonzeptes nicht verändert haben. Es geht immer um Sprachprobleme, um patriarchale Familienverhältnisse und um „Ghettobildung“. Diese angeblichen Defizite sollen durch kompensatorische Maßnahmen beseitigt werden – neben dem Regelbetrieb, der sich nicht verändert. Genau das wurde schon in den 1970er Jahren kritisiert.
¿Integration meint, dass eine Minderheit von defizitären Migrant_innen an die deutsche Mehrheitsgesellschaft angepasst werden muss ...
Genau. Inzwischen gibt es aber eine dramatische demographische Veränderung, zumal in den großen Städten. In Nürnberg und Frankfurt haben heute 66 bzw. 67 Prozent der Kinder unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund. Da macht es keinen Sinn mehr zu behaupten, dass alle diese Kinder defizitär sind. An dieser Stelle schlage ich eben das Programm Interkultur vor. Es muss darum gehen, den Regelbetrieb der Institutionen zu verändern. Die Individuen haben verschiedene Voraussetzungen und Hintergründe und es muss dafür Sorge getragen werden, dass alle einen „barrierefreien“ Zugang zu den gesellschaftlichen Institutionen erhalten und dort auch gleich behandelt werden. Das ist der programmatische Ansatz meines Buchs: Es braucht einen Perspektivenwechsel weg von den Defiziten der Leute hin zur Thematisierung der Barrieren der Institutionen. Der Begriff Interkultur gefällt mir dabei nicht in jeder Hinsicht. Er hat selbst eine gewisse Geschichte, zu der die Festlegung auf den ethnischen Hintergrund gehört. Aber auf der anderen Seite wurde mit dem Begriff auch immer auf eine Öffnung der Institutionen abgezielt. An diese Tradition wollte ich anknüpfen.
¿Will man in die aktuelle Debatte intervenieren, ohne den Integrationsbegriff zu benutzen, muss man erst einmal einen neuen, positiven Begriff aufbauen, besetzen und öffentlich durchsetzen. Wäre es nicht klüger, um den Begriff Integration zu kämpfen?
Integration ist ein völlig unklarer Maßstab. Man sieht in der aktuellen Debatte ganz deutlich, dass die Schraube immer weitergedreht wird. Nach 2000, also mit der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts, hatten plötzlich viele Migrant_innen Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Da sind die Einbürgerungszahlen stark in die Höhe geschnellt. Seitdem wird unter dem Label Integration ununterbrochen daran gearbeitet, diese Zahlen wieder runterzudrücken. Die Bedingungen für den Erwerb der Staatsangehörigkeit sind in Deutschland sehr streng. Mittlerweile wurden zudem Einbürgerungstests eingeführt und das Niveau für die Sprachtests weiter angehoben. Da hat die erste Generation der Migrant_innen quasi keine Chance mehr. Außerdem wird der Begriff von konservativer Seite ununterbrochen als doppelter Maßstab in die Diskussion eingebracht. Nach dem Motto: Wir müssen die muslimische Frau befreien und das definieren wir dann als deutsche Leitkultur. Wo man sich fragt: Hat sich auf konservativer Seite irgendwann mal jemand für die Emanzipation der eigenen Frau interessiert? Der Begriff Integration ist in meinen Augen einfach verbrannt. Ich sehe nicht ein, warum ich strategisch an einem Begriff festhalten soll, dessen Konsequenzen in der bundesdeutschen Diskussion immer dieses normative, kompensatorische, wenn nicht ideologische Verständnis fördern.
¿Warum ist Interkultur das bessere Konzept?
Es geht um eine Veränderung der Organisationskultur. Es geht um die Frage, was in den Institutionen passiert. Wer wird als normal und wer als Abweichung definiert? Wen privilegieren die Institutionen, ohne dass diese Privilegien explizit gemacht werden? Was gibt es für strukturelle Hürden in den Institutionen? Ich kann zu jedem hingehen, dem einen feuchten Händedruck geben und sagen: „Bitte sei nicht böse zu Ausländern. Bitte versuch’ deinen Horizont zu erweitern.“ Das führt doch zu nichts. Das Entscheidende ist, und das kann ich politisch beeinflussen, dass die institutionelle Politik sich verändert, dass sie nach transparenten Regeln funktioniert. Wenn Stuttgart auf der kommunalen Ebene vorschreibt, dass alle Organisationen, mit denen Stuttgart zusammenarbeitet und die Geld von der Kommune beziehen, Diversitymanagement machen müssen – das verändert was!
¿Trotz deiner gründlichen Abrechnung mit der deutschen Integrationspolitik sind deine Gegenvorschläge sehr realpolitisch. Ist Interkultur als Handbuch zu lesen, wie man Deutschland schlicht und ergreifend „ein bisschen besser“ machen kann?
Das mit dem „Handbuch für ein besseres Deutschland“ war tatsächlich eine Motivation, das Buch zu machen. Es gibt einen Mangel an Bewegung bei Leuten mit Migrationshintergrund. Es gibt kaum Druck „von unten“. Ein echtes Problem. Nun waren vor zehn, fünfzehn Jahren die Dinge noch wie in Beton gegossen. Jetzt aber ist angesichts des demographischen Wandels tatsächlich Bewegung in die Sache gekommen. Vor allem in den Kommunen wird nach neuen Konzepten gesucht. Allerdings wird oft auf alte Konzepte zurückgegriffen, während man eigentlich auf der Suche nach Alternativen ist. Deswegen war meine Idee, durchaus eine Art Handreichung für Entscheidungsträger_innen zu schreiben: Wie kann institutioneller Wandel funktionieren? Was sind die Parameter dieses Wandels? Interkultur ist ja kein Gesellschaftsentwurf, sondern ein strategisches Programm zur Veränderung von Institutionen. Ironischerweise bediene ich mich dabei sogar neoliberaler Maxime. Die Forderung nach Eigenverantwortung und Chancengleichheit sind in Deutschland ja Teil des neoliberalen Diskurses. Aber die Realität sieht anders aus. Deutschland ist eher eine neofeudale Gesellschaft, in der Positionen über Beziehungsnetze verteilt werden. Du hast in Deutschland wirklich das Gefühl, dass familiärer Hintergrund eine deutlich höhere Bedeutung hat als Leistung – es gibt gar keine Konkurrenz. Das ist ein Widerspruch, an dem ich ansetzen wollte.
¿Wenn du die Situation in Deutschland mit anderen Ländern vergleichst: Warum gibt es hier deiner Einschätzung nach keine große soziale Bewegung, die mehr Rechte und Anerkennung für Migrant_innen fordert?
Das hat ganz stark damit zu tun, dass die Staatsangehörigkeit in Deutschland lange unglaublich exklusiv gewesen ist. Ihr Erwerb war in Deutschland immer mit Bejahung und Wohlverhalten verbunden. Das war in den ersten Einbürgerungsrichtlinien von 1977 auch ausdrücklich so formuliert. Du musstest den „deutschen Kulturkreis" bejahen. Du musstest dich an die „deutschen Lebensverhältnisse" anpassen. Du musst dir mal vorstellen, mit welchen totalitären Ideen das Deutschsein zu diesem Zeitpunkt aufgeladen war. Wenn du aber kein Bürger bist, dann beziehst du dich auch nicht auf das Land. Wenn du mit Migrant_innen über Diskriminierung redest, dann bekommt man heute noch zu hören: „Ich bin ja Gast hier und da ist es kein Wunder, dass ich anders behandelt werde als die normalen Leute.“ Das ist schwierig. Du kannst nicht gegen deine Diskriminierung protestieren, wenn du selbst das Gefühl hast, dass das normal ist. Dazu kam natürlich auch Angst. Ich kann mich daran erinnern, dass wir während Aktionen von Kanak Attak öfter mit älteren Leuten mit Migrationshintergrund zu tun hatten, die uns gefragt haben: „Habt ihr keine Angst? Die schieben euch ab!“ Das unterscheidet Deutschland definitiv von Frankreich, wo es in der 1980er Jahren eine große Protestbewegung gab. Da haben vor allem jüngere Leute einen Widerspruch gespürt zwischen dem, was ihnen in der französischen Schule beigebracht wurde, und ihrer Alltagsrealität. Einerseits wurden die universellen Werte der Republik, die Menschen- und die Bürgerrechte, gepredigt. Andererseits sahen die Jugendlichen, wie erniedrigend ihre Eltern Tag für Tag behandelt wurden. Dieser Widerspruch ist dann explodiert.
¿Du hast an anderer Stelle geschrieben, Rassismus habe auch etwas mit Staat, Nation und Kapitalismus zu tun. In Interkultur sagst du dazu wenig. Eine Klassenperspektive kommt nicht wirklich vor. Warum scheust du dich in deinem neuen Buch davor?
Ich scheue mich nicht davor. Aber ich bin der Auffassung, dass das Thema Migration nicht in einer Klassendebatte aufgelöst werden kann. Ich weiß, dass das von Linken oft eingefordert wird. Da heißt es dann, wir sollten keine Debatte über ethnische Herkunft führen, sondern eine über Unten und Oben. Dem würde ich widersprechen: In der Bundesrepublik hat der Ausschluss von Migrant_innen vor allem etwas mit der Nationen-Form und damit mit dem Migrationshintergrund zu tun. Die Sarrazin-Debatte hat noch mal gezeigt, dass da keine Gefangenen gemacht werden. Sicher: Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund hat aufgrund ihrer Geschichte eine ganz andere Klassenzusammensetzung als die einheimische Bevölkerung. Es gibt überdurchschnittlich viele Personen mit Migrationshintergrund, die gar keine oder schlechtere Bildungsabschlüsse haben und in den unteren Jobsegmenten arbeiten. Das ist eine Form von institutionalisierter Benachteiligung. Aber in Deutschland wurde diese Benachteiligung von staatlicher Seite kaum bekämpft, sondern auch noch durch rechtliche Exklusion abgesichert. Nationalismus spielt eine bedeutende Rolle – die Diskriminierung löst sich nicht einfach in der Klassendebatte auf.
¿In der Unterschichtendebatte wird Armut kulturalisiert. Da geht es gnadenlos gegen Hartz-IV-Empfänger_innen. Genau das wird mit Migrant_innen auch gemacht.
Aber auf eine ganz andere Art und Weise. Die sagen denen ja nicht, ihr guckt zuviel fern und ihr sauft zuviel. Sondern die sagen, ihr wollt „unsere Sprache" nicht sprechen und eure Kultur ist patriarchal und zurückgeblieben. Das ist euer Defizit. Das ist eine ganze andere Debatte als die über die angebliche Kultur der Unterschicht. Aber okay: Man kann sagen, in beiden Fällen wird der institutionelle Rahmen ausgeblendet, um die Leute für ihre Situation selbst verantwortlich zu machen. Das ist eine wichtige Komponente von Kulturalisierung und eine maßgebliche Funktionsweise von Rassismus – Balibar spricht ja auch von „Klassen-Rassismus". Es wird einfach behauptet: Jeder ist für seine soziale Position selbst verantwortlich. Aber gerade wenn man sich die Sarrazin-Debatte anschaut, kann eine Klassenperspektive nicht alles erklären.
¿FelS fordert keine kommunalen Integrationsprogramme. Das wollen wir als linksradikale Gruppe anderen überlassen. Unsere Praxis setzt auf zivilen Ungehorsam als Protestform, etwa bei Interventionen in die Lagerpolitik. Wir sind nach Lesbos zum NoBorder Camp gefahren und beteiligten uns an der LagerInventour. Uns geht es darum, eine radikale Gesellschaftskritik in widerständige Alltagsformen einzubetten. Was können wir aus deinem Buch für unsere politische Praxis mitnehmen?
Der Alltag ist ein guter Ansatzpunkt. Aber ich bin doch stark von den politischen Bewegungen in Ländern wie den USA oder England beeinflusst, die darauf gedrängt haben, in den Institutionen etwas zu verändern. In Deutschland gibt es viele Leute, die zwar eine scharfe Kapitalismuskritik vertreten, aber im eigenen Arbeitsumfeld Dinge dulden, die für mich ziemlich erstaunlich sind. Im eigenen Umfeld gibt es viele Institutionen, mit denen ich direkt zu tun habe. Ich würde in der politischen Praxis eher ansetzen als bei der grundsätzlichen Kapitalismuskritik. Ich finde zum Beispiel den Bereich Bildungspolitik sehr wichtig. Da gibt es kaum organisierte Proteste, obwohl im Grunde alle unmittelbar damit zu tun haben oder damit zu tun haben werden. Flüchtlingsarbeit ist auf der einen Seite sehr hilfreich, aber auf der anderen Seite ist sie wohlfeil.
Man kann ja immer wieder erleben, welche Konflikte Migrant_innenselbstorganisationen wie etwa The Voice auf dem Feld auslösen. Viele linksradikale Unterstützerorganisationen haben echte Probleme mit deren Selbstbewusstsein. Außerdem wollen die linksradikalen Gruppen über Kapitalismus reden, die Flüchtlinge sind aber meist sehr konkret orientiert, also primär daran interessiert, dass die Residenzpflicht abgeschafft wird. Da gibt es Konflikte, die nicht ausreichend diskutiert werden. Von The Voice gibt es einen Text über ihr Verhältnis zur linksradikalen Szene, von dem ich nicht feststellen kann, dass er in der Szene entsprechend aufgenommen wurde. Obwohl es eigentlich wichtig wäre, darüber mal zu reden. Flüchtlinge bleiben einem natürlich vom Hals. Das sind keine Leute, die demnächst in deiner Nachbarschaft auftauchen und Ansprüche stellen, keine Leute, mit denen du verhandeln musst. Das meine ich damit, dass das wohlfeil ist. Das ist auch oft eine Stellvertreterpolitik, die einen selbst in seinem Selbstbild und seinen Grenzen intakt lässt. Ich sage nicht, die Effekte dieser Flüchtlingsarbeit sind falsch oder unwichtig. Aber bei allem Respekt dafür finde ich, dass es eine Reihe von Schwierigkeiten gibt, die nicht reflektiert werden.