arranca!: ¿Wie ist euer Blick auf die aktuellen Aufstände?
Mila: Die Aufstände auf dem nordafrikanischen Kontinent, im Nahen Osten, das war das letzte, was die Menschen im Westen und die Linke erwartet haben. Ich als iranische Linke finde die Ereignisse in dieser Region, unter anderem auch im Iran, sehr wichtig. Es ist eine bedeutende Entwicklung, dass in der ganzen Region Kämpfe für Demokratie und Bürgerrechte angefangen haben. Die Menschen gehen für ihre Rechte, auch ihre sozialen Rechte auf die Straße, das ist hier wenig beachtet worden. Diese Ereignisse haben unser Bild von den Sozialen Bewegungen dort stark verändert.
Hans-Peter: Wir erleben eine der großartigsten politischen Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre. Der Aufstand in Tunesien wurde in der gesamten arabischen Welt zu einem Ereignis, das neue Möglichkeiten eröffnete. Die Rebellion in Tunesien inspirierte die Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo, aber auch die ersten Proteste in Bengasi, in Bahrain, in Jemen und in Syrien. Die jetzt beginnende Zeit könnte eine ähnliche Bedeutung erlangen wie die der lateinamerikanischen Revolutionen. Trotz der Unterschiede in ihrer Artikulation gibt es einen Punkt, der die Revolten vereint: der jahrzehntealte Bann der Angst konnte gebrochen werden. Es beginnt ein neues Zeitalter der Kämpfe, in dem wie selbstverständlich die Freiheits- und Bürgerrechte gefordert werden.
¿Wer ist diese Opposition, wer sind die Kämpfenden? Wie setzen sie sich zusammen und vor allem, wofür kämpfen sie?
Hans-Peter: Ich finde es nur in zweiter Linie entscheidend zu fragen, welche politischen Interessen die Revoltierenden in Daraa oder Bengasi haben. Wichtiger ist zu sehen, wie gerechtfertigt diese Aufstände sind: Alles was höchstwahrscheinlich kommen könnte, verspricht besser zu sein als eine Vergangenheit, die jahrzehntelang wie Blei auf den arabischen Gesellschaften lag. Jetzt aber nimmt die Straße den Prozess der Demokratisierung in die Hand. Der letzte Herrscher, der aus dem Land gejagt werden konnte, war der Schah im Iran. Heute, 32 Jahre später, wurde es wieder aus eigener Kraft möglich. Von Beginn an stellten die Aufstände die herrschenden Cliquen grundsätzlich in Frage. In der arabischen Region war alles, was es an Zugeständnissen seitens der Macht gab, immer nur Ergebnis von Revolten. Gab es einen Brotaufstand, wurde der Brotpreis gedrückt. Aber was in der Vergangenheit noch abgefedert und abgekauft werden konnte, wurde jetzt – quasi über Nacht – politisch unumkehrbar. Die Forderung lautet: „Haut ab! Wir können unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen!“ Die Menge eroberte sich ihren eigenen Begriff des Machtwechsels und definierte ihre Vorstellung von Freiheit und Partizipation. Darin liegt etwas Großes, das vielleicht niedergeschlagen und besiegt, aber nicht mehr ausgelöscht werden kann.
Mila: Was sich in Iran vor 32 Jahren ereignet hat, war keine „islamische Revolution“. Die Linke und demokratische Kräfte haben beim jahrelangen Kampf um den Sturz der Schah-Diktatur eine große Rolle gespielt. Die Gefahr des Islamismus, der letztendlich Einzug gehalten hat, wurde dabei nicht ernst genommen.
Wenn man die Ereignisse von heute mit dem Kampf vor 32 Jahren vergleicht, stellt man fest, dass es sich dabei um den Aufstand einer Generation handelt, nicht um den einer Opposition. Auch in Iran ist heute eine neue Generation aktiv, die ihre Forderungen und Bedürfnisse anders artikuliert als wir damals. Für uns hieß das unmittelbare Ziel: Sozialismus. Dabei waren Frauenrechte kein Thema, die Durchsetzung der Zwangsverschleierung war egal. Die Generation, die jetzt auf die Straße geht, artikuliert Forderungen aus sozioökonomischen Situationen heraus, sie handelt nicht ideologisch wie die erste Generation.
Ich bin davon überzeugt, dass sich eine selbstorganisierte Opposition aus diesem Prozess heraus bilden wird. Es gibt keine Organisation, die die Aufstände plante. Ich finde es falsch, wenn in den westlichen – und selbst in den linken – Medien behauptet wird, dass die Proteste, die sich über Twitter und Facebook verbreitern, keine sozialrechtlichen Forderungen hätten, sondern es eine gutgestellte und pro-westliche Mittelschicht sei, die auf die Straße geht und protestiert.
Als Iranerin, als Linke, denke ich, dass wir mit unseren Mitstreiter_innen in anderen Ländern, wie in Ägypten solidarisch sein müssen. Dort wurden den Frauen, die am 8. März diesen Jahres auf den Tahir-Platz gegangen sind, von den Männern die Plakate zerrissen und sie wurden nach Hause geschickt. Wir als Linke müssen die Situation gleichermaßen solidarisch und kritisch beobachten, damit die Macht nicht erneut von reaktionären Kräften ergriffen wird. Der historische Vergleich drängt sich auf, denn die Unterdrückung der Frauen in Iran wurde unmittelbar nach der Revolution begonnen. Gleichzeitig wurde der Weg zu Repression in allen gesellschaftlichen Bereichen geebnet.
¿Hans-Peter, du hast die Besonderheiten dieser Ereignisse unterstrichen, indem du die Umwälzungen im arabischen Raum mit den revolutionären Prozessen in Südamerika verglichen hast. Was ist aber das Spezifische für die Entwicklungen im arabischen Raum?
Hans-Peter: Im Unterschied zu den lateinamerikanischen Revolutionen gibt es in den arabischen Aufständen weder die hegemoniale Partei, noch den klassischen politischen Führer oder ein Hauptquartier. Allein die Menge artikuliert sich und ihre unmittelbare Mobilisierung erfolgt nicht nur, aber auch mittels neuer sozialer Medien. Es ist nichts Verwerfliches, sich der Technologie zu bemächtigen, die vorhanden ist. Neue Medien schaffen auch neue Gesellschaften. Die alte arabische Linke nahm Druckerpresse und Flugblätter, Nasser wandte sich im Radio an die arabischen Massen, Khomeinis Worte wurden mittels kopierter Kassetten verbreitet, der politische Islamismus nutzte Webseiten und Videobotschaften, die aktuellen Kämpfe verabreden sich in kommunitären und dezentralen Vernetzungen. Ihre Aktivisten umgehen die traditionellen Medien und organisieren sich so ihren eigenen Platz der virtuellen und realen Versammlung. Damit ist auch eine völlig eigene und autonome Öffentlichkeit von unten entstanden. Heute sind Demonstrationen keine staatlich organisierten Aufmärsche mehr, sondern in ihnen formiert sich wirkliche Gesellschaft.
¿Ist das aus eurer Perspektive ein neues Internationalismus-Verständnis? Ihr lasst die Offenheit zu, ihr seid solidarisch, ohne zu wissen, in welche Richtung sich diese Bewegung formiert, ihr erkennt den Prozess der Bewegung an, nicht die Programmatik zählt. Das unterscheidet sich doch enorm von euren Solidaritätsverständnissen von früher, oder?
Mila: Ich komme aus einer Linken, die sehr viel Wert auf eine klassenkämpferische Auseinandersetzung gelegt hat, für die Einforderung von Frauenrechten war da beispielsweise kein Raum. Aus meiner Perspektive von vor 30 Jahren wäre es in erster Linie wichtig gewesen zu klären, ob die Arbeiterklasse die treibende Kraft der Auseinandersetzung ist. Heute kann ich mit Erleichterung sagen, dass die Angst davor, sich zu wehren, gebrochen ist: – Die Menschen lassen eine Person wie Mubarak nicht mehr zu. Die Demokratiebewegung geht weiter und braucht die internationale Unterstützung der Linken aus aller Welt.
Es gibt aber leider immer noch Linke, die die antiamerikanischen Parolen der politischen Führungselite in Iran für „antiimperialistisch“ halten und ein Regime wie die islamische Republik Iran unterstützt, das soziale Bewegungen niederschlägt.
Hans-Peter: Es gab eine schlechte Tradition, in der Linke immer nur nach ihrer Bruder- oder Schwesterorganisation guckten oder die Anzahl von Arbeitern in Kämpfen zu ihrem alleinigen Klassenkompass machten. Radikale Linke haben sich richtigerweise auf der Seite der globalen Erhebung im Süden verortet, in einer progressiven Front mit den nationalen Befreiungskämpfen, gemeinsam mit den sozialen Kämpfen. – und das völlig unabhängig davon, wie man konkret die Rolle des östlichen Blocks und der Sowjetunion bewertete. Die eigentliche Selbstverständlichkeit, dass unsere linken internationalistischen Werte nur universell gelten können, machen die arabischen Aufstände wieder zum Punkt. Überhaupt würde ich sagen, dass wir in Europa uns eher als Lernende dieser Kämpfe sehen sollten.
¿Es kommt nicht von ungefähr, dass wir als FelS gerade keine internationalistische Arbeit oder Arbeit im Feld der globalisierungskritischen Bewegungen in dem Sinne machen, als dass wir uns mit anderen Ländern und deren Kämpfen auseinandersetzen. Wir haben keine Bruder- und Schwesterorganisationen in anderen Ländern, zu den Auseinandersetzungen im arabischen Raum haben wir kaum Debatten geführt und keine Ansätze der praktischen Solidaritätsarbeit. Zu den Aufständen aktuell gibt es in der Linken ein großes Schweigen.
Mila: Ich denke, der Aufstand hätte andere Unterstützung verdient als von hier geleistet wurde. Es gab kleine Veranstaltungen, aber das war es auch schon. Hier sind Migrant_innen aus Syrien auf die Straße gegangen, aber sie haben kaum Unterstützung gefunden. Libyen wird, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit dem Krieg thematisiert. Die Bevölkerung verdient in ihren Kämpfen Unterstützung. Sie sind jahrelang niedergeschlagen, inhaftiert, gefoltert und ins Gefängnis gesteckt worden, danach wird nicht gefragt. Die kämpfende Bevölkerung vor Ort muss unterstützt werden. Als internationalistische Linke sagen wir „kein Krieg“, aber was wir sagen müssten, nämlich „kein Dulden der Gefangenschaft, der Folter, der Zerschlagung der sozialen Bewegungen“, das sagen wir nicht. Wir sind nicht solidarisch genug mit der Bevölkerung in Nordafrika.
Hans-Peter: Die konkrete Leerstelle hat sicher etwas damit zu tun, in welcher Region dieser Welt der Aufstand stattfindet. Würde ein ähnlicher Prozess im lateinamerikanischen Raum stattfinden, wäre die Solidarität ungleich präsenter. Die aktuellen linken Politiken in Lateinamerika spielen in der globalisierungskritischen Bewegung eine zentrale Rolle. Die Linke im arabischen Raum ist zu marginalisiert. Das anfängliche Schweigen hat sicher auch mit dem Kulturalismus in der deutschen radikalen Linken zu tun. Ihr Bild des arabischen Raums, überhaupt ihre Wahrnehmung der Kämpfe, wurde schnell allein im Verhältnis zu Israel interpretiert. Im dortigen Aktivisten wurde erstmal immer der potentielle Gotteskrieger und Selbstmordattentäter gesehen und fast nie ein soziales Subjekt möglicher Revolten.
Mila: Eigentlich müsste Internationalismus universelle Werte und Maßstäbe haben. Im Verhältnis der deutschen Linken zu Protestbewegungen und sozialen Bewegungen in Lateinamerika gibt es diese internationalistischen Werte auch. Aber in Bezug auf den Nahen und Mittleren Osten werden die Bewegungen sehr staatsfixiert betrachtet, man schaut, wie sie zu Israel stehen. Dabei ist es eine neue Generation, die auf die Straße geht. Die Antideutschen haben versucht, unsere Kämpfe zu vereinnahmen, weil wir gegen die Islamische Republik sind, aus anderen Gründen als sie selbst. Und die anderen Linken fragen nur, wie du zum Imperialismus stehst. Ich sage das als Teil der iranischen Opposition in Berlin. Immer, wenn wir Iran kritisieren, fühlen wir uns verpflichtet, zu sagen, dass wir einen Krieg gegen Iran kategorisch ablehnen. Wir stehen genau zwischen diesen zwei linken Meinungen. In Bezug auf Iran und den Nahen Osten ist der Internationalismus sehr gestört. Leider.
¿Der Begriff Imperialismus fiel jetzt ja schon ein paar Mal. Er ist in den Siebzigern stark auf die Blockkonfrontation bezogen gewesen, dann hat es scharfe Kritik an ihm gegeben und zum Teil auch sehr schnelle Gleichsetzungen von Antiimperialismus mit Antiamerikanismus. Denkt ihr, dass es wichtig ist, da neue Diskussionen anzustoßen und neue Theoriearbeit zu leisten?
Hans-Peter: Man sollte nicht versuchen, den Begriff des revolutionären Antiimperialismus oder der internationalen Solidarität aus den siebziger und achtziger Jahren linear ins Heute zu retten. Das endet oft nur in skurrilen Erklärungen. Die gegenwärtigen Weltverhältnisse sind dennoch so, dass sie weiterhin einen radikalen Internationalismus verlangen, der subjektiv mit den Privilegien der Metropole bricht und objektiv die Chance auf eine Umwälzung beinhaltet. Die arabischen Aufstände haben die Möglichkeit eines Bruchs mit den herrschenden Verhältnissen, der unerwartet und sogar massenhaft erfolgen kann, in der Praxis aktualisiert. Auch daher ist die öfter zu hörende linke Frage, ob die Entwicklung ähnlich wie in Iran nach Sturz des Schahs 1979 verlaufen könnte, falsch gestellt. In der iranischen Revolution gab es uneingelöste Versprechen und Hoffnungen, heute liegt in der arabischen Welt die empirische Erfahrung mit dem politischen Islam als autoritäre Herrschaftsform vor. Wir sollten endlich wieder allen zurufen: Wenn sich Menschen gegen Unterdrückung widersetzen, sind wir prinzipiell mit ihnen zusammen, wir entdecken uns selbst in ihnen, anstatt sofort die Differenz zu beschreiben. Diese Diskussion um Solidarität hat ein neues Gegenüber gefunden, in dem sich auch ein neues Verständnis des Empires und globalen Ausnahmezustands entwickeln lässt.
Mila: Die Menschenrechte sind in Ländern wie Tunesien und Libyen lebenswichtig, man sollte die Forderungen danach unbedingt unterstützen. Es muss den Menschen und den sozialen Bewegungen dort erst ermöglicht werden, die Machtverhältnisse zu verändern. Das alles wurde bürgerlichen Menschenrechtsorganisationen überlassen, es kam im Laufe der Zeit kein Kontakt zu den sozialen Bewegungen zustande. Man hat auf eine Arbeiter_innenbewegung gewartet, um sich dann mit ihr zu solidarisieren, anstatt sich mit den Menschenrechtsaktivist_innen zu solidarisieren und auf dieser Basis Zusammenarbeit und Austausch zu leisten. Und das vermissen wir immer noch. Letztes Jahr haben wir eine Veranstaltung vor der iranischen Botschaft gemacht und sind von der deutschen Polizei brutal angegriffen worden, weil wir – wie seit zwei Jahrzehnten – ein Plakat mit der Aufschrift „Nieder mit der Islamischen Republik Iran“ getragen haben. Auf einmal sollte das verboten sein. Und wir haben keine Solidarität hier erfahren, obwohl viele Medien über uns berichtet haben. Du bist weder dort noch hier als eine Opposition aus dieser Region sichtbar. Eine lateinamerikanische oppositionelle Gruppe hätte man hingegen nicht übersehen.
¿So gesehen ist das eine neue Chance für die Linke, Anknüpfungspunkte zu finden. Was heißt das aber konkret praktisch? Was gibt es für Praxisformen?
Mila: In den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden in Iran insgesamt 200 Menschen hingerichtet, unter ihnen mehr als zehn politische Gefangene. Ich könnte mir vorstellen, dass deutsche Linke die politischen Gefangenen in Iran mit einer Kampagne unterstützen könnten. Der Prozess der Demokratisierung soll durch eine Atmosphäre der Angst gestoppt werden, dazu dienen die Hinrichtungen. Man kann gemeinsame Veranstaltungen machen, Themen aufgreifen, sich näher kommen. Wir müssen gemeinsam nach Wegen suchen, die sozialen Bewegungen international zu unterstützen. Nicht abstrakt, sondern über gegenseitiges Kennenlernen. Das fehlt. Nur darüber zu reden, dass wir die Aufstände in Nordafrika unterstützen, reicht nicht. Wir müssen zuerst als linke Kleingruppen in Deutschland und dann europaweit zusammenkommen, dann mit den Oppositionsgruppen und mit den Menschenrechtsgruppen aus den jeweiligen Ländern. Das ist ein langfristiger Prozess.
Hans-Peter: Ich fand es bezeichnend, dass auf den Demonstrationen nach dem israelischen Überfall auf die Gaza-Freiheitsflotte mehr Genoss_innen auf der Straße waren als bei den bisherigen Solidaritätskundgebungen mit den arabischen Rebellionen. Die Kämpfe von Genua liegen fast genau zehn Jahre zurück. Der Bewegung ging es seitdem immer auch um die Herausforderung von Herrschaftsstrukturen und nie allein darum, sie nur anzuklagen. Wenn eine andere Welt möglich sein soll, ist es die Aufgabe radikaler Linker, neue Artikulationsideen und Widerstandspraxen zu erproben. Genau das ereignet sich in der arabischen Welt heute. Einiges mag anders sein, aber die Ausdrucksformen sind uns als undogmatische Linke so nah, auch wenn sie in der Vergangenheit fast diskreditiert schienen: Das unbedingte Primat der Straße, die Rolle des Volksaufstands, das Forum der Menge. Darüber sollten wir reden, öffentlich auf Veranstaltungen, aber auch in unseren eigenen politischen Gruppen. In der Region sollten wir Kontakte suchen und uns vernetzen. Dass dies sofort auch eine innenpolitische Auseinandersetzung ist, zeigt die Frage nach dem Islam in den europäischen Gesellschaften, nach Rassismus und Chauvinismus.