„Die Verbindung mit denen, die vor uns am Werk gewesen waren, war immer gleichbedeutend mit einer Eröffnung des Wegs ins Zukünftige. In diesem Sinn sind wir Traditionalisten, sagte Katz. An nichts Kommendes können wir glauben, wenn wir Vergangenes nicht zu würdigen wissen.“
Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands
Beginnen wir sozusagen mit einem doppelten Zitat. Mit dieser lakonischen Einstimmung begann nämlich 1991 ebenfalls der Text „Die Autonomen machen keine Fehler, sie sind der Fehler!!!“ (Autorenkollektiv Heinz Schenk). Der damals in Zeiten relativer Stärke der autonomen Bewegung provokante Titel war im Stil einer Endabrechnung formuliert, wurde aber auch von vielen Autonomen als radikale Manöver(Selbst-)kritik genutzt. So übernehmen wir mit diesem Artikel zwanzig Jahre später das Staffelholz und fragen, was an der Kritik angesichts erfolgreicher linker Massenmobilisierungen in Heiligendamm, Dresden und im Wendland zwischenzeitlich stattgefundenen Bewegungs-„Zeitenwende“ noch aktuell ist? Welche Bedeutung haben die Kernkritikpunkte der Autoren – Militanzfetisch, Organisierungsfeindlichkeit, Theorie- und Geschichtslosigkeit und bündnis- und somit gesellschaftsunfähige Selbstghettoisierung – heute noch?
Wir beziehen uns in unseren Ausführungen exemplarisch auf die derzeitigen Anti-Atomkämpfe, speziell auf die Auseinandersetzungen über das Konzept des „Castor-Schotterns“. Denn scheinbar vermittelt sich hier besonders stark der Eindruck, es habe sich in den letzten zwanzig Jahren einiges getan: Autonome und postautonome Gruppen überwinden die trennenden Gräben und einigen sich auf einen Aktionskonsens, binden neue Gruppen ein, vermitteln Erfahrungen und verfeinern das kollektive Aktions-Know-how. Dies wird im Vorfeld, während und nach der Aktion offensiv vermittelt; der ehemalige Feind (Kameramann-Arschloch) wird strategisch als wichtiger Verstärker eingebunden. Wie kam es dazu und was sind die Grenzen?
Kameramann? Öffentlichkeit! Ghetto? Gesellschaft!
Auf dem autonomen Kongress 2009 in Hamburg kritisierten wir bewusst provokant aber solidarisch, dass Autonome nach wie vor eher selten in Bündnissen auftauchen und wenn, dann mehr nutznießend anstatt sich aktiv und konstruktiv einzubringen. Dabei sind sie alleine längst nicht mehr handlungsfähig, brauchen also eigentlich immer Rückendeckung durch die Restbewegung, was oftmals zu einem gewissen instrumentellen Verhältnis zu anderen Akteuren führt. Dahinter steht ein Politikverständnis, das wie ein Überbleibsel der K-Gruppen anmutet: Die Vorstellung, dass die eigene politische Linie (revolutionär, militant, autonom) die einzige richtige ist und dass alle anderen Spektren (ob sie sich nun durch Inhalte, Organisations- oder Aktionsformen unterscheiden) überflüssig oder sogar Gegner (zum Beispiel Reformisten) sind. Autonome sind freilich kein homogener Block. So wurde diese Kritik auch als Selbstkritik von einigen Gruppen bestätigt, wenngleich in unterschiedlicher Schärfe und mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen.
Diese Kritik ist zumindest in Bezug auf die Erfahrung mit autonomen Gruppen im Schotterbündnis so pauschal nicht aufrecht zu erhalten. Das Schottern-Bündnis hat zwar so manche Belastungsprobe aushalten müssen und oft überwog bei uns der Verdruss darüber, dass zum Beispiel hartnäckig auf Parteienausschluss bestanden wurde. Für uns stellt eine Parteienbeteiligung einen Indikator für eine erfolgreiche Linksverschiebung innerhalb der Gesellschaft (wovon Parteien ein Teil sind) dar, für autonome Gruppen gilt dies nach wie vor oft als Überschreitung eines Grundprinzips. Dennoch haben wir eine bewusste strategische Neuausrichtung erlebt.
Viele Autonome hatten ihre Schotter-Erfahrungen der letzten Transporte als nur noch begrenzt erfolgreich erlebt und suchten im Schulterschluss mit der Massen-Blockade-Praxis der Interventionistischen Linken und anderer Gruppen einen naheliegenden Ausweg aus der Marginalität. Und so konnte in der Schotter-Mobilisierung, im Verschmelzen „autonomer Aktion“ und „interventionistischer Bündnisorientierung“ eine gute gemeinsame Erfahrung gemacht werden: Eine andere, demokratische und plurale Gesellschaft jenseits des Kapitalismus wurde so ansatzweise schon heute in unserer Bewegung repräsentiert.
Die erfolgreiche gemeinsame Schotter-Aktion beruhte auf dem Synergieeffekt zweier Faktoren: Erstens auf gezielter Öffentlichkeitsarbeit, für die eine Einbettung und Anbindung beispielsweise über ein Bündnis wichtig ist und zweitens auf dem konkreten Druck der Straße, der durch die öffentlichen Aktionsankündigungen selbst entstand. Die im Anschluss an den Castor artikulierte Kritik an der Pressearbeit bezog sich nur auf Detail- und Formulierungsfragen, stellte die Kommunikation mit den MedienvertreterInnen jedoch nicht mehr grundsätzlich in Frage.
Riot? Radikalisierung!
Ebenfalls kritisierten wir im Rahmen des autonom-Kongress 2009 in Hamburg eine ungebrochen dogmatische Militanz-Fixierung, die eine wirksame Radikalisierung gesellschaftlicher Konflikte durch pseudo-radikale Selbstinszenierung ersetzt. Anstatt die Kommunikation mit anderen Teilen der Gesellschaft zu entwickeln und danach zu fragen, an welchen Stellen es möglich sein könnte, mehr Leute zu erreichen und einzubinden, geht es mehr darum, sich in der eigenen Szene-Identität und Abgrenzung zu gefallen. Selbst in eigenen Szeneveröffentlichungen und auch bei dem Kongress wurde dies mehrheitlich als wichtige (Selbst-)Kritik aufgenommen. Radikalität ist so nur Schein bzw. Selbstzweck und verstellt die Perspektive auf Radikalisierung als Prozess kämpferischer Bewegungen. Es gibt kaum eine Vorstellung davon, was mit Krawall erreicht bzw. durchgesetzt werden soll. Statt einer kollektiven dominiert eine rein lustmäßige und individualistische Bestimmung. Heinz Schenk lässt grüßen.
Demgegenüber wollen wir uns mit möglichst großen Teilen der Gesellschaft, Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen in praktischen politischen Prozessen auseinandersetzen, um mehr Menschen für den Kampf für eine grundsätzliche Aufhebung der gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse zu gewinnen. Die Aufgabe von RevolutionärInnen in gesellschaftlichen Konflikten ist dabei „die qualitative Veränderung des Konflikts“. Das bedeutet seine Radikalisierung. Dazu ist einerseits die Anschlussfähigkeit an andere gesellschaftliche Gruppen in einem Konflikt nötig, aber eben auch eine Zuspitzung der Auseinandersetzung. Anschlussfähigkeit als Selbstzweck bedeutet freilich Opportunismus. Dies wird lästigerweise oft und gern als Pauschalvorwurf gegen uns in Stellung gebracht.
Radikalisierung bedeutet jedoch nicht, ständig möglichst heftig auf die Tonne zu hauen, sondern erfordert eine Markierung politischer Konfliktlinien entlang von zwei Maßgaben: Zum einen muss es um Politisierung gehen, also darum, die von Protestgruppen oft nur pragmatisch und punktuell gestellten Fragen und Forderungen auf die grundlegenden Herrschaftsstrukturen, gegensätzlichen Interessen und tiefer gehenden Widerspruchslinien zurückzuführen. Zweitens ist Selbstermächtigung ein zentraler Punkt. Es geht um die aktive Gestaltung eigener Interessen und darum, sich von Autoritäts- und Staatsfurcht zu lösen und die eigenen Geschicke selbstbestimmt in die Hand zu nehmen.
In gemeinsamer Anstrengung mit den autonomen Gruppen im Schotterbündnis ist es erfreulich gut gelungen, Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen und Altersgruppen, aus Großstädten genauso wie aus ländlichen Gebieten, über ein halbes Jahr verlässlich in die Kampagnenarbeit einzubinden. Die Tatsache, dass wir im direkten Ergebnis davon selbstbewusst und erfolgreich einen ganzen Tag lang mehrere Polizeiketten überwunden haben und immer wieder an die Gleise gelangten, belegt diesen großen Erfolg anschaulich.
Umso erstaunlicher fanden wir die im Nachklapp aufbrandende Kritik, wir hätten mit diesem Konzept Leute verheizt und verschreckt. Kritisiert wurde, dass wir den Bullen trotz der großen Anzahl Beteiligter (immerhin 4000) nicht genug Paroli geboten hätten und viele Leute durch die „pazifistische“ Grundausrichtung heftige körperliche und seelische Verletzungen hätten „hinnehmen“ müssen. Dies ist ein Vorwurf, den wir sehr ernst nehmen, dessen Kernelemente wir jedoch nicht teilen.
In der Energiepolitik verdichten sich die bestehenden gesellschaftlichen Grundkonfliktlinien (die Fragen nach Entscheidungsgewalt und Güterverteilung) nahezu idealtypisch. Einer bestehenden politischen Ordnung den Kampf anzusagen kann von daher schon kein Kindergeburtstag sein. Als wir mit einer öffentlichen und praktischen Kampfansage des Schotterns in den Konflikt hineingingen, mussten wir selbstverständlich mit einer massiven Reaktion rechnen. Gleichzeitig gibt es bei Repression keinen Automatismus, die Qualität unterliegt einer politischen Abwägung, so wirkt sich eine Einbettung in bürgerliche Bündnisse häufig positiv aus. Auch aus diesem Grunde wurde dem Bündniszusammenhalt sehr viel Bedeutung beigemessen.
Es scheint bei einigen nicht präsent zu sein, dass ein politischer Konflikt – ob in weißen Overalls ausgetragen oder nicht – irgendwann in eine physische Dimension umschlägt. Dem können wir nun entweder aus dem Weg gehen (nein, niemals!) oder uns darauf vorbereiten. Und letzteres ist immer unser Ziel.
Es ist nämlich schlicht fatal, die Illusion zu nähren, wir könnten so etwas wie Schottern planen und offen dazu aufrufen, um das Ganze dann relaxt als kuscheligen Waldspaziergang abzuwickeln. Die Frage ist also letztlich, wie Repression wirkt, ob sie demoralisiert, erniedrigt und frustriert oder ob sie kollektiv aufgefangen und so gepuffert wird. Und entgegen des Vorwurfs des „Verheizens“ sollten wir die besondere Radikalität des Schotterns als Pluspunkt verbuchen. Im Vorfeld war immer und immer wieder deutlich gemacht worden, dass es nicht möglich sein würde, ganz unbehelligt auf die Schienen und wieder zurückzukommen. Das Ziel war eine erfolgreiche Aktion – trotz Repressionsdrohung! Dabei musste es aber schon im Vorfeld darum gehen, möglichst vielen Menschen die Angst vor der physischen Komponente des politischen Konflikts zu nehmen. Ziel war es, einer bunten Menge mit sehr unterschiedlichen politischen Biographien eine Konzeptidee für ein konfrontatives, aber gemeinsames Verhalten anzubieten. Denn gerade unter dem Eindruck einer sehr direkten Auseinandersetzung werden sonst Frust- und Ohnmachtserfahrungen gesammelt – das genaue Gegenteil von der in autonomen Auswertungen beschworenen Selbstbestimmung. Speziell vor diesem Hintergrund haben wir demnach versucht, die autonome Selbstkritik (!) an ritualisierter, kaum organisierter und unkontrollierter Mackermilitanz aufzunehmen und den oben skizzier-ten Radikalitätsbegriff zu entwickeln.
Das Radikale am Schottern war gerade, dass die Beteiligten schon im Vorfeld recht genau wussten, auf welche Auseinandersetzung sie sich einlassen. Das hat nichts Heroisches und lässt wenig Raum für Einzelkämpfer. Im Gegensatz zu manchem pseudo-rebellischen Kiez-Riot waren im Wendland jedoch eine klare Richtung und ein klarer Ausdruck jederzeit erkennbar; die Zusammenstöße waren schmerzhaft, aber kalkulierbar und über eine bestehende und geübte Delegierten-Struktur war ein Gefühl realer Beeinflussbarkeit des Geschehens gegeben.
In der Rückschau überwiegen für uns also die positiven Erfahrungen von Solidarität und Kollektivität und das Empfinden, dass sich die Beteiligten weitestgehend auf den Aktionszusammenhang verlassen konnten. Zusammenfassend betrachten wir die Ansätze zu einer neuen gemeinsamen Bewegungsstärke, wie sie im Rahmen der Schottern-Erfahrung gemacht wurden als positiven Meilenstein – genügend Anlass für Vertiefung und Weiterentwicklung bleibt jedoch erhalten.