Die anhaltende Medienpräsenz von Pokémon Go war dabei das Resultat einer geschickten Marketing-Kampagne und dem Nostalgie-Faktor des Spiels geschuldet. Die von dem Unternehmen Niantic entwickelte App hält sich jedoch auch so hartnäckig in den Feuilletons und Kommentarspalten, da sich in ihr bereits existente Ängste hinsichtlich der Zukunft von Technologie, Spiel und Politik bündeln. Pokémon Go gestaltet eine Spielwelt, in der es um die endlose Akkumulation von Monstern, deren steter Verbesserung und Entwicklung und den konstanten Wettbewerb zwischen verschiedenen Spielfraktionen geht. Es greift intensiv auf Umgebungs- und Bewegungsdaten zu und ermuntert zum Eintauschen von echtem Geld in die Spielwährung. Diese Spiel-Logik projiziert das Programm auf die echte Welt («Augmented Reality») und mischt so Spielwelt und Realität.

Was ist Pokémon Go?

Pokémon Go wurde 2016 von dem ehemaligen Google-Ableger Niantic in Kooperation mit der Pokémon Company entwickelt. Es basiert in weiten Teilen auf dem 2013 von Niantic veröffentlichten Augmented-Reality-Game Ingress und dessen Karten-System. Pokémon Go nutzt Google-Maps, um die Umgebungs- und Bewegungsdaten der Spieler*innen abzufragen und Fantasie-Monster (Pokémon) in ihrer Nähe zu verteilen. Diese können –sobald sie ihnen nah genug sind – in einer kurzen Sequenz per Finger-Wisch gefangen werden. Das Spiel hat zudem feste «Pokéstops» an spezifischen Orten verteilt, an denen Erfahrungspunkte und hilfreiche Gegenstände gesammelt werden können. In Arenen, die ebenfalls geographisch verteilt sind, wird mit Pokémon um die Zughörigkeit der Arena zu einer von drei Fraktionen gekämpft. Pokémon lassen sich trainieren, indem mehr Pokémon gesammelt werden. In einem Online-Shop können mit der Spielwährung Gegenstände erworben werden, die das Fangen erleichtern. Die Spielwährung wird durch Erobern und Halten von Arenen verdient, oder direkt mit echtem Geld gekauft: 100 «Pokémünzen» für 0,99 Euro.

Pikachu und die Kontrollgesellschaft

1990, im Postskriptum über die Kontrollgesellschaft, schreibt Gilles Deleuze über die neue Qualität der Herrschaft im ausgehenden 20. Jahrhundert als «ultra-schnelle Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen». Für das mediale Kommentariat scheint Pokémon Go eben diese Herrschaftsform zu perfektionieren. Diese Online-Intelligenzija bedient einen apokalyptischen Ton, der Bilder von vollends infantilisierten Massen auf der Suche nach den Fantasie-Monstern ihrer Jugend beschwört. Sie prognostiziert die absolute Kontrolle, die Auflösung von Demonstrationen durch strategisches Verteilen von seltenen Pokémon und die automatisierte Steuerung des Konsumverhaltens durch geplante Distribution von Pokéstops und Pokémon-Arenen. In der Gamification der Lebenswelt entmündigen die Spieler*innen sich allem Anschein nach freiwillig und geben ihre politische Handlungsfähigkeit im Tausch für Erfahrungspunkte auf.

Diese Sorgen um die Effekte und Funktionen von Computerspielen sind nicht neu. Denn ähnlich wie schon die in den 1990er Jahren geführte «Killerspiel»-Debatte, liegt auch dieser Kulturkritik ein zutiefst mediendeterministisches Verständnis zugrunde: Das Publikum der Spiele absorbiert die Inhalte passiv, ihre Interpretations- und Rezeptionsleistung sind unbedeutend. Das heißt nicht, dass die Auseinandersetzung mit den politischen Funktionen und gesellschaftlichen Effekten von Computerspielen überflüssig wäre – ganz im Gegenteil. Die Allgegenwärtigkeit von mobilen Spielen, die Übertragung von Spielmechanismen wie Punktesysteme und Wettbewerbe auf Arbeit und Didaktik («Gamification») und die vermeintliche neue Form der Spielerfahrungen, welche Virtual Reality-Brillen versprechen, machen kritische Analyse so notwendig wie nie zuvor. Die Rezeption der Spiele und deren mögliche politische Wendung durch Spieler*innen muss dabei allerdings fest im Blick behalten werden. Denn wenn wir Technologie eine in diesem Maße determinierende Rolle zugestehen, ignorieren wir existierende politische Interventionen und überlassen einer herrschaftskritischen Position keine Handlungsmöglichkeiten, außer der digitalen Verweigerung oder dem technikfeindlichem Maschinensturm.

Politische Spiele: Geschichten und Regeln

Die meisten Computerspiele erzählen Geschichten. Die allermeisten Computerspiele erzählen zudem sehr ähnliche Geschichten: Weißer, 30-jähriger Mann mit Bart rettet verschleppte Frau oder hilft verlorener Frau oder rächt verstorbene Frau. Feministische Stimmen, wie die der Pop-Akademikerin Anita Sarkeesian, greifen an dieser Stelle kritisch in den Diskurs ein. In YouTube-Videos analysiert sie die Darstellungen von Geschlecht und Sexualität in Videospielen und benennt deren gewohnheitsmäßigen Sexismus als gesellschaftliches Problem – teilweise gegen heftigen Widerstand der Online-Community. Warum müssen Frauen so oft gerettet werden? Weshalb sind circa 80 Prozent der Protagonist*innen weiße Typen? Wie kann ein Kettenhemd-Bikini eine halbnackte Kriegerin auf dem Schlachtfeld überhaupt beschützen? Auf Websites wie Not Your Mama’s Gamer oder Fat, Ugly Or Slutty finden sich feministische Spieler*innen zusammen, welche die Narrative und Repräsentationen der Spiele als Ausdruck politischer Verhältnisse verstehen, die auch das Fundament für eine frauenfeindliche, homophobe und rassistische Gamer-Community legen. Mit Videos und Analysen von Spielinhalten, aber auch mit der Dokumentation verbaler Bedrohungen durch andere Spieler*innen versuchen sie, feministischen Anliegen in der Spieler*innenszene Gehör zu verschaffen und Raum für neue Geschlechterbilder zu schaffen.

Die Analyse von Geschichten und Bildern ist ein wichtiges Werkzeug zur Kritik und Intervention in Populärkultur. Spiele gehen jedoch über diese sogenannte narrative Ebene hinaus. «Wenn ich dir einen Ball zuwerfe, erwarte ich nicht, dass du ihn fallen lässt und abwartest bis er dir eine Geschichte erzählt», schreibt Markku Eskelinen in The Gaming Situation. Jenseits von Narration bieten Spiele vor allem eine durch Spielregeln strukturierte Ordnung. Paolo Pedercini und sein Entwicklungs-Studio Molleindustria nutzen eben diese Ordnung und Regelhaftigkeit der Spielwelt, um politische und ökonomische Prozesse erfahrbar zu machen. Sein im Mai 2016 veröffentlichtes Spiel Nova Alea versetzt die Spieler*innen in die Rolle eines Immobilienspekulanten in einer abstrakten Stadt. Grundstücke gewinnen zyklisch an Wert und müssen kurz vorm Platzen der Spekulationsblasen verkauft werden. Mietpreisbremsen und Selbstorganisation unsichtbarer Anwohner*innen stellen Hindernisse zum Erfolg dar. Anna Anthropys Spiel Dys4ia versucht, den Transitionsprozess der Autorin in eine Reihe kurzer Spielvignetten zu übersetzen. In Dys4ia werden Sexismus und Transphobie in Form kurzer Puzzlespiele auf eigene Art erfahrbar. Pedercini und Anthropy formulieren Kritiken an Kapitalismus und Heterosexismus, indem sie gesellschaftliche Prozesse und politische Dynamiken als Regelwerke und Ordnungen abbilden, welche im Spiel erkundet werden können. Dazu nutzen sie, und andere, teilweise simple und inzwischen kostenlose Werkzeuge zur Spieleentwicklung oder zur Modifikation von bereits existierenden Spielen.

Für Sarkeesian, Anthropy, Pedercini und weite Teile der Gaming-Community ist klar, dass Spiele eine politische Bedeutung haben: Sie reproduzieren die Vorannahmen ihrer Entwickler*innen und spiegeln politische Verhältnisse in ihren Narrativen, Repräsentationen und Regeln. Die Fülle an sexistischen und rassistischen Stereotypen vieler Fantasy-Rollenspiele, die militaristischen Fantasien der meisten First-Person-Shooter und die klassischen ökonomischen Modelle von Stadtsimulationen sind kein Grund zur Abkehr vom Medium, sondern zur aktiven Intervention. Computerspiele selbst werden zur Basis von politischen Auseinandersetzungen und bieten ein potentiell neues Vokabular für gesellschaftliche Kritik und die Gestaltung utopischer Visionen.

Jenseits der Inhalte

Eben diese Form der Spielepolitik steht mit Apps wie Pokémon Go jedoch vor einer Herausforderung. Denn ihr Fokus auf Geschichten oder Regeln, auf die Inhalte der Spiele verfehlt den Kern mobiler Augmented Reality Games. Die Spielinhalte Pokémon Gos sind auf den Ebenen der Narrative und der Regeln ausgesprochen karg und letztendlich austauschbar. Das Fundament des Spiels bildet dasselbe Kartensystem und derselbe Wettbewerb um geographische Punkte wie schon in Niantics Vorgängerspiel Ingress – nur in anderem Gewand. Wichtiger als die Inhalte sind nun die ständige Verfügbarkeit der Spielwelt, die konstante Kommunikation mit den Spielservern, die Produktion und Abfrage von Bewegungsdaten sowie die Ermunterung zu Finanztransaktionen. Pokémon zu spielen schafft Wert. Neben den Mikrotransaktionen werden die erhobenen Bewegungsdaten laut Nutzungsbedingungen zu Werbe- und Forschungszwecken weitergegeben. Wie auch schon bei Ingress, ist das erklärte Ziel Niantics, Pokémon Go zur interaktiven Marketingplattform auszubauen: In Japan wurden zum Spielstart im Juli 2016 bereits alle McDonald’s Filialen virtuell zu Pokéstops deklariert.

Anstelle von Narrativen oder Regeln werden die Möglichkeiten, welche sich durch die medientechnologische Vermittlung eröffnen, zum Kern der Angelegenheit. Jenseits des Interfaces der App, jenseits der Spielstrukturen und der Fantasiemonster laufen weitaus schwieriger zu identifizierende technologische Prozesse ab, in welchen sich auch die apokalyptischen Ängste der Medienkritiker*innen gründen. Prozesse der Steuerung von Konsumverhalten, der Erhebung und Auswertung von Bewegungsdaten, des «[...] Computer[s], der die – erlaubte oder unerlaubte – Position jedes einzelnen erfasst und eine universelle Modulation durchführt» (Deleuze).

Kriegsspiele

Die technologischen Grundlagen von Computerspielen waren nie unschuldig. Auch wenn unterschiedliche Spiele-Genres ganz eigene Ursprünge haben, ist das Fundament der heutigen Computer und Spielekonsolen fraglos ein Kind des Krieges. Die ersten Digitalcomputer der 1940er Jahre – darunter der nordamerikanische ENIAC und die deutsche Z3 und Z4 Konrad Zuses – wurden durch und für das Militär entwickelt. Sie dienten der Berechnung von Artilleriefeuer, der Entwicklung von Nuklearwaffen oder wurden für Zielfindungsmechanismen von Gleitbomben genutzt. Im Laufe der 1980er Jahre entdeckte der «Military-Entertainment-Komplex» die Kollusion von Massenunterhaltung und Militär – Computerspielen als Medium für sich. Inzwischen fördert das US-amerikanische Militär seine eigne Technologie- und Spieleentwicklung. Wo vorher noch Modifikationen von frei erhältlichen Spielen wie Battlezone (1980) oder Doom II (1994) die «Würdigung der Kunst und Wissenschaft des Krieges» vermitteln sollten, treten heute eigens zu diesem Zweck entworfene Simulationen an. Im Institute for Creative Technologies der University of Southern California wird mit Geldern der Armee zum Beispiel am Potenzial von Virtual Reality-Brillen geforscht – sowohl zur Simulation von Kriegseinsätzen als auch als Werkzeug zur Konfrontations-therapeutischen Behandlung von post-traumatischer Belastungsstörung. Spieletechnologie überschreitet die Grenze zwischen militärischer und zivilgesellschaftlicher Verwendung, und zwar in beide Richtungen: Die Drohnen des US-amerikanischen und britischen Militärs werden inzwischen per Xbox-Controller gesteuert, da die Soldat*innen mit diesen oft bereits vertraut sind.

«Hinter dem Interface und jenseits der Inhalte operiert ein technologisches Fundament, welches im Rahmen eines militarisierten Kapitalismus geformt wurde und weiter geformt wird.»

Alte und neue Waffen

Hinter dem Interface und jenseits der Inhalte operiert ein technologisches Fundament, welches im Rahmen eines militarisierten Kapitalismus geformt wurde und weiter geformt wird. Eine allein auf die Spielinhalte bezogene «Spielpolitik» kann den komplexen Herausforderungen dieser technologischen Prozesse deswegen nicht gerecht werden. Denn die Rezeption der Spiele durch ihr Publikum findet nicht nur über Narrative und Spielregeln statt, sondern über die Interaktion mit der Technologie selbst. So betonte der Medienarchäologe Claus Pias schon im Jahr 2002, dass Computerspiele uns weniger Töten oder Schießen beibringen als den präzisen Umgang mit Maus und Tastatur, schnelle Reaktionen auf plötzliche Stimuli und effizientes Management.

Und doch mutieren Spieler*innen damit nicht automatisch zu gedankenverlorenen Bildschirm-Junkies, die auf McDonald’s und Militarismus getrimmt werden. Bereits einen knappen Monat nach dem Spielstart von Pokémon Go hat sich zumindest der anfängliche Hype wieder gelegt, und die Zahlen der täglichen Spieler*innen sind um circa 15 Millionen gesunken (von ca. 45 auf 30 Millionen). Der Sommer 2016 scheint kein guter Zeitpunkt für optimistische Worte über die politische Bedeutung von Computerspielen zu sein, allerdings ist auch das dunkle Raunen des Kommentariats fehl am Platz. Denn auch Deleuze schreibt, trotz der düsteren Vision der Kontrollgesellschaft, von der Suche nach neuen Widerstandsstrategien: «Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen».