Wir leben in einer Zeit, in einer Gesellschaft, in der ästhetischer Ausdruck, in der die kunstvolle Gestaltung von Oberflächen sowie der kreativen und gestalterischen Tätigkeit, ob als Lohnarbeit oder Hobby, eine gesteigerte Bedeutung zukommt. Dies zeigt sich unmittelbar im mit Bildern, Spielen, Musik – also mit kulturellen Waren – kommunikationstechnologisch durchwirkten Alltag, ferner an der Zunahme von Inszenierungen, einem veränderten Realitätsempfinden und dem Zusammenlaufen all dieser Elemente in den Konsumräumen der Freizeitsphäre. Historisch wird diese breite gesellschaftliche Ästhetisierung vorbereitet von einer sich in den 1920er Jahren herausbildenden Massenkultur, deren zentrales Medium Warenkonsum ist und die in den 1960er Jahren zur Orientierungskultur aufsteigt.
Die Kunst in der Gesellschaft getrennter Sphären
Mit der Herausbildung von Massenkultur kann sich nun auch Kunst konsumökonomisch ausbreiten. Sowohl der Genuss von Kunstwerken als auch die künstlerische Tätigkeit verlieren zunehmend ihre Klassenspezifik. Gleichzeitig gewinnt Kultur als Sphäre der Freizeit neue Bedeutung und gilt fortan als Refugium der freien Zeit, die abgetrennt von den Verwertungszwängen der Arbeitswelt verlebt wird. Auf dieser vermeintlichen Sphärentrennung von (Massen-)Kultur und Produktion beruht der Gestus der Unabhängigkeit, der auch heute im Feld der Kunst und Kultur beansprucht wird. In der Beschreibung moderner Gesellschaften als «Konsumkulturen» seit den 1980er Jahren wird diese Unabhängigkeit zur maximalen Selbstverwirklichung der (markt-)freien Subjekte verklärt.
Doch die seltsame Abwesenheit der Produktionsverhältnisse in diesem Kulturverständnis stößt in den Debatten der 1960er und -70er Jahre unter anderem in der Bundesrepublik und Frankreich vielfach auf Kritik. Eine Fraktion konservativer Kulturkritiker*innen will das alte Gute bewahren. Aber es mehren sich auch Stimmen, die die vorgebliche Freiheit der Konsumkultur als falschen Schein von Freiheit betrachten, der über die materiellen Verhältnisse hinwegtäuscht. Die französische Gruppe der Situationistischen Internationale (1957 – 1972), kurz SI, macht das Warenspektakel für die gesellschaftliche Entfremdung und Scheinhaftigkeit verantwortlich, das die Trennung der Menschen in Klassen sowie von ihren Bedürfnissen und ihrem Arbeitsvermögen zementiert. Um diese Gesellschaft revolutionär zu überwinden, sehen die Situationisten auch die Kunst in der Pflicht, wie Chris Bezzel zusammenfasst:
«Kunst analysiert nicht nur durch ihre ästhetisch realisierte Modellbildung das Bestehende, sie nimmt ebenso erhoffte positive und befürchtete negative Entwicklungen zeichenhaft vorweg, sie ist gleichermaßen analytisch wie utopisch. […] das kann sie aber nur leisten, wenn sie sich selbst permanent revolutioniert.»
Die dialektische Aufgabe der Kunst besteht also zum einen in ihrer Fähigkeit das Bestehende historisch zu analysieren, zum anderen in der Antizipation des (erhofften) Kommenden – so ist auch Adornos Diktum «In jedem genuinen Kunstwerk taucht etwas auf, was es nicht gibt» zu verstehen. Das revolutionäre Moment von Kunst lässt sich also mit Adorno daran beurteilen, ob «Kunst inmitten [einer] herrschende[n] Utilität» die Qualität des utopisch Anderen bewahren kann.
Nützlichkeitsdenken, Utilität, findet man bei den Kulturproduzent*innen der Gegenwart allenthalben. Die Kunst, die in den Theatern, den Kinos, den Literatur- und Kunsthäusern heute ausgestellt wird, versteht sich als politisch, engagiert, partizipativ. Ein «Flüchtlings-Stück», so kann man bissig feststellen, gehört mittlerweile ins Stammrepertoire. Michael Hirsch fragt in seinen Zehn Thesen zu Kunst und Politik (2015), wie die künstlerische Subversion zu einer geradewegs klassischen, vorhersehbaren Geste werden konnte. Für ihn zeigt sich in dem, was sich heute als politische Kunst artikuliert, das Scheitern der politischen Linken. Die Anstrengungen der konsensfähigen kulturellen Linke würden jedoch, weil sie der Nützlichkeit verpflichtet sind, der beständigen Ästhetisierung von Politik zuarbeiten.
Die Linken und die Kunst: Rebellischer Gestus…
Was also ist los mit der politischen Linken? Meine Beobachtung ist, dass sich kaum mit den Effekten der Warenkultur auf die Subjekte, mit dem revolutionären Potential von Kunst oder Ästhetisierungen innerhalb der eigenen Gruppe/Politik auseinandergesetzt wird. Unterdessen bewegen sich viele Linke selbst in sub-kulturellem Ambiente, unterstützen alternative Lebensformen oder sind direkt mit der Herstellung ästhetischer Produkte (Musik, Theater, Literatur) beschäftigt. Diese Unterreflexion rührt einerseits daher, dass Kunst und Kultur in vulgär-marxistischer Auslegung dem ideologischen Überbau zugerechnet werden, demgegenüber Gesellschaftskritik aber an der materiellen Basis ansetzen müsse. Andererseits gibt es vermutlich, trotz Einebnung der Zugangsbarrieren zu den Kunstinstitutionen, individuelle Berührungsängste mit den ‹Alten Meistern› sowie dem galaktischen Abstraktionsgrad der Gegenwartskunst. Die fortgesetzte subkulturelle Weltfremdheit reduziert damit Kunst und Kultur zu Angelegenheiten des subjektiven Geschmacks und verschließt sich so ihrer politischen Reflexion.
Die Folgen davon kann man an längst abgeschliffenen kreativen Aktionsformen wie Adbusting, Urban Gardening, Flashmobs oder Radioballett sehen – Ausdrucksformen ästhetischer Hilflosigkeit. Laut Hirsch lautet die linke ästhetische Rechtfertigung dazu:
«Wenn die realen gesellschaftlichen Bedingungen der menschlichen Existenz schon nicht durch die politische Durchsetzung allgemeiner Rechte geändert werden können, dann sollen die ungelösten sozialen Konflikte wenigstens gezeigt, spürbar und sichtbar gemacht werden. Mit anderen Worten, sie sollen ausgestellt werden.»
Die genannten Aktionsformen entstammen dem Programm der Kommunikationsguerilla aus den 1960er Jahren und sind, wie auch A. J. Haller bemerkt, «formal-ästhetische Taktiken [die] nicht in einem Zusammenhang mit ihren Inhalten stehen». So kommt es auch, dass diese Aktionsformen in der heutigen entwickelten Kulturindustrie sowohl von Vertreter*innen vermeintlich emanzipatorischer Politik als auch von Warenverkäufer*innen benutzt werden. Der Gestus der Rebellion und des Events bilden dabei wohl die gemeinsame Schnittmenge.
…oder revolutionäres Potential?
Soweit zur Problematisierung. Aber was machen wir nun, da die alten Formen und Finten abgenutzt sind, ja in pseudorevolutionären Spektakeln aufgehen? Wie können Konzepte aussehen, die nicht, in dem Moment, wo sie sich artikulieren, schon von der Kulturindustrie vereinnahmt sind, also reformistische Wirkungen zeigen? Und welche Rolle kann Kunst für Entwürfe einer anderen Gesellschaft spielen? Um diese Fragen zu beantworten, kommt man nicht daran vorbei, die heutige Stellung des Ästhetischen gesellschaftskritisch zu reflektieren und zwei ineinandergreifenden Entwicklungen besondere Aufmerksamkeit zu schenken: Das eine sind die künstlerischen Bewegungen und die Transformation des Kunstfeldes im 20. Jahrhundert,1 das andere ist Entfaltung der Vergesellschaftung der Warenproduktion unter Beteiligung von Warenästhetik.2
Die Forderung der künstlerischen Avantgarden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, des Dadaismus, Surrealismus, Lettrismus, der Lettristischen sowie Situationistischen Internationale, war die Aufhebung der Kunst im Alltagsleben. Der historische Kontext war jeweils bedeutsam: Zwischen den 1850er Jahren und den 1960er Jahren liegt ein Auf- und Absteigen der internationalen Arbeiter*innenbewegung, technische Innovationsschritte, das Erstarken des Faschismus in den 1930ern, die geplante Judenvernichtung, zwei Weltkriege, eine durchgedrückte ‹Staatskunst› in den sozialistischen Ländern und die Manifestation des Neoliberalismus. In Russland bereitete Stalin der russischen Avantgarde in den 1920er Jahren ein Ende, indem er die Eingliederung der Künstler*innen in das staatlich kontrollierte Programm des Sozialistischen Realismus zwang. In der DDR wurde dieser in den 1960er und 70er Jahren umgesetzt, was die Künstler*innen zur Anpassung, inneren Emigration oder Auswanderung zwang. Zeitgleich werden in der progressiven Kunstszene der Bundesrepublik die Formen der Pop Art aufgegriffen, also der Geisteszustand der Postmoderne in die Kunst eingeführt.
«Wenn die Politisierung der Kunst nicht zur Politisierung des Lebens führt, kann es nur daran liegen, dass ihre Reproduktionsbedingungen, das heißt auch die Bedingungen unter denen sich die Arbeitskraft der Künstler*in reproduziert, nicht angegriffen werden.»
Es wäre anmaßend, zu behaupten, es gäbe heute keine politische Kunst mehr, die einen noch umhauen kann. Doch kann das revolutionäre Projekt der Avantgarden, Kunst im Alltag aufzuheben und dadurch auch ein Ende der Entfremdung einzuleiten, als vorläufig gescheitert betrachtet werden. Es scheint in der Logik einer Massen- und Popkultur zu liegen, dass jegliche Versuche, Kunst zu politisieren, in kulturindustrieller Ästhetisierung aufgehen. So war die Pop Art mit ihrem neuen Verständnis von Autonomie und Urheberschaft zwar ein Angriff auf die Tradition. Allerdings fügt die Pop Art ihren Kunstwerken nichts «Anderes» hinzu. Die Produktionsfabrik Andy Warhols Factory war einfach eine konsequente Umsetzung der kapitalistischen Warenökonomie. Auf paradoxe Weise löst sich hier das Credo Debords ein: dass eine Kunst, die revolutionär ist, nicht existiert (ihre Möglichkeit liegt einzig in den zukünftigen Projektionen).
If I can´t revolt, that´s not my art!
Ein Lösungsweg für die Leerstelle, die die kulturrevolutionären Programme der zwei vergangenen Jahrhunderte hinterließen, wird von Seiten der Kritischen Theorie nach wie vor in einer Politisierung der Kunst gesehen. Was ist darunter zu verstehen? Roger Behrens nennt drei Punkte, die diese umfasst: 1. den Entwurf einer neuen Kunst, das heißt einer, «die in völlig neuer Weise auf der Grundlage technischer Reproduzierbarkeit konstruiert […] werden muss», 2. «Die Aneignung bisheriger Kunst – vermittels der Möglichkeiten technischer Reproduktion» und 3. «Die Politisierung des Lebens». Der zweite Punkt, die Aneignung der Geschichte und Technik lässt sich bei zeitgenössischen Künstler*innen am leichtesten erkennen. Warum folgt daraus aber selten neuartige Kunst? Von den Avantgarden und ihrem Scheitern kann man lernen: Wenn die Politisierung der Kunst nicht zur Politisierung des Lebens führt, kann es nur daran liegen, dass ihre Reproduktionsbedingungen, das heißt auch die Bedingungen unter denen sich die Arbeitskraft der Künstler*in reproduziert, nicht angegriffen werden.
«Die Revolution soll im Dienst der Kunst stehen – nicht umgekehrt.»
Im kritisch-materialistischen Verständnis verlangt die Politisierung des Lebensw die Trennung von Kunstsphäre und Produktionssphäre, von Freizeit und Arbeit, die durch das Spektakel/die Warenästhetik harmonisiert wird, aufzuheben. Die Revolution soll im Dienst der Kunst stehen – nicht umgekehrt. Das setzt voraus, dass sich die Kultur- und Kunstproduzent*innen nicht von aller anderen gesellschaftlichen Arbeit absondern, sondern ihre Stellung in der kapitalistischen Produktionsweise und zu anderen Lohnarbeitenden reflektieren. Des Weiteren kann (revolutionäre) Kunst vermöge ihres subjektiven Standpunkts politisieren: Die Einrichtung der Gesellschaft auf Grundlage der freien Bedürfnis-Äußerung und des Tätigseins von Einzelnen, die in solidarischen statt in Konkurrenzverhältnissen zueinanderstehen. Außerdem kann vom subjektiven Standpunkt aus für eine freie Entfaltung der menschlichen Sinne – die bei den Subjekten des Spektakels kapitalistisch verwaltet sind – gekämpft werden.
Die kapitalistische (Re-)produktion der Begehrlichkeit
Um beide Aspekte, den politischen Gehalt von Bedürfnisentfaltung und Sinnesentfaltung komplett zu verstehen, ist es jedoch notwendig, sich die Hürden anzuschauen, die aus der entwickelten Kulturindustrie und ihrer Subjekte und der objektiven Ohnmacht, der sie reproduzierenden Subjekte, resultieren:
Die menschlichen Bedürfnisse zählen in der Sphäre der Ökonomie nur, insofern sie den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals nicht im Weg stehen. Der Begriff des Bedürfnisses selbst ist keine Konstante, sondern – wie auch die menschlichen Sinne – historisch gebildet. Dadurch, dass Menschen zur Befriedigung auf Warenkonsum angewiesen sind, entsteht parallel zum System der Arbeitsteilung ein System der Bedürfnisse, dessen Funktion die Aufrechterhaltung der Tauschwertvermittlung ist. Spezifisch an der Bedürfnisbefriedigung im Kapitalismus ist jedoch, dass sie mehrheitlich individualisiert geschieht, wodurch sich die Klassen beständig aufs Neue spalten, wie Biene Baumeister/Zwi Negator argumentieren. Das ästhetisch und sinnreich inszenierte Spektakel übernimmt nun die Funktion, die Lohnarbeiter*innen – höflichst! – in die Warenwelt zu locken, wo sie, mit Walter Benjamin gesprochen, zu ihrem Ausdruck, beileibe aber nicht zu ihrem Recht kommen. Vermittels der Ware wird die politische Ökonomie der Arbeits- und Produktionssphäre in Freizeit und Alltag hinein fortgesetzt.
Hier, für die Aufrechterhaltung dieser scheinhaften Trennung, wird nun Ästhetisches bedeutsam. In seiner Kritik der Warenästhetik von 1970 analysiert Wolfgang Fritz Haug die ästhetische Dimension. Er problematisiert, dass sie sich im fortgeschrittenen Kapitalismus nicht mehr an Gebrauchswerten und damit auch den Bedürfnissen orientiere. Diese sind nur mehr Mittel, um einen Tauschwert zu erzielen, das heißt durch den Verkauf einen Gewinn zu maximieren. Warenästhetik meint nun, dass das Beziehungsgeflecht von Menschen und Warendingen samt ihrer Sinnlichkeit «im Dienste der Tauschwertrealisierung» stehen. Dadurch, so Gernot Böhme in seinem neuen Buch Ästhetischer Kapitalismus (2016), werde der Mensch perfekt an die Erfordernisse der kapitalistischen Produktion (und Konsumtion) angepasst. Die planmäßige Produktion der Bedürfnisse operiert über Sinnlichkeit und Affekte und wird in den konsumkulturellen Inszenierungen erlebbar, denen man sich kaum entziehen kann.
Kritisch appelliert Böhme daher an die Vernunft der Einzelnen, sich dieser Zwänge bewusst zu werden. Doch die Geschichte solcher Appelle hat diese selbst eingeholt. So ist es mit der heutigen Konsumkritik so ähnlich wie mit der politischen Kunst. Eine unglaubliche Moralisierung wird mit «gutem», «verantwortungsvollem» und «nachhaltigem» Konsum betrieben. Dass dieser mittlerweile im Konsumstil von Massen real geworden ist, es aber eben nicht knallt, macht dessen Zahnlosigkeit deutlich. Gibt es überhaupt einen Weg, wie man mit den Widersprüchen, die das System der Bedürfnisse produziert, politisch umgehen kann? Und zwar so, dass diese nicht in einer gnadenlosen Ästhetisierung innerhalb individualistischer Lebensentwürfe münden? Diedrich Diederichsen geht einen Schritt weiter. Wenn die Reproduktion der Begehrlichkeiten zu großen Teilen überindividuell und unbewusst geschieht, muss die neue Losung heißen: «Macht kaputt, was ihr liebt!» Mit welcher Konsequenz?
Vom Wollen zum Fordern
Innerhalb der bestehenden Verhältnisse zu agieren, verlangt ein enormes Maß an Wendigkeit. Die eigenen Taktiken, gleiches gilt auch für die Kunst, müssen stetig weiterentwickelt werden, «da jede subkulturelle Intervention vom Markt als Herausforderung gedeutet werden kann, die auf potenzielle Marktlücken verweist und als solche dann Gefahr läuft, vom kommerziell getriebenen Kreislauf wieder vereinnahmt zu werden.» (Birgit Richard)
Eine Taktik, die nicht vereinnahmt werden kann, wäre, gegenüber den Warenverkäufer*innen naiv auf ihren Versprechen zu beharren, die sie nicht einhalten können. Außerdem glaube ich, dass man sich das Wissen der Verbraucher*innenforschung und die daraus abgeleiteten Marketing-Strategien genauer anschauen sollte. Ich bin der Meinung, dass ohne diese Sozialtechnologien, die kritische Regungen und Leiden im Moment, da sie entstehen, schon assimilieren, die Widersprüche deutlicher zu Tage treten würden.