Am Anfang hieß es «Bitte liebt Österreich». Im Juni 2000 hatte Jörg Haider die FPÖ zu 25 Prozent bei den Nationalratswahlen geführt. Zwölf «Asylanten», wie auch linke Zeitungen damals noch schrieben, ließ der deutsche Theaterregisseur Christoph Schlingensief für eine Woche in Container im Zentrum Wiens einziehen. Die Aktion war als antirassistisches Re-Enactment der damals neuen Big Brother TV-Show gedacht: Die Österreicher*innen waren eingeladen, täglich die zwei unbeliebtesten Asylbewerber telefonisch abzuwählen – zur Abschiebung. Der Gewinner im Container, am Ende ein Mann aus Sri Lanka, sollte eine Österreicherin heiraten und im Land bleiben dürfen. Über dem Container hing ein vier Meter breites «Ausländer raus»-Transparent, zwei blaue Fahnen der FPÖ flatterten im Wind. Prominente wie Elfriede Jelinek, Sepp Bierbichler oder Daniel Cohn-Bendit übernahmen für jeweils einen Tag die Schirmherrschaft.

Täglich schrieben Zeitungen über die angebliche «Nichtkunst», Nazis griffen den Container mit Buttersäure an. Die FPÖ verklagte Schlingensief, als auch ein Transparent mit dem SS-Spruch «Unsere Ehre heißt Treue» aufgehängt wurde. Diesen Satz hatte ein FPÖ-Politiker damals gebraucht, um zur Wahl der FPÖ aufzurufen. «Wir haben unrealistisch begonnen und sind realistisch geworden», sagte Schlingensief am Ende.

Es war, schrieb die taz, «eine der in ihrer präzisen Wirkung verblüffendsten Theateraktionen der Zweiten Republik». Schlingensiefs künstlerische Provokation habe «eine ungeheure Menge an dunklem Material» und «sozialen Affekten» offengelegt, sagte der Philosoph Peter Sloterdijk.

Das ist überliefert. Was aus den zwölf Geflüchteten geworden ist, darüber ist in den Archiven kaum etwas zu finden. Sie waren bloß die Staffage für Schlingensiefs Show.

Auch wenn der «Refugees Welcome»-Hype dieser Tage abgeflacht ist, so ist Antirassismus als Material ideeller Aufladung für Kunst noch immer en vogue. Dies wirft Fragen auf, die sich teils mit jenen überschneiden, die sich politischen Solidaritätsinitiativen stellen, teils aber auch spezifisch für den Kunstbereich sind: Wann ist Kunst eine gelungene politische Intervention und wann beutet sie soziale Kämpfe aus? Wo verläuft die Grenze zwischen Repräsentation und Instrumentalisierung? Darf man Geflüchtete für Kunst benutzen? Dürfen nur Geflüchtete antirassistische Kunst machen? Darf Kunst alles?

Wohl kein anderes Sujet verspricht derzeit so mühelos moralische, politische Relevanz. Und so ist es (nicht nur) in der Theaterszene derzeit hoch beliebt.

Das Hebbel am Ufer-Theater in Berlin (HAU) feierte Ende 2013 die Premiere von FrontEx Security, einem Dokumen­tartheaterstück von Hans Georg Krösinger. «Es gibt offiziell inszenierte Trauer und dann passiert nichts. Die Verschärfung der Abschottung läuft weiter», sagte Krösinger damals. Durch offizielle EU-Dokumente erzählt sein Stück die Geschichte eines Unglücks am 11. Oktober 2013, bei dem Italiens Marine nicht verhinderte, dass vor Lampedusa etwa 200 syrische Geflüchtete ertranken. Da waren die Versuche antirassistischer Initiativen, Frontex als Institution des militarisierten Grenzregimes zu delegitimieren, bereits einigermaßen fortgeschritten. Doch, dass er bloß eine Diskursmode aufgreife, wies Krösinger zurück. «Im Theater ist die Grundposition nicht klar», sagte er. «Viele wissen etwas, aber fast niemand weiß etwas Genaues.» Er wolle fragen, inwieweit «Frontex uns einen Teil der Arbeit abnimmt, die wir nicht selber machen wollen.» Das Stück, so Krösinger, handele tatsächlich weniger von den 200 syrischen Geflüchteten, sondern von den Zuschauer*innen, die die Verantwortung für die institutionelle Ordnung tragen, die ihren Tod herbeigeführt haben.

Die Akteur*innen im Blick, nicht die Inszenierenden

Ebenfalls auf das Verhältnis von Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten blickt eine weitere HAU-Inszenierung im Juli 2015. Die Regisseurin Edith Kaldor zeigte ein Inventar der Ohnmacht, bei dem reale Personen «ihre Erfahrungen von Machtlosigkeit und ihr Wissen darüber» vor dem Publikum ausbreiteten. Es ging um Selbstermächtigung, aber auch um die Beschränkung der Handlungsoptionen vermeintlich Mächtiger.

Dabei waren Peguy Takou Ndie und Richard Djemeli, Aktivisten des besetzten Berliner Oranienplatzes, die vor der Diktatur in Kamerun flohen und damals auf ihre Anerkennung als Geflüchtete warteten. Das HAU stellte ihnen eine ehemalige Ministerialbeamte gegenüber, die auf Bundesebene für Migrationspolitik zuständig war. Sie hatte versucht, die Verhältnisse von innen heraus zu verändern – und war damit nach eigener Auffassung gescheitert. Sie kündigte. «Ich habe versucht zu tun, was ich konnte und gehofft, dass dies die höheren Ebenen zum Nachdenken bringt. Aber es ist sehr schwierig, grundlegende Entscheidungen zu beeinflussen», sagte sie.

Auch der Kameruner Ndie hatte in Deutschland «das Gefühl, kämpfen zu müssen». Er berichtete von Ohnmachtserfahrungen: «Ich war fünf Tage in dem geschlossenen Internierungszentrum auf dem Frankfurter Flughafen. Jeden Tag wurde ich verhört. Die Verhöre waren lang und kompliziert, die Beamten sehr skeptisch. Das hat mich an Kamerun erinnert. Und ich hatte Angst zurück zu müssen.»

«Wir kämpfen auf der Straße, wir organisieren uns und der Staat lässt das zu. Er erlaubt uns zu sagen: «Wir sind hier nicht frei». Aber es ändert nichts. Im Gegenteil, die Demo gilt dann dem Staat noch als Beweis dafür, dass wir doch frei sind und er nichts zu ändern braucht.»

Sein Mitstreiter Djemeli­ zog das Resümee: «Wir sind alle drei Opfer einer bestimmten Sorte von Demokratie. Wir kämpfen auf der Straße, wir organisieren uns und der Staat lässt das zu. Er erlaubt uns zu sagen: «Wir sind hier nicht frei». Aber es ändert nichts. Im Gegenteil, die Demo gilt dann dem Staat noch als Beweis dafür, dass wir doch frei sind und er nichts zu ändern braucht. Es gibt eine Parallele zwischen Protesten von Migranten und einer Beamtin, die die Politik ändern will. Sie steckt in einem System, in dem sie nur eine Funktion übernehmen soll, aber nicht in Gänze verantwortlich ist für das, was sie tut. Sie kann ihre Dossiers schreiben, wir unsere Aufrufe. Das Ergebnis ist dasselbe.»

So entstand ein erhellendes Werk, das die Erfahrungen der Akteur*innen und nicht die Inszenierenden in den Blick rückte. Ähnliches gilt für die zurückgenommenen, dokumentarisch-biographischen Asyl-Monologe der Berliner Bühne für Menschenrechte. Doch nicht alle Künstler*innen, die sich mit Flüchtlingsthemen hervortun, können das von sich behaupten. Wohl am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) um Philipp Ruch.

Obszöne Zitate der Realität

2014 fälschte das ZPS eine Pressemitteilung des Bundesfamilienministeriums über ein angebliches Aufnahmeprogramm Deutschlands für 55000 syrische Kinder. Das ZPS präsentierte dazu jüdische Holocaust-Überlebende, die nur dank der so genannten «Kindertransporte» 1938 und 1939 nach Großbritannien überlebt hatten.

Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls stahl das ZPS dann Gedenkkreuze für die Mauertoten in Berlin, um sie an Europas Außengrenzen auftauchen zu lassen. Es schickte einige Hundert Freiwillige per Bus nach Bulgarien, um dort den neuen Grenzzaun abzumontieren. Die Polizei verhinderte dies allerdings.

Im Juni 2015 inszenierte es unter dem Motto «Die Toten kommen» Bestattungen auf verschiedenen Berliner Friedhöfen. In den Särgen sollten sich Leichname exhumierter Geflüchteter befinden, die auf dem Mittelmeer gestorben sind. Das ZPS rief dazu auf, überall in Europa «symbolische Gräber» anzulegen. Zu einer entsprechenden Kundgebung vor dem Reichstagsgebäude kamen über 5000 Menschen und pflügten die Wiese dort um.

Im Oktober 2015 kündigte das ZPS an, eine Rettungsplattform für schiffbrüchige Geflüchtete im Mittelmeer zu verankern. Die Plattform, so behauptete es, sei nur die erste von 1000, die kontinuierlich im Mittelmeer verankert werden – als Vorboten eines «Jahrhundertprojektes». Das wiederum sei eine 230 Kilometer lange Steinbrücke von Tunesien nach Sizilien. Die gab es natürlich nicht – es ging darum, Rettungsinitiativen von Europa einzufordern.

Für die bisher letzte Aktion platzierte die Gruppe im Juni 2016 Schauspieler*innen in römischen Kostümen und dazu vier Tiger in einem Käfig vor dem Berliner Maxim Gorki Theater. Syrer*innen wollten sich denen freiwillig zum Fraß vorwerfen – aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik. Titel der Aktion: Not und Spiele: Flüchtlinge fressen. Dazu sammelte das ZPS Spenden für ein Flugzeug, das 115 in der Türkei wartende Syrer*innen zu ihren in Deutschland wartenden Verwandten bringen sollte.

Die Aktion sollte öffentlich verhandeln, warum Geflüchtete aus Kriegen nicht mit dem Flugzeug nach Deutschland kommen, sondern im Mittelmeer ertrinken. Anknüpfungspunkt war § 63 des Aufenthaltsgesetzes, wonach «Beförderungsunternehmen» Ausländer*innen nur bei der Einreise helfen dürfen, wenn diese die nötigen Papiere haben. Ansonsten drohen Zwangsgelder. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen brachte flankierend zur ZPS-Aktion im Bundestag einen Antrag ein, um die Regelung zu streichen. «Wir können entscheiden, ob 20 Prozent der Menschen auf dem Weg zu uns sterben», sagte Ruch. Der Bundesregierung sei der Tod der Geflüchtete «völlig egal». Konservative Kommentator*innen schrieben, Ruch solle doch selbst in den Tigerkäfig steigen, statt Geflüchtete vor zu schicken.

Der schloss stattdessen einen Vertrag mit der Fluggesellschaft Air Berlin und behauptete dabei, «den Transport von Statisten eines Theaterstücks» zu organisieren. Nach Intervention der Bundespolizei kündigte Air Berlin kurz vor Abflug. So kamen keine Syrer*innen aus der Türkei nach Berlin. Und es ließen sich auch keine auffressen. Am Abend des Showdowns erklärte die dafür vorgesehene Syrerin, sie könne ihre Ankündigung nicht wahr machen: «Was wäre mein Schreien gegen die ungehörten Hilferufe nachts auf dem Meer?»

Die Sache ging bombig aus für das ZPS: Alle redeten über sie. Die 100 syrischen Geflüchteten, die für den abgesagten Charterflug aus Antalya gebucht gewesen sein sollen, mussten hingegen ihre Koffer wieder auspacken und blieben erst einmal in der Türkei – wenn es sie denn gab. Offen blieb dann, was das ZPS ihnen in Aussicht gestellt hatte. Dass sie nicht nach Berlin kommen würden, wird Ruch klar gewesen sein, als er sich ausgerechnet die deutsche Abschiebe-Airline Nummer eins, Air Berlin, für seine «zivilgesellschaftliche Flugbereitschaft» ausgesucht hat.

«Nichts spricht dagegen, immer wieder an das Ster­ben der Geflüchteten zu erinnern, und für große Gesten ist Theater da. Aber die Aufführung war, genau wie die Tigerfraßnummer und diverse Vorläuferinnen, erkauft mit einem ins Obszöne reichenden Umgang mit den Geflüchte­ten.»

Die Absage des Flugs wird einkalkuliert gewesen sein als Teil des bis zum Anschlag aufgedonnerten Spektakels; die 100 Geflüchtete mussten als dramaturgische Verfügungsmasse herhalten. Am Ende blieb nur eine Show übrig, die nichts weiter zeigte als: De Maizière will keine Syrer*innen mehr nach Deutschland lassen. Dass der Neuigkeitswert dieser Tatsache dürftig ist, war dabei ebenso wenig das Problem wie die große Geste, mit der sie ausgebreitet wurde. Nichts spricht dagegen, immer wieder an das Sterben der Geflüchteten zu erinnern, und für große Gesten ist Theater da. Aber die Aufführung war, genau wie die Tigerfraßnummer und diverse Vorläuferinnen, erkauft mit einem ins Obszöne reichenden Umgang mit den Geflüchteten. In immer neuen Variationen wurden das Sterben und Töten realer Menschen als wüste Zitate der Realität hergenommen: ausgegrabene Leichen, Kinderversteigerungen, die Suizid-Show mit den Tigern oder «Soll sterben»-Buttons auf der Liste mit den Passagieren des vermeintlichen Rettungsflugs auf der Webseite.

Die Ausbeutung der Wirklichkeit

Das ZPS glaubte sich zu diesen Inszenierungen offenbar ermächtigt durch die Brutalität der Wirklichkeit. Aber beutete es diese nicht nur aus?

Nein, sagte etwa Ines Kappert vom Gunda Werner Institut. «Not und Spiele» hebe sich «in großem Stil über das Ordnungssystem der Grenze hinweg. Wenn Menschen vor laufender Kamera und ganz legal das Recht auf Leben entzogen wird, ohne dass die Gesellschaft Kopf steht», dann entspringe «die obszön leuchtende Menschenverachtung nicht dem Ego des künstlerischen Leiters des ZPS […], sondern sie hat den Alltag der Mehrheitsgesellschaft gekapert». Wir alle, so Kappert, hätten uns «längst zum Teil des brutalen Spektakels machen lassen. Und aus der Nummer kommen wir sicher nicht durch die Kritik an Geschmacklosigkeit oder Eitelkeiten oder durch Diskussionen um Kunst und Nichtkunst raus.» Viele linke Publizist*innen sahen das ähnlich und lobten die Aktion als angemessen angesichts der Rekordzahl von Toten im Mittelmeer.

Die Aktion sei eine «Perversität, die sich nur mit den Inszenierungen des IS messen kann, mit dem einzigen Unterschied, dass die Opfer des IS nicht freiwillig mittun», beklagte hingegen die stramm nach Rechtsaußen driftende ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld. Da bräuchte es einen Helmut Schmidt, der einst «den RAF-Gangstern erfolgreich Paroli bot», um nun auch Ruchs Treiben zu beenden. Wer solche Wutausbrüche provoziert, der hat, so kann es sich das ZPS zugutehalten, die grassierende Kaltherzigkeit zum Sprechen gebracht.

Es gibt sie doch: Widerstandskunst

Dass es tatsächlich auch Mischformen geben kann, hat im Jahr 2010 die Geflüchteten-Selbstorganisation The Voice bewiesen. Da veranstaltete sie in Jena ein Festival der Widerstandskunst. Das Motto: «Vereint gegen koloniales Unrecht». Bei The Voice sind vor allem geflüchtete afrikanische Aktivist*innen aktiv. Sie stellten eine traditionelle westafrikanische Maskenzeremonie in den Mittelpunkt eines Sternmarsches. Dieser Totentanz hat in Teilen Afrikas eine lange Tradition; er bietet Schutz und Solidarität, vor allem in Zeiten von Katastrophen und Unglück. Die in Afrika angefertigten Masken kamen nach Jena, um die Toten des europäischen Grenzregimes zu repräsentieren. Sie stellten den Menschen in Europa Fragen und erzählten die Geschichten der Toten, zollten den Opfern Respekt. «Ein notwendiger Schritt», schrieb Hagen Kopp in der ak, «denn häufig gelten Abgeschobene auch als «Gescheiterte» und nicht wenige Familien leiden neben der Trauer um die Toten darunter, dass auch das Sterben an der Grenze als Schwäche gilt.» Die Maske sei eine «Vorbotin: Sie kündigt Veränderung an und ein Tribunal gegen koloniales Unrecht. Sie spricht von Widerstand.»


Die Initiative für das Festival kam nicht von einer Künstler*innengruppe, sondern von The Voice selbst, die zwar als Kern der Geflüchtetenbewegung in Deutschland gelten kann, aber bis dahin nie durch Kulturaktivismus aufgefallen war. Viele Solidaritätsgruppen und solche aus dem Geflüchtetenwiderstand beteiligten sich und sahen die künstlerischen Aktionen in Jena als Ausdruck ihrer realen, gegenwärtigen Kämpfe – und als Ausgangspunkt für neue. Von der Aktion Bleiberecht in Freiburg bis zu Nolager in Bremen, von Jugendliche ohne Grenzen bis zu kein mensch ist illegal, vom Flüchtlingsrat Hamburg bis zu antirassistischen Gruppen in Wien: aus unterschiedlichen Spektren wurde der Aufruf nach Jena aufgegriffen. Das sei, so Kopp, «nicht selbstverständlich angesichts doch handfester Differenzen» in einer Szene, die zuvor «zwar vielfältige, aber häufig nebeneinander her oder gar konkurrent agierende Netzwerke im Antira-Feld gebildet» hatte.

Selbst Gruppen aus Marokko und aus Mali kamen, um ihre eigenen Erfahrungen mit Frontex und dem EU-Grenzregime darzustellen. Das Festival wurde so Auftakt für einen Zyklus von Kämpfen transnationaler, migrationsbezogener Netzwerke auf beiden Seiten des Mittelmeers – bis heute.