Seit der Moderne können Politik und Kunst offensichtlich in einem engen Zusammenhang stehen, sind aber auch nicht einfach dasselbe. Es ist umstritten, wo genau die Grenze zwischen Kunst und Politik liegt und ob die Grenze entweder verstärkt oder abgeschwächt oder sogar ganz aufgehoben werden sollte. Zudem stellt sich die Frage, ob die Kunst in ihrer Politisierung letztlich als Kunst zerstört wird, oder ob der Kunst vielmehr per se eine politische Dimension eingeschrieben ist, die ihr folglich nicht erst von außen aufgedrückt werden muss. Diese Fragen markieren das prinzipiell spannungsvolle Verhältnis von Kunst und Politik, um das es auch im Folgenden gehen soll.

Dafür wird zunächst im Ausgang von der Ambivalenz der Kunst 1) ihr affirmativer 2) und ihr kritischer Charakter 3) bestimmt. Daraufhin wird gezeigt, dass sich die Kunst keineswegs in ihrem affirmativen oder kritischen Charakter erschöpft 4), weshalb sie dann tiefer durch die Begriffe der Positivität und Negativität gefasst wird 5). Mit dieser Begrifflichkeit lässt sich der emanzipatorische Charakter der Kunst verdeutlichen 6), um im Anschluss eine grundsätzliche Überlegung zum Verhältnis von Kunst und Politik zu profilieren 7).

1. Die Ambivalenz der neuzeitlichen Kunst

Die Stellung kritischer Gesellschaftstheorien zur Kunst ist ambivalent. So spricht etwa Adorno von einem «Doppelcharakter der Kunst». Diese Ambivalenz der Kunst hängt eng mit der neuzeitlichen Ausdifferenzierung der Kunst als gesellschaftlichem Sonderbereich zusammen: In der Antike und im Mittelalter ist die Kunst als «techne» beziehungsweise «ars» noch nicht vom Handwerk beziehungsweise den theoretischen und praktischen Wissenschaften unterschieden. Erst in der Renaissance wird die Kunst im neuzeitlichen Sinne als Schöpfung des Schönen von Handwerk und Wissenschaft abgegrenzt. Gemäß der klassischen Formulierung von Immanuel Kant wird die Kunst in der Neuzeit hingegen als auf sich gerichtete «Zweckmäßigkeit ohne Zweck» von der zweckgerichteten Herstellung unterschieden und damit der Autonomie- und Freiheitscharakter der Kunst hervorgehoben. Mit der Ausdifferenzierung der Kunst zu einem eigenständigem Bereich mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten, geht zugleich eine normative Aufwertung dieses Bereichs gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen einher: So wird die Kunst etwa als Transzendenz in der Immanenz, als Autonomie in der Heteronomie, als Unendlichkeit in der Endlichkeit oder als Freiheit in der Notwendigkeit privilegiert.

Die Kunst kann in diesem Sinne entweder als utopisches Reservoir einer besseren Welt verstanden werden oder aber als ideologische Legitimationsquelle für die schlechte Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft: Weil die bürgerliche Gesellschaft den eigenen Idealen von Freiheit und Gleichheit in ihrer ökonomischen und politischen Wirklichkeit grundsätzlich nicht gerecht werden kann, diese Ideale als Legitimationsgrundlage aber auch nicht aufgeben darf, entzieht sie diese Ideale ihrer politökonomischen materiellen Basis und überschreibt sie dem ideellen Überbau der Kunst. Die Ausdifferenzierung der Kunst zur eigenständigen Sphäre verstärkt somit ihren Doppelcharakter, sowohl eine konservative und herrschaftsstützende Funktion erfüllen zu können als auch über ein revolutionär-utopisches und herrschaftsstürzendes Potential zu verfügen.

2. Der affirmative Charakter der Kunst

Die Kritik an der affirmativen Funktion der Kunst lässt sich in drei eng miteinander zusammenhängende Aspekte differenzieren, nämlich in die Kritik an der Partikularität der Kunst, die Kritik an der Idealität der Kunst und die Kritik am Schein- und Kompensationscharakter der Kunst.

Innerhalb der Heteronomie der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Prinzipien von Macht und Profit muss sich die Kunst nach außen hin abschließen und begrenzen, um die innere Autonomie ihres Bereiches bewahren zu können. In dieser Selbstbegrenzung werden aber auch die befreienden und allgemeingültigen Gehalte der Kunst begrenzt und ihr ursprünglich universaler Sinn gilt nur noch partikular. Somit werden die künstlerischen Gehalte durch ihre Beschränkung in ihrem allgemeinen Sinn entwertet.

Mit der Begrenzung der Gültigkeit der künstlerischen Gehalte wird zugleich der grundsätzliche Modus dieser Geltung verändert, denn in ihrer Begrenzung gelten die begrenzten Gehalte bloß noch ideell: In ihrer ästhetischen Partikularität unterscheidet sich die Wirklichkeit der Kunst von der umfassenderen Wirklichkeit der ökonomischen und politischen Basis der Gesellschaft. Indem die Gehalte der Kunst in ihrer Gültigkeit beschränkt werden, entsteht eine Lücke zwischen dem Ganzen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem exklusiven Teilbereich der Kunst. Die Kunst ist folglich nur noch nachträglich und äußerlich, das heißt ästhetisch auf Ökonomie und Politik bezogen, in erster Linie bezieht sie sich auf sich selbst. Mit der Exklusion vom materiellen Leben und von gesellschaftlicher Praxis geht somit eine grundlegende Entwirklichung der Kunst einher.

«Die Kunst animiert somit nicht zu wirklicher Freiheit, sondern verlängert die politische und ökonomische Entmündigung der Menschen ästhetisch [...].»

Hieran schließt die Kritik am Schein- und Kompensationscharakter der Kunst an: In ihrer Idealität täuscht die Kunst nicht nur über ihre eigene Beschränktheit hinweg, sondern ebenso über die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft: Obwohl die Kunst als solche reell von ihrer gesellschaftlichen Basis begrenzt wird und somit von ihr abhängig ist, überblendet sie ihre reelle Partikularität und Abhängigkeit durch die ideelle Allgemeinheit und Autonomie ihrer Gehalte, die sie jedoch nicht mehr mit der Konkretion des gesellschaftlichen Lebens verbindet. Somit überblendet und überstrahlt die Kunst in der Idealität ihrer ästhetischen Wirklichkeit ihre eigenen materiellen Voraussetzungen und die von ihren ästhetischen Idealen abweichende Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Kritik am Scheincharakter der Kunst lässt sich als Aktualisierung des alten Täuschungsverdachts gegen die Kunst unter herrschaftskritischem Vorzeichen verstehen: In der ästhetischen Scheinwirklichkeit werden Erfüllung, Freiheit und Glück simuliert, um ihre Abwesenheit im gesellschaftlichen Leben zu kompensieren. Die ästhetische und kulturelle Scheinbefriedigung, egal ob in hochkultureller Erhebung und Erbauung oder populärkultureller Unterhaltung, soll die Befriedigung wirklicher Bedürfnisse ersetzen und die Defizienz der gesellschaftlichen Basis ausgleichen. Die Kunst animiert somit nicht zu wirklicher Freiheit, sondern verlängert die politische und ökonomische Entmündigung der Menschen ästhetisch, weil sie ihnen nur die passive Rolle von Kulturkonsument*innen übrig lässt. Sofern die Aufklärung nicht die Wurzel des gesellschaftlichen Lebens ergreift, sondern auf Kultur und Kunst verkürzt wird, ist sie somit, wie Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung schreiben, der «Massenbetrug» der Kulturindustrie. Die schöne Idealität der Kunst ist demnach das funktionale Komplement zur harten Realität der bürgerlichen Gesellschaft.

3. Der kritische Charakter der Kunst

Dieser Kritik zufolge sind Kultur und Kunst auch unabhängig von ihrem Inhalt immer schon affirmativ, weil sie all ihre Gehalte notgedrungen auf eine beschränkte Ideal- und Scheinwirklichkeit reduzieren, die als eskapistischer Ersatz für gesellschaftliche Veränderung dient. Demgegenüber kann der ästhetische Abstand von der gesellschaftlichen Wirklichkeit aber auch als Bedingung der Möglichkeit von Kritik und Veränderung aufgefasst werden. Der Idealitätsüberschuss muss nicht unbedingt nur als ein Realitätsmangel, sondern kann ebenso als Realitätsüberschreitung interpretiert werden. Die Abwendung von dem, was ist, ist so verstanden zugleich eine Hinwendung zu dem, was noch nicht ist. Die Kunst stört die Orientierung in der Gegenwart, um uns auf die Zukunft hin zu orientieren. Demnach ist die Kunst ein Ort von Transzendenz und Utopie. Tatsächlich besteht das, was die Kunst so anziehend und interessant macht, ja gerade darin, dass sie die ihr gegebenen Schranken nicht einfach hinnimmt, sondern mit ihren beschränkten Mitteln zugleich über ihre Schranken hinausstrebt. Ihre Idealität ist somit nicht der Realität überhaupt entgegengesetzt, sondern lässt sich als Antizipation einer anderen Realität verstehen. Ohne freilich ihren Gegensatz gegen das Bestehende, aus eigenen Mitteln aufheben zu können, hat die Kunst aber schon immer über diesen Gegensatz hinaus auf eine übergeordnete Einheit jenseits der Kunst verwiesen.

Mit der ästhetischen Einheit wird somit immer auch die Hoffnung auf menschliche und gesellschaftliche Vereinigung verbunden und die Kunst als Utopie unverkürzten Menschseins und als Vorstufe politischer Befreiung verstanden. So schreibt etwa Friedrich Schiller, dass in der Kunst die «Menschen aus allen Kreisen und Zonen und Ständen [....] durch eine allwebende Sympathie verbrüdert» werden sollen. Deutlich wird dies auch an den Avantgarden (Surrealismus, Dadaismus, Futurismus) und den Designschulen des 19. und 20. Jahrhunderts (Arts-and-Crafts-Bewegung, Wiener Werkstätte, Bauhaus), die in kunst- und gesellschaftskritischer Absicht auf eine Auflösung der Grenze von Kunst und Leben drängen. Es ist somit das gesellschafts- und kunstkritische Potential der Kunst selbst, das eine Sehnsucht nach Öffnung und Entgrenzung der Kunst und nach einer anderen Gesellschaft und Politik begründet.

4. Weder Politisierung der Kunst noch Ästhetisierung der Politik: Die Kunst jenseits von Kritik und Affirmation

Diese Öffnung der Kunst lässt sich im Anschluss an den kritischen und affirmativen Charakter der Kunst nun in zweifacher Weise verstehen: Entweder muss die Kunst, weil sie affirmativ ist, auf die Politik hin geöffnet und kritisch politisiert werden, oder die Kunst soll, weil sie kritisch ist, die Politik ästhetisieren und dadurch radikale politische Veränderung initiieren. Diese Konsequenzen lassen sich jedoch problematisieren, weil sie beide erstens die Kunst und zweitens die Politik überfordern und somit das Ziel gesellschaftlicher Veränderung doppelt verfehlen.

Erstens: Die Auflösung der Kunst als eine Verwandlung der Politik in Kunst oder der Kunst in Politik hebt die Kunst gerade nicht auf, sondern totalisiert sie vielmehr zu einer ästhetischen Pseudo-Politik oder einer politischen Pseudo-Ästhetik. Die Trennung von Kunst und Politik wird unter dem Anschein ihrer Aufhebung dadurch jedoch auf die höchste Spitze getrieben. Zweitens fragt sich, ob die Aufhebung der Kunst durch ihre politische Verwirklichung dem Menschen tatsächlich zu einer mündigen Gestaltung der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit verhilft, oder ob der Gedanke einer politischen Verwirklichung der Kunst nicht vielmehr auf eine chronische Überforderung politischer Bemühungen hinauslaufen muss: Sowohl die radikalen Versöhnungs- und Harmonieszenarien der Kunst als auch die von ihr aufgeworfenen existenzielle Fragen und Probleme sind nämlich kaum mit den Mitteln politischen Handelns realisierbar.

«Der Sinn der Kunst wird in einer Ästhetisierung der Politik daher ebenso verfehlt, wie in einer Politisierung der Kunst.»

Der Sinn der Kunst wird in einer Ästhetisierung der Politik daher ebenso verfehlt, wie in einer Politisierung der Kunst. Es geht offensichtlich am eigensinnigen Wesen der Kunst vorbei, sie auf einen affirmativen oder einen kritischen Charakter im bisher erläuterten Sinne verpflichten zu wollen. Zwar kann Kunstwerken durchaus ein affirmativer oder kritischer Charakter zukommen, aber sie erschöpfen sich darin keineswegs. Vielmehr sind der affirmative und der kritische Charakter der Kunst zwar durchaus zwei Möglichkeiten der Kunst, die jedoch in einer tieferen Wesensstruktur der Kunst überhaupt gründen, nämlich in der Positivität und der Negativität der Kunst.

5. Positivität und Negativität der Kunst

Die erste Position einer Positivität der Kunst findet sich in Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Ästhetik: «Das Schöne ist die Idee als unmittelbare Einheit des Begriffs und seiner Realität, jedoch die Idee, insofern diese ihre Einheit unmittelbar in sinnlichem und realem Scheinen da ist.» Die Formulierung von der «Einheit des Begriffs mit seiner Realität» ist vor dem Hintergrund des klassischen Wahrheitsverständnis zu verstehen, dass Wahrheit die Übereinstimmung von Vorstellung und Sache ist. Die Idee ist diese Einheit und damit also Wahrheit. Das Schöne ist nun die sinnliche Erscheinung der Idee für die Anschauung. In der Kunst wird die Wahrheit folglich nicht begrifflich, wie etwa in der Philosophie, sondern anschaulich artikuliert. Die Kunst hat demnach mit der Idee die Wahrheit zu ihrem Inhalt, den sie in sinnlich-anschaulicher Form darbietet.

Allgemeiner formuliert ist die Kunst ein Medium, das Einsichten in eine begrifflich nicht explizierbare Wirklichkeit zur Anschauung bringt und dem Mensch dadurch zu einer reichhaltigeren wahrheitsorientierten Auseinandersetzung mit der Realität verhilft. Die Kunst in diesem Sinne ist bejahend oder positiv, weil sie dabei hilft, das, was ist, möglichst umfassend zu erschließen. Laut Hegel ist sie neben Philosophie und Religion eine Weise, durch die der Mensch sein Weltverhältnis ausbildet und stützt. Die Kunst gibt Orientierung und bestätigt den Mensch in seiner Stellung in der Welt.

«In der Kunst hat all das einen Ort, was in der positiven Erschließung der Wirklichkeit ausgeschlossen bleibt und zum Verstummen gebracht und unsichtbar gemacht wird.»

Dem ist die zweite Position zur Negativität der Kunst entgegengesetzt, die sich bei Theodor W. Adorno findet. In direkter Kritik an Hegel schreibt er in seiner Ästhetischen Theorie: «Der Gehalt [von Kunstwerken] ist nicht in die Idee auflöslich, sondern Extrapolation des Unauflöslichen». Die Unauflöslichkeit der ästhetischen Gehalte in die Idee bedeutet, dass die Kunst keineswegs nur das sinnliche Medium der Wahrheit ist, sondern die Gehalte der Kunst eine dieser Wahrheit geradezu entgegengesetzte Eigenständigkeit aufweisen. Paradox formuliert liegt der Wahrheitsgehalt der Kunst gerade darin, dass sie nicht in Wahrheit aufgeht. In der Kunst hat all das einen Ort, was in der positiven Erschließung der Wirklichkeit ausgeschlossen bleibt und zum Verstummen gebracht und unsichtbar gemacht wird. So schreibt Adorno, dass die Kunst durch ihre «absolute Negativität [...] das Unaussprechliche aus[spricht]»: «Ästhetische Identität soll dem Nichtidentischen beistehen, das der Realitätszwang in der Realität unterdrückt.» Kunst erschließt Wirklichkeit also nicht im positiven Sinne, sondern bricht im Gegensatz dazu die Erschlossenheit der Welt negativ auf, um so das in ihr Ausgeschlossene zum Ausdruck zu bringen. Kunst wird demnach immer in Augenblicken der Irritation, der Verunsicherung und des Bruchs erfahren. Das menschliche Weltverhältnis wird durch die Kunst also nicht positiv unterstützt und bestätigt, sondern negativ gestört und infrage gestellt.

Diese beiden kurz skizzierten Ansätze müssen nicht als Alternativen verstanden, sondern können zusammengedacht werden: Die besondere Kraft der Kunst besteht gerade im Zusammenspiel von Positivität und Negativität. Die negative Irritation des Verstehens schließt nämlich andere Arten des positiven Verstehens auf, und umgekehrt muss wahrhaftiges positives Verstehen, immer daran interessiert sein, auch das noch zu berücksichtigen, was sich negativ am Rand und außerhalb des Verstehens befindet. In dieser doppelten Verbindung von Negativität und Positivität besteht gerade das Charakteristische der Kunst: Die Positivität der Kunst schließt immer auch die eigene Negativität mit ein, denn das, was ästhetisch ist, ist nicht nur das, was es ist, sondern es ist mehr als es ist. Eben in diesem metaphysischen Wirklichkeitsüberschuss besteht das ästhetische Schimmern und Schweben von Kunstwerken. Ebenso schließt auch die Negativität der Kunst stets Positivität mit ein, weil die ästhetische Negativität, anders als die begriffliche Negativität des Denkens, im Bruch mit der positiven Wahrheit keineswegs nur in die Leere der Negation führt, sondern in die ästhetisch-metaphysische Fülle des Kunstwerkes übergeht.

6. Die emanzipatorische Kraft der Kunst

Die Kunst ist dem menschlichen Selbst- und Weltverständnis daher nicht grundsätzlich, sondern nur insofern entgegengesetzt, als sie zum Ausdruck bringt, was im alltäglichen Verständnis übersehen, abgedrängt und verdeckt wird. Die Kunst offenbart so die Fragwürdigkeit dessen, was für uns selbstverständlich ist. Eben darin liegt die emanzipatorische Kraft der Kunst und damit kann sie einen indirekten Beitrag zur Politisierung des gesellschaftlichen Lebens leisten. Je selbstverständlicher nämlich die Wirklichkeit für uns wird, umso mehr entfremden wir uns zugleich auch von ihr, weil sie in ihrer Selbstverständlichkeit für uns eindimensional und leer wird; sie sagt uns nichts mehr und wird grau und bedeutungslos. Wo die Wirklichkeit in ihrer alltäglichen Unauffälligkeit verschwindet, gerät unser Weltverhältnis in eine Schieflage, weil es zunehmend von unserem Selbst dominiert wird. Unter dieser Dominanz unseres Selbst verliert die Welt ihre innere Reichhaltigkeit und wird leer, wie auch das Selbst in diesem Weltverlust immer ärmer und leerer wird.

Diese lebensweltlich-existenzielle Entfremdung von der Welt und von uns selbst ist wohl die radikalste Form von Entfremdung: Wo Menschen schon grundsätzlich nicht in der Lage sind, sich prinzipiell im Verhältnis zur Welt und die Welt im Verhältnis zu sich zu verstehen, ist erst recht jede politische und ökonomische Gestaltung und Veränderung dieser Verhältnisse aussichtslos. Die ökonomische und politische Entfremdung wird daher von der tieferen lebensweltlichen Entfremdung als Blockade des Selbst- und Weltverhältnisses grundiert und verstärkt. Wo die Menschen nicht nur ökonomisch und politisch, sondern im Ganzen ihrer Existenz überwiegend fremdbestimmt sind und sich in ihrem Denken, Sprechen und Tun eigentlich gar nicht mehr verstehen, sind sie noch vor ihrer politischen Entmündigung existenziell entmündigt. Oftmals scheitern daher die Versuche einer Repolitisierung des gesellschaftlichen Lebens daran, dass sie eine ausdrücklich politische Ansprache wählen, die über die doppelte Kluft der politischen und lebensweltlichen Entfremdung aber gar nicht mehr an die Menschen heranreicht, da sie an den alltäglichen entfremdeten Lebensweisen der Menschen vorbeigeht.

Die Kunst kann nun insofern ein Beitrag zur Politisierung leisten, als sie der zur toten Selbstverständlichkeit entfremdeten Lebenswirklichkeit opponiert und dadurch das existenzielle Selbst- und Weltverhältnis revitalisiert. Indem die Kunst eine in ihrer Fremdheit und Bedeutungslosigkeit unsichtbar gewordene Wirklichkeit ästhetisch sichtbar macht, befähigt sie den Mensch zu grundlegenden Welt- und Selbsterfahrungen und -verständnissen. Dadurch löst sie die Blockaden im existenziell-lebensweltlichen Selbst- und Weltverhältnis und eröffnet somit überhaupt erst die Möglichkeit, dass der Mensch sich politisch zu sich selbst und zur Welt verhält. Ohne an eine politische Intention oder Programmatik gebunden sein zu müssen, weist die Kunst somit per se ein herrschaftskritisches Subversionspotential auf: Die Kunst regeneriert die grundsätzliche menschliche Fähigkeit zum Selbst- und Weltverhältnis, die wiederum Bedingung der Möglichkeit für eine politische Deutung, Gestaltung und Veränderung dieser Selbst- und Weltverhältnisse ist. In diesem Sinne ist die Kunst zwar vorpolitisch, deswegen aber keineswegs unpolitisch.

7. Zum Verhältnis von Kunst und Politik

Folglich besteht die emanzipatorische Kraft der Kunst gerade in ihrem vorpolitischen Charakter, der in der Politisierung der Kunst ebenso verloren gehen würde, wie in der Ästhetisierung der Politik. Eine verkürzte, das heißt nicht-ästhetische Politisierung der Kunst würde der Kunst folglich ihr spezifisches Emanzipationspotential nehmen und könnte somit gegen die eigene Absicht die existenzielle Entfremdung des Menschen sogar noch verstärken. Das heißt nicht, dass die Kunst das Politische nicht zu ihrem Thema machen könnte. Wenn aber die Politisierung der Kunst zugleich eine Entästhetisierung der Kunst ist, dann wird Kunst, wie Milan Kundera in einem luziden Kapitel in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins bemerkt, zum leeren «Kitsch». Entsprechend wird die Politik zum harmlosen «Theater» (Günther Anders), wenn ihre Ästhetisierung zugleich Entpolitisierung bedeutet. Allerdings kann es neben der Kunst auch seltene politische Aktionen und Vorkommnisse geben, in denen nicht nur die politische, sondern auch die existenziell-lebensweltliche Entfremdung des Menschen aufgebrochen wird und durch die der Mensch ohne ästhetische Vermittlung seine Fähigkeit zurückgewinnt, Verhältnisse einzugehen. Bei solchen Aktionen und Vorkommnissen handelt es sich um politische Ereignisse im empathischen und radikalen Sinne, wie er etwa durch Alain Badiou zur Diskussion gestellt wurde. An solchen Ereignissen, wie etwa der Oktoberrevolution, zeigt sich, dass nicht nur die Kunst eine politische Dimension in sich trägt, sondern ebenso die Politik über eine ästhetische Dimension verfügt. So wie aber die Kunst ihre latente Politizität in ihrer Politisierung verliert, so verliert auch die Politik ihre latente Ästhetizität in ihrer Ästhetisierung. Folglich kann die Politisierung der Kunst paradoxerweise nicht durch politische, sondern nur durch ästhetische Mittel und die Ästhetisierung der Politik nicht durch ästhetische, sondern nur durch politische Mittel erreicht werden.