Welche Rolle Fotografie für einen Blick auf Frauen spielen kann, haben Christina von Braun und Bettina Mathes in ihrem Buch Verschleierte Wirklichkeit beschrieben. Die Fotografie war nach Darstellung der Autorinnen ein Werkzeug, westliche Phantasien über den Harem zu kreieren. In Algier, Kairo oder Istanbul wurden Fotostudios eröffnetet, in denen europäische Fotografen vermeintliche Haremsszenen aufnahmen, die den westlichen Phantasien vom Orient entsprachen: halbentschleierte Frauen in sexualisierten Posen und in einer luxuriösen Umgebung. Diese gestellten Bilder fanden in den europäischen Kolonialstaaten als Postkarten reißenden Absatz. Die Fotografen hatten jedoch nie einen Harem von innen gesehen.
Als die Engländerin Grace Ellis tatsächlich im Inneren eines türkischen Harems Fotos machen konnte und sie einer britischen Zeitung anbot, wurden diese nicht gedruckt, weil sie «zu unrealistisch» waren. Die realen, sich verschleiernden Frauen entziehen sich diesem kolonialen Blick. Ja, mehr noch, sie stellen die fotografische Subjekt-Objekt-Polarität auf den Kopf. Die Autorinnen zitieren dazu den algerisch-französischen Philosophen Malek Alloula: «Für den Fotografen stellen die verschleierten Frauen nicht nur ein peinliches Rätsel dar, sondern auch einen Angriff auf seine Autorität. ... Gebündelt durch den kleinen Sehschlitz entspricht dieser weibliche Blick in gewisser Weise der Linse des Fotoapparates, die auf die ganze Welt zielt. Der Fotograf weiß dies sehr genau; er kennt diesen Blick gut; er ähnelt seinem eigenen Blick. Der Präsenz der verschleierten Frau ausgesetzt, fühlt sich der Fotograf selbst fotografiert, er selbst wird zu einem Objekt des Blicks.» In dieser Beschreibung wird die Dynamik deutlich, die der Macht des Blickes innewohnt und diese Macht erfährt mit der Entwicklung der perspektivischen Darstellung insbesondere der Zentralperspektive eine neue Dimension.
Totalität der Zentralperspektive
Die Zentralperspektive wurde im 15. Jahrhundert in Europa «entdeckt». Mit ihr wurde es möglich, dreidimensionale Objekte auf einer zweidimensionalen Fläche so abzubilden, dass ein räumlicher Eindruck entsteht. Bereits um das Jahr 1000 hatte der arabische Mathematiker, Philosoph und Physiker Abu Ali al-Hasan Ibn al-Haitham, in Europa bekannt unter dem Namen Alhazen, ein Buch über das perspektivische Sehen geschrieben. Seine Erkenntnisse wurden jedoch, obwohl es technisch möglich gewesen wäre, nicht auf bildliche Darstellungsweisen übertragen, weil es nicht den Denk- und Anschauungsweisen dieser Zeit und Region entsprochen hatte.
Das Betrachten nicht-perspektivischer Bilder war wie das Lesen einer Geschichte: Der Bildaufbau wurde durch die Bedeutung, die den Figuren oder Zeichen auf dem Bild innewohnten, strukturiert. Das Betrachten eines zentralperspektivisch dargestellten Bildes hingegen wird zu einem Blick auf eine Szene, deren perspektivischer Ausgangspunkt die betrachtende Person selbst ist. Die Fluchtlinien, die sich am Horizont an einem Punkt vereinen sowie die Geometrie von Entfernung und Größenverhältnissen, suggerieren ein realistisches Abbild von der Wirklichkeit. Der Blickpunkt, die Blickrichtung sind mit dem eigenen Standpunkt identisch. Es ist der eigene subjektive Blick auf die Szene, der das Bild konstituiert. Diese Perspektive erscheint uns heute nicht mehr besonders spektakulär, weil eine räumliche Art der Darstellung so vertraut, quasi natürlich erscheint. Sie ist jedoch Ausdruck einer veränderten Weltanschauung und Wahrnehmung. Sie gilt nicht nur als Paradigmenwechsel in der Malerei, sondern auch im Verhältnis des Menschen zur Welt und kann somit als Geburtsstunde des Subjektes bezeichnet werden.
Die Fähigkeit des geometrisch-perspektivischen Zeichnens war für viele neuzeitliche Entwicklungen wertvoll, hatte jedoch auch zur Folge, dass diese spezielle Konstruktion eines Bildes nunmehr als die einzig richtige, universelle und realistische galt. Mit diesem Blickwinkel erscheint alles sehr eindeutig, maßstabsgerecht, linear, berechenbar, voraussehbar. Mit der Durchsetzung der zentralperspektivischen Darstellungsweise und Architektur begann eine Zähmung, Kontrolle und Abwertung all dessen, was chaotisch, zufällig, zyklisch oder einfach anders ist.
Foto-Objektiv
Die Fotografie bietet sich nun an als Zentralperspektive in Perfektion. Das monokulare, also einäugige perspektivisch austarierte Foto, schafft eine Illusion von Raum, von Realität, von Abbild. Wir vergessen dabei jedoch, dass unser Sehen binokular, also zweiäugig ist, dass unser Blick unbegrenzt, in ständiger Bewegung und an den Rändern unscharf ist und dass er auch keinen Fluchtpunkt besitzt, so Eric Aichinger. Wir sind in der Lage, nach rechts und links zu blicken, uns einem Etwas zuzuwenden, was erst auf den zweiten Blick zu sehen ist oder jenseits des Mainstreams liegt. Vor allem bleibt die Rolle des oder der Fotograf*in bei dokumentarischen Bildern zu hinterfragen. Sie selbst und ihr Hintergrund sind in den Bildern nicht transparent. Ebenso sind die Rahmenbedingungen unsichtbar, die Fotos in ihrer Aussagekraft bestimmen, auch gerade durch das, was sie nicht darstellen. Die verführerische Illusion von Realität war genau das, was die Faszination der Fotografie vor allem in den Anfängen ausmachte.
«Wir sind in der Lage, nach rechts und links zu blicken, uns einem Etwas zuzuwenden, was erst auf den zweiten Blick zu sehen ist oder jenseits des Mainstreams liegt.»
Auch wenn es im künstlerischen und journalistischen Selbstverständnis immer wieder Ansätze einer kritisch reflektierten Fotografie gab, gilt bis heute weitgehend das Objektiv als Garant für Objektivität oder Neutralität. Als hätte die Momentaufnahme, die abhängig von technischen, chemischen und subjektiven Faktoren ist, mehr Wahrheitsgehalt als zum Beispiel eine Erinnerung, ein Bekenntnis oder eine Erzählung. Und obwohl alle von der einfacher werdenden Manipulierbarkeit wissen, gilt das Foto immer noch als Beweis für Realität, nach dem Motto: «so war es». In diesem scheinbaren Beweis einer richtigen Realität ist der Beweis für die Abweichung immer auch schon enthalten. Was als Norm und Abweichung konstruiert wird, ist in weiblichen Krankheitsbildern als gesellschaftsstrukturierende Geschlechtsbilder besonders wirkmächtig.
Ein Beispiel dafür sind die Fotolabore, die der Pathologe und Neurologe Jean-Martin Charcot im Paris des 19. Jahrhunderts in der Salpêtrière (Nervenheilanstalt) einrichten ließ. In ihrem Buch Nicht ich Logik-Lüge-Libido beschreibt Christina von Braun das folgendermaßen: «Die Fotos der Hysterikerinnen, die dort entstehen, zirkulieren durch ganz Europa und erregen großes Aufsehen. Sie werden als ‹Abbildungen› der Realität betrachtet, als Dokumente eines ‹echten› Symptoms, des ‹wahren Körpers›. Diese Fotos trugen dazu bei, die Hysterie zu ‹rehabilitieren›, sie von ihrem Ruf der Simulation und ‹Lüge› zu befreien. [...] Die ‹Echtheit› wird durch die realistische Bildtechnik der soeben erfundenen Fotografie belegt. [...] In Wirklichkeit sind aber ein Gutteil der Fotos, die in der Salpêtrière entstehen, gestellt. Zum Teil aus technischen Gründen: ... die Belichtungszeit ist noch zu lang, ... Zum Teil aber auch aus ideologischen Gründen: fotografiert wird nur, was den Lehren des Meisters entspricht. Ich bin ‹nur der Fotograf›, sagt Charcot, aber was ‹echte› Symptome sind, bestimmt er.»
Fast zeitgleich, als Charcot seine Fotos in die Welt sandte, sind in Paris und London die ersten Studien über Magersucht erschienen. Von Braun analysiert den ideengeschichtlichen Zusammenhang von Hysterie und Magersucht, in dem die Fotografie und auch das Alphabet eine wichtige Rolle spielen: Hatte das Alphabet damit begonnen, Bilder zu Schrift umzuwandeln, um sich dann von den Bildern zu lösen und als bilderlose, abstrakte Schriftzeichen geistige Höhenflüge und körperlose Utopien zu ermöglichen, können die «technischen Bilder» der Neuzeit wiederum als Bild gewordene Schrift begriffen werden, als verkörperte, magisch aufgeladene Schrift. Die neue technische Bildsprache ist die der unendlich reproduzierbaren künstlichen und künstlerischen Frauen- und Menschenbilder. Was die Frauenbilder, die Bilder der Anderen, die abweichenden Bilder der Norm betrifft, nimmt eine neue Ausdrucks- oder Widerstandsform Gestalt an: die Magersucht.
Doppelgesicht der Magersucht
Christina von Braun schlägt einen historischen Bogen. Sie beginnt mit der Verfolgung von Frauen als Hexen: Die reale lebendige Frau, ihre Macht, ihr Wissen um Geburt und Tod, wird zu vernichten versucht. Was die Scheiterhaufen von der realen Frau übrig gelassen haben, so von Braun weiter, mag sich in den unberechenbaren und unerklärlichen Symptomen der Hysterikerin noch einmal aufbegehrenden Ausdruck verschafft haben. Die Hysterikerin ist es, die mit Macht den Körper wieder ins Spiel bringt. Sie inszeniert, übertreibt die Zuschreibungen, bleibt so Regisseurin ihres Körpers, spielt den Part Frau. Vielleicht letzte Versuche, der Entleibung des Geistes, der Vorherrschaft des logischen, naturwissenschaftlichen Prinzips über die Materie etwas entgegenzusetzen. Und schließlich ist da der reale und aktuelle Frauenkörper, der sich konfrontiert sieht mit vielfältigsten Bildern, wie Frau definiert wird. Und er zieht es vor, zu verschwinden. Zu dem Zeitpunkt, als mit der Fotografie ein Kunstprodukt entsteht, das alle für Realität halten, weigert sich die Anorektikerin (die Magersüchtige), zum Kunstprodukt Frau zu werden.
«Zu dem Zeitpunkt, als mit der Fotografie ein Kunstprodukt entsteht, das alle für Realität halten, weigert sich die Anorektikerin (die Magersüchtige), zum Kunstprodukt Frau zu werden.»
Diese Interpretation sieht in der Magersucht einen verzweifelten Versuch, sich die enormen Fremdzuschreibungen von Frauenrollen vom Leibe zu halten und mit Macht das «Ich» zu schützen, auch um den Preis des Todes. Wenn Essen Leib und Seele zusammenhält, dann trennt die Weigerung zu essen vielleicht Leib und Seele voneinander und schützt so die Seele vor dem Prozess der Entfremdung, der Objektiv-Betrachtung, den der Körper erfährt. So gesehen sind die Werbefotos mit den magersüchtigen Models nicht die Ursache von Magersucht, sondern Zeichen einer Bildermacht, in der jede reale Frau – in Konkurrenz zur immer perfekter selbst optimierten Kunst-Frau – gnadenlos unterlegen scheint. Und wenn wir uns schließlich auf die Suche begeben nach der Frau, die kein Kunstprodukt ist, und sie in einer ursprünglichen, ganzheitlichen, wahren oder natürlichen Körperlichkeit zu finden hoffen – dann finden wir nichts Anderes als weitere Bilder. Was also tun?
Über Bilder sprechen
Die heutige Bilderflut im Netz wirkt wie eine Selbstvergewisserung «schau, ich bin», als gäbe es ohne das Bild keine Realität. Angesichts der Selfie-Begeisterung scheint sich die Polarität von Subjekt hinter und Objekt vor der Kamera gänzlich aufzulösen, aber in welche Richtung? Haben wir es mit einer Selbst-Objektivierung oder Subjekt-Aneignung zu tun?
Vielleicht könnte es darum gehen, Bild und Sprache wieder zusammen zu bringen? Über Bilder sprechen, statt reflexhaft darauf zu reagieren? Wo es möglich ist, wirksam Einfluss zu nehmen auf das eigene und gemeinsame Leben, mögen Bilder nicht mehr lebendiger erscheinen als Menschen. Vielleicht geht es darum, der Sterblichkeit zu vertrauen ebenso wie der Fähigkeit, einen neuen Anfang zu machen, gebunden an das Leben, die Materie und die Freund*innenschaft.