Alle reden übers Auto. Nur die radikale Linke nicht. Das ist schade, wenn man bedenkt, dass sich die Autoindustrie gerade in einem radikalen Umbruch befindet, und dass sie nicht nur eine der Schlüsselindustrien des globalen Kapitalismus, sondern auch die Schlüsselindustrie des deutschen Kapitalismus ist: Ob beim Exportvolumen oder bei den Arbeitsplätzen, Deutschland ist Autoland wie kein anderes auf der Welt. Die Probleme, die so eine Autogesellschaft produziert, sind mittlerweile hinlänglich bekannt: Verkehrstote, Ressourcenhunger, Luftverschmutzung, Korruption, Betrug, Mobilitätsinfarkt, Klimazerstörung…
Der Verkehrssektor generiert 20 Prozent der deutschen Treibhausgase und ist damit drittgrößter Verursacher von Emissionen. Laut Umweltbundesamt entfallen davon 95 Prozent auf den Straßenverkehr – Tendenz steigend. Dies nicht zuletzt, weil sich die deutsche Autoindustrie darauf fokussiert hat, immer größere, schwerere und teurere Wagen zu produzieren. Deutschland ist vor allem deshalb «Exportweltmeister», weil es Luxusschlitten in die gesamte Welt verbreitet und überall das Klima verpestet. Dieses mörderisch-profitable Modell schlittert langsam, aber sicher in eine tiefe Krise: Die immer noch hohen Verkaufs- und Exportzahlen täuschen derzeit noch darüber hinweg, dass die automobile Industrie in Deutschland und Europa an ihre Grenzen stößt. Schon jetzt ist der globale Konkurrenzdruck spürbar. Derartiger Druck wird, wie im Kapitalismus üblich, direkt auf die Schwächsten in den globalen Lieferketten durchgestellt. Während in den Kernländern der Autohersteller langsam tausende Stellen gestrichen werden, stehen Zuliefererbetriebe in den Peripherien teilweise schon jetzt vor dem totalen Aus. Massenhafte Entlassungen können erhebliche soziale Verwüstungen hervorrufen, und angesichts des massiven Rechtsrucks in Europa ist zu befürchten, dass davon nicht die linken Kräfte profitieren werden.
Ein aktivistischer Angriff auf die Industrie ist daher mit nicht unerheblichen Risiken verbunden: Es ist ein Angriff auf das zentrale Rückgrat des deutschen Exportkapitalismus sowie auf den Klassenkompromiss der heteronormativen, bürgerlichen Kleinfamilie, der im Familien-SUV seine materielle Manifestation erhält. Andererseits, was tut eine interventionistische, antikapitalistische Linke, wenn sie nicht in die Auseinandersetzung um die Zukunft des deutschen Kapitalismus interveniert? Aus all diesen Gründen muss ein Kampf gegen die ‹heilige Kuh› der deutschen Wirtschaft immer auch als transformativer Prozess verstanden werden, der die großen Fragen stellt. Solche, die derzeit auch von FridaysForFuture oder ExtinctionRebellion aufgerufen werden: Wie wollen wir uns bewegen? Wie und wo wollen wir wohnen? Wie arbeiten? Die Braunkohle war und ist für das Klima wichtig, hat für die gesamtdeutsche Gesellschaft jedoch nur begrenzte Bedeutung. Der Kampf um die Zukunft der Autoindustrie kann dagegen zum Kampf um die Zukunft der deutschen Gesellschaft werden. Wie kann und soll eine soziale Bewegung diesen Kampf führen?
Einen besseren Zeitpunkt wird es nicht geben
Die historische Analyse zeigt, dass soziale Bewegungen eine besondere Kombination von Bedingungen brauchen, um erfolgreich und wirkmächtig zu werden, um an den naturalisierten Verhältnissen zu rütteln. Diese Bedingungen, glauben wir, sind jetzt gegeben.
Erstens braucht es, als Resonanzraum für die radikalen Diskurse der Bewegung und als politische Produktivkraft, eine gewisse Frustration in der Bevölkerung: Die unzureichende Aufarbeitung des größten Industrieskandals der deutschen Geschichte (Diesel und Kartellabsprachen) sowie ein völlig rückwärtsgewandtes Produktionsmodell der deutschen Autoindustrie (Verbrennungsmotor und SUV) geben genug Material her, um das Feuer dieser Frustration zu schüren. Es gibt einen weit verbreiteten Unmut in der Bevölkerung ob der politisch-wirtschaftlichen Fokussierung auf das Auto, der im politischen System durch Dummdreistigkeit (Scheuer) oder Untätigkeit (Merkel/Schulze) noch verstärkt wird.
Zweitens muss sich das politische System zur Lösung der den Frust produzierenden Frage unfähig erweisen. Das Verkehrsministerium sowie die Kanzler*innenschaft verstehen sich seit jeher als Wegbereiter*innen der Autoindustrie. Dies ist angesichts ihrer wirtschaftlichen Stellung nicht überraschend, lässt aber viel Raum für populare Kritik an der gefährlichen Verflechtung von Autobossen und politischer Elite. Der völlig unfähige Autominister Scheuer wird dabei mit seiner eindeutigen Positionierung als Pausenclown der Autoindustrie zum perfekten Feindbild. Dies erscheint uns angesichts der jüngsten Erfahrungen nicht unwichtig: Denn obwohl der Hambacher Wald seit Jahren besetzt war, wurde er erst zum international bekannten Symbolort, als Rwe und die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen durch die Räumungsankündigung ihren Gegner*innen den größten Sieg ihrer – unserer – Geschichte bescherten.
Drittens – und hier schließt sich der Kreis – braucht es radikale Akteure, die diesen Frust abholen und in Bewegung und Aktionen kanalisieren können. Die Klimagerechtigkeitsbewegung ist in den letzten Jahren stark gewachsen, hat viel gelernt und steht jetzt an einem Punkt, wo der Kampf über die Braunkohle hinausgehen und sich weitere Felder erschließen muss. Denn erstens ist die Braunkohle hierzulande nur die Vorhölle der Klimazerstörung und zweitens kommen wir an den Kern des Problems eben nicht ran, wenn wir den Antikapitalismus nicht noch ein bisschen hochfahren.
Identifikation und Leidensdruck
Nicht zuletzt braucht erfolgreicher Widerstand ein direktes Identifikationspotential mit den und glaubhafte Betroffenheit der Aktiven. Während das bei Sozialabbau oder Häuserkämpfen viel einsichtiger ist, bleiben Klimakrise wie auch Kapitalismus als Feindbilder zumindest hierzulande oft abstrakt. Klimaschädliche Emissionen werden überall und deshalb auch nirgendwo produziert. Verantwortliche und damit Feindbilder sind schwer auszumachen, die Leidtragenden befinden sich meist tausende Kilometer weit weg oder aber in zukünftigen Generationen.
«Das Mobilisierungspotenzial einer solchen Bewegung basiert auf der Tatsache, dass im Grunde jede*r Stadtbewohner*in von den dysfunktionalen Verkehrssystemen in unseren urbanen Lebensräumen geplagt ist.»
Doch mit dem System Auto verhält es sich anders. Das Mobilisierungspotenzial einer solchen Bewegung basiert auf der Tatsache, dass im Grunde jede*r Stadtbewohner*in von den dysfunktionalen Verkehrssystemen in unseren urbanen Lebensräumen geplagt ist. Zunächst einmal ist es eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass der Platz in unseren Städten zu einem großen Teil den Scheißautos vorbehalten bleibt. Deutlich weniger Raum steht nachhaltigen Transportmitteln wie Fahrrad oder Öffentlichem Nahverkehr zur Verfügung, ganz zu schweigen von kostenlosem Raum für gemeinschaftliche Begegnung oder Naherholung. Außerdem ersticken wir alle jeden Tag an der von Autos verpesteten Luft, bald können sich nur noch Reiche Wohnorte (und die dazugehörige Mobilität) an der frischen Luft leisten. Die europäische Ärztegemeinschaft geht inzwischen davon aus, dass europaweit 800.000 verfrühte Todesfälle auf die unter anderem von Autos verursachte Luftverschmutzung zurückzuführen sind. Und wie uns die Geschichte der Umweltgerechtigkeit zeigt: Es sind meistens arme und marginalisierte Menschen, die an solchen Verschmutzungs-Hotspots wohnen. In manchen asiatischen Großstädten ist der Aufenthalt im Freien nur noch mit Atemmasken möglich.
Die jüngste absurd geführte Debatte um eine mögliche Höchstgeschwindigkeit auf deutschen Autobahnen (Scheuer: «Tempolimits gehen gegen jeden Menschenverstand!») hat wiederholt den Sicherheitsaspekt hervorgebracht: Autos sind mörderische Maschinen, die jedes Jahr zu tausenden Todesfällen und Schwerverletzten führen. Und: Je größer und schneller die K(n)arre, desto schlimmer der Schaden!
Nicht zuletzt verstößt das System Auto gegen jegliche Ressourceneffizienz: Unser Verkehrssystem ist so aufgebaut, dass 1 bis 2 Tonnen Auto in der Regel circa 80 Kilogramm Mensch für meist nur wenigste Kilometer befördern. Und das noch nicht mal besonders schnell, denn die Durchschnittsgeschwindigkeit überschreitet aufgrund völlig verstopfter Straßen oft nicht das Schritttempo. Es zeigt sich also: Wir alle leiden unter dem System Auto. Vor allem, aber nicht nur, in den Innen- und Großstädten. Das eröffnet antikapitalistischen Projekten erhebliche neue Bündnispotenziale. Hier können wir mit Initiativen aus der Nachbarschaft, den Abgehängten sowie der bürgerlichen Mittelklasse Kampagnen und Aktionen entwickeln, die auf lokaler Ebene Hebelpunkte gegen das System Auto entwickeln. Und damit auch in diesen Kreisen ein hohes Organisierungs- und Radikalisierungspotenzial entfalten.
Alternativen liegen auf dem Tisch
Ein weiteres Kernelement erfolgreicher sozialer Bewegungen ist die Existenz glaubhafter materieller Alternativen – zum Beispiel: ohne erneuerbare Energien kein Atomausstieg. Wir glauben zwar, dass es nicht ihre Aufgabe ist, Beschäftigungskonzepte für die Mitarbeiter*innen der Industrie oder neue Stadt- und Verkehrskonzepte zu entwickeln – dafür braucht es keinen Antikapitalismus. Dennoch zeigen historische Erfahrungen, dass die Existenz von Alternativen die Wirkungsmacht einer Bewegung deutlich vergrößert. In dem Sinne konstatieren wir: Der Umbau unserer Städte im Sinne einer solidarischen Verkehrswende ist mittlerweile eine Frage der politischen, nicht mehr der materiellen Machbarkeit.
Zahlreiche Beispiele zeugen davon, wie Städte über politischen Druck von unten von Autos befreit werden können: Es bedarf einerseits der Förderung umweltfreundlicher und effizienter Verkehrsmittel, wie Rad, ÖPNV und Fußverkehr. Dies muss mit Konzepten wie der «Stadt der kurzen Wege» kombiniert werden, sodass lange Strecken und unnötiger Verkehr vermieden werden können. Gleichzeitig muss der Autoverkehr durch sozial ausgleichende Ordnungspolitik gezielt verdrängt werden, um nicht die zu treffen, die sich Alternativen nicht leisten können (siehe Proteste der Gilets Jaunes). Ein Umbau der Verkehrssysteme würde unsere Städte aber auch gemeinschaftlich beleben, da mehr sicherer und sauberer Raum für alle entstünde. Seit Jahren und Jahrzehnten gibt es bereits zahlreiche lokale Kämpfe gegen das Auto. Während die einen in kreativen «Parking Day»-Aktionen auf den demokratischen Aspekt von Raum und Platz in unseren Städten aufmerksam machen, kämpfen die anderen für günstigen oder ticketfreien Nahverkehr, wieder andere stärken den Radverkehr mit Petitionen und Bürger*innenbegehren. Damit beweisen langjährige anarchistische Aktionen wie in Gießen (Verkehrswende-Straßenfeste, Selbstbau-RegioTram…) oder der Fahrrad-Volksentscheid in Berlin, dass kreative und nachhaltige Verkehrskonzepte auch in die kommunale Politik einfließen können. Von diesen lokalen Kämpfen gilt es zu lernen.
Kristallisationspunkt Automobilausstellung
Dennoch bleiben diese Aktionen auf das Lokale und Dezentrale begrenzt, eine breitere Bewegung braucht gemeinsame, übergreifende Kristallisationspunkte. Nicht zuletzt, um den Herrschenden noch mehr Druck zu machen und um medial relevant zu werden. Wir müssen einen neuralgischen und leicht angreifbaren Punkt der Autoindustrie besetzen, um die gesellschaftliche Aufmerksamkeit endlich auf die Vielen zu lenken, die unter dem System Auto leiden. Doch was ist für die Autoindustrie das, was für die Kohleindustrie der schockierend-hässliche und taktisch nicht zu verteidigende Kohletagebau ist? Wo ist die Achillesferse der Autoindustrie, die von einer aktionistischen Strategie angegangen werden könnte?
«Doch was ist für die Autoindustrie das, was für die Kohleindustrie der schockierend-hässliche und taktisch nicht zu verteidigende Kohletagebau ist? Wo ist die Achillesferse der Autoindustrie, die von einer aktionistischen Strategie angegangen werden könnte?»
Lange wurde in der Bewegung herumdiskutiert, bis die Idee aufkam: Die Internationale Automobilausstellung (Iaa) blockieren, die alle zwei Jahre in Frankfurt stattfindet und die größte obszöne Glitzermesse der kriminellen Autoindustrie darstellt. Den knapp eine Million Besuchern werden die neuesten luftverpestenden und klimaschädlichen Kutschen präsentiert, die dem deutschen Exportkapitalismus den Schwarzmeerkaviar auf den Teller zaubern. Hier wird eine Zukunft unter dem Motto «Driving tomorrow» präsentiert, wenn es eigentlich heißen müsste: Hier suhlt sich die kapitalistische Externalisierungsgesellschaft in ihren mörderischen Fetischen.
Hier kommen knapp eine Million Besucher, um sich luxuriöse Autos anzuschauen, die sie sich nie werden leisten können, und um leichtbekleidete Frauen zu begaffen, die sie nie ‹haben› werden. Hier wird die konsumistische Sehnsucht nach einem Luxusprodukt untermauert, die uns alle dem Bruttosozialprodukt hinterherrennen und am Ende des Monats nicht wissen lässt, wie wir die Miete bezahlen sollen.
Wir wollen die Iaa stören und die frohe Botschaft verkünden, dass viele von uns die stinkende Luft der SUVs nicht mehr atmen wollen. Wir brauchen einen bunten, lauten und breiten Protest, der interveniert und blockiert.
Wir glauben, dass jetzt alle Bedingungen gegeben sind, um damit einen solchen Kristallisationspunkt für eine Anti-Auto-Bewegung zu schaffen. Gleichzeitig können die schon bestehenden Gruppen und Aktionen gegen das Auto, die sich auf lokaler Ebene finden, als Anknüpfungspunkte für eine breite Verwurzelung dienen. Denn gerade langfristiger Bewegungsaufbau lebt davon, dass Aktivist*innen sich nicht nur auf Massenevents einmal im Jahr sehen, sondern dass sie vor Ort in ihren Lebenswelten weiterkämpfen können. Und wirklich jede auch nur mittelgroße oder kleine Stadt bietet dafür die besten Anknüpfungspunkte. Denn das System Auto hat es in den letzten 70 Jahren geschafft, unsere Gesellschaft komplett zu durchdringen. Insofern sehen wir auch keinen Widerspruch zwischen lokalen Kämpfen und größeren Massenaktionen, sondern vielmehr die transformative Kraft, die sich durch das Zusammenspiel des Drucks von unten zeigt. Und den wollen wir jetzt gemeinsam aufbauen!