Ich blinzle ein paar Mal verschlafen. Im Zelt ist es warm, ein wenig zu warm, um noch länger liegen zu bleiben. Mein erster Gedanke: Was brauche ich gerade? Kühle Luft. Was noch? Eins nach dem anderen. Ich fummle den Reißverschluss meines Schlafsacks auf und stapfe barfüßig raus ins Stroh, das unter meinen Fußsohlen noch taufeucht ist. Die Sonne kriecht gerade über das große gelb-rot gestreifte Zirkuszelt, das am Eingang des Camps steht. Aufgewirbelte Staubkörnchen tanzen im frühen Morgenlicht, der leichte Dunst verschleiert die Sicht. Ich mache ein paar verschlafene Schritte, sammle Kraft, nehme Anlauf und schwinge mich noch etwas unbeholfen auf einen großen Heuballen, der mitten auf der Fläche zwischen Zirkus-, Workshop- und Schlafzelten liegt. Dort sitze ich für ein paar Minuten, beobachte meine Umgebung und überlege nochmal: Was brauche ich gerade?

Während ich nachdenke, schlendern Menschen vorbei. Einige allein, manche in Gruppen. Ein Mensch summt vor sich hin, zwei legen die Arme umeinander. Ein paar wirken eilig. Frühstückshunger? Volle Blase? Vielleicht beides. Ich sehe ihnen nach, auf der Suche nach Beweisen für meine Theorien. Alle tragen dünne Sommerkleidung. Kleidung, die Stellen eines Körpers offenbart und freilegt, die einem gesellschaftlichen Anpassungsdruck – zumindest in sogenannten ‹modernen› kapitalistischen Gesellschaften – unterliegen: Beine, Achseln, Brüste.

«Und während ich da so sitze, auf meinem Heuballen, merke ich, wie unheimlich frei ich bin. Befreit von strengen Vorstellungen, wie Menschen auszusehen haben.»

Ich selbst kann nur über meine persönlichen Körperkämpfe erzählen. Solche, die sich aus einer Position als cisgender Frau in der momentanen spätkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ergeben. Letztere – so habe ich den Eindruck – versteht den menschlichen Körper als etwas Imperfektes. Etwas, das entlang eines engen Idealtypus transformiert und angepasst werden kann und soll. Frauen mit rasierten Beinen. Flachen Bäuchen. Vollen, langen Haaren. Männer mit ausdefinierten, starken Muskeln. Binäre Geschlechterordnung sowieso. Und während ich da so sitze, auf meinem Heuballen, merke ich, wie unheimlich frei ich bin. Befreit von strengen Vorstellungen, wie Menschen auszusehen haben. Hier sind es nur noch Menschen in Röcken und Kleidern und Baggypants und Schlabberpullovern mit Löchern im Stoff oder ohne. Mit dichter Körperbehaarung oder ohne. Mit Tattoos, rasierten Köpfen und Lippenstift.

Über die Frage, was ich gerade brauche, denke ich erst wieder nach, als auch ich eilig werde. Frühstückshunger. Und volle Blase. Sehr voll – huch, jetzt aber schnell. Ich springe vom Heuballen und sause zu den Toiletten. Neben einer Reihe Komposttoiletten gibt es hier auch Hock-Pissoirs, was ich ziemlich abfeiere - entlastet die Sitzklos und bockt einfach richtig. Eine kleine Stufe hoch, kann dort jede*r, durch einen Vorhang vor Blicken geschützt, im Hocken pinkeln. Vor lauter Begeisterung gehe ich jetzt sogar manchmal pinkeln, obwohl ich noch gar nicht richtig muss – etwas, das mir als Mensch mit Vulva vorher beim Zelten eher nicht passiert wäre.

Als ich mit entleerter Blase entspannt zum Frühstück spaziere, treffe ich Menschen aus meiner Nachbar*innenschaft. Das Klimacamp versucht eine Gesellschaftsordnung zu etablieren, die sich auf basisdemokratische Prinzipien stützt. Jeden Tag treffen sich Menschen, die absichtlich oder zufällig in gemeinsamer Nähe – einer Nachbar*innenschaft – zelten, um zu besprechen, wie es ihnen gerade geht. Was sie womöglich stört. Was sie begeistert und wo sie Veränderungsbedarf sehen. Aus jeder Nachbar*innenschaft, die in der Regel zwischen 5 und 20 Menschen umfasst, tragen dann sogenannte Delegierte (kurz: «Delis», in der Regel 1-2 Menschen, Besetzung wechselt im besten Fall täglich) die Wünsche und Anregungen ins Deli-Plenum, das einmal am Tag stattfindet. Dort wird dann weiter über mögliche Lösungen und Strategien für verschiedene Probleme beraten. Die Ergebnisse der Plena werden dann in die Nachbar*innenschaften zurückgetragen und zur Sicherheit auch in großer Runde im Zirkuszelt verkündet.

«Der Anspruch, alle zu Wort kommen zu lassen, auf ­individuelle Bedürfnisse einzugehen und eine ­ausgeglichene Gesprächskultur zu etablieren, erfordert Ausdauer, Empathie und Gelassenheit.»

Bei bis zu 1000 Menschen, von denen Einige noch nie von basisdemokratischen Prinzipien gehört, danach gehandelt oder gelebt haben, erstaunt es mich immer wieder unheimlich, wie gut das Konzept funktioniert. Natürlich sind die einzelnen Plena oft lang und irgendwann anstrengend. Der Anspruch, alle zu Wort kommen zu lassen, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen und eine ausgeglichene Gesprächskultur zu etablieren, erfordert Ausdauer, Empathie und Gelassenheit. Nichtsdestotrotz ist das Ergebnis die größtmögliche Partizipation am Zusammenleben. Und ist das nicht das allerschönste Gefühl, das Menschen in einer Gemeinschaft erfahren können? Zu merken, dass sie Teil ebendieser sind? Dass ihre Bedürfnisse gesehen, respektiert und möglicherweise nach ihnen gehandelt wird? Die Betrachtung, dass eine Auseinandersetzung mit sich selbst nicht nur toleriert, sondern eine Voraussetzung für ein funktionierendes Zusammenleben ist?

Mein Magen knurrt mich gefährlich an und gemeinsam stellen wir uns in die Frühstücksschlange. Eingereiht in die bunteste Ansammlung an Menschen, die ich seit langer Zeit gesehen habe. Ein Mensch, den ich gestern kennengelernt habe, bringt mir ein neues Wort bei. Pareidolie: Das Phänomen, in verschiedenen Formen bekannte Dinge zu erkennen. Gemeinsam stehen wir nun also dort und ‹pareidolieren› auf den Wolken. Endlich bei der Brot-Schmier-Station angekommen, nehmen wir uns Teller und frisch gebackenes Brot: Klimacamp-Zeit ist Graubrot-Zeit. Riesige Laibe werden ununterbrochen von Menschen in der Camp-Küche gebacken – Tag und Nacht. Ich bestreiche die Scheiben mit veganem Aufstrich – alles an Essen auf dem Camp ist vegan – und setze mich mit anderen Menschen auf den Heuballen, auf dem ich auch schon meinen Tag begonnen habe. Die Sonne ist höher gestiegen, es wird heiß. Ich beiße in mein Brot, mein Magen schnurrt.

Auch die Camp-Organisation verfolgt ein partizipatives Konzept: Alle sollen nach ihren individuellen Möglichkeiten mithelfen. Die Aufgaben sind vielfältig und reichen von Toiletten putzen, Essgeschirr abspülen, Nachtwache, Bau von Camp-Infrastruktur, Brot backen, Gemüse schnippeln und Essensausgabe bis zu Workshop-Leitung, Gruppenmoderation und Infopoint-Schichten. Für alle ist also was dabei. Mir macht das Abspülen viel Spaß: Das Eintauchen mit den Händen ins lauwarme Wasser. Eine Weile mit fremden Menschen zusammen zu sein, die gleich danach gar nicht mehr fremd, sondern so nah erscheinen, als wären wir kurz nicht nur mit den Händen ins Wasser, sondern auch gegenseitig in unsere Leben eingetaucht. Nach dem Abspülen gehe ich zum Infopoint und sehe mir das Programm für heute an: Moderations-Workshop, Vortrag über nachhaltigen Aktivismus, Workshop über eine Wirtschaftsordnung abseits von Wachstum und Profit, Kino. Ich will alles auf einmal machen.

Für mich ist das Klimacamp eine riesengroße, knallbunte gesellschaftliche Spielwiese, auf der ich Zusammenleben neu begreife, ebenso wie mich selbst und den Umgang mit Dingen, die für mich völlig selbstverständlich sind. Geld zum Beispiel. Normalerweise habe ich welches, manchmal auch nicht. Wenn ich was haben will, muss ich dafür bezahlen. Preise orientieren sich nicht am Wert eines Gutes, sondern an Nachfrage und Knappheit. Hier nicht. Hier überlege ich, wieviel ich habe und wieviel ich für das Essen bezahlen kann. Zugrunde liegt das Solidarprinzip: Menschen mit mehr Geld geben mehr und schaffen damit einen Ausgleich für Menschen, die nichts oder nur wenig haben. Dadurch wird die Teilnahme am Camp für alle möglich.

Über die Frage, was ich brauche, habe ich längst aufgehört nachzudenken. Für heute zumindest. Ich habe alles, ich brauche nichts. Genug kann ein richtiges Fest sein. Ich lege mich in die Sonne, werde auf der Nase gekitzelt, lasse mich treiben und sehe was passiert. Ich ‹pareidoliere› noch ein wenig auf den Wolken. Oh, ein ‹Kapitalismus-zum-Frühstück-verspeisendes Wolkenmonster› schwebt direkt über mir. Sieht ziemlich zufrieden aus – scheint geschmeckt zu haben. Wie schön.

Zeitsprung

Ich blinzle ein paar Mal verschlafen. Der Bauwagen ist über Nacht ausgekühlt, meine Nasenspitze ist feucht und kalt. Ich rolle mich aus dem Bett, hüpfe drei Meter und hocke mich vor den Holzofen. Ich taste im Dämmerlicht nach Anzündhölzchen und Zeitung, baue eine Pyramide aus Holz und Papier und zünde sie an. Es knistert. Es qualmt. Nach einer kurzen Weile kann ich ein größeres Holzscheit nachlegen. Ich setze mich im Schneider*innensitz auf die Fußbodenverkleidung und genieße einen Moment Ruhe und Unbekümmertheit. Dort sitze ich nun, wissend, dass ich diesen Artikel schreiben werde und sinniere über die Frage, inwiefern mich Klimacamps beeinflusst haben. Schnell merke ich: Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob sie Anstoß oder Ursache, Anteil an oder Ausschlag für Veränderungen waren. Alles, was ich weiß, ist, dass es sie gibt, große Veränderungen.

Ich begreife meine letzten Jahre als eine Entwicklung. Angetrieben durch die fortschreitende Auseinandersetzung mit mir selbst, meinen Wünschen, Grenzen und Idealen. Verursacht durch Resonanzräume, wie das Klimacamp. Eine Veränderung, bei der ich immer mehr lerne, Verantwortung für mein Handeln, meine Gefühle und Privilegien zu übernehmen. Internalisierungen nicht als gegeben zu akzeptieren, den Kampf gegen (unhinterfragt, unfreiwillig) rasierte Frauenbeine weiterzukämpfen, auch wenn die Externalisierung durch Medienrealität und Gesellschaftsbild erst verwischt und dann verloren gegangen ist. Klimacamps haben mir eine partizipative Alternative gezeigt und vorgelebt. Eine Alternative, die ich heute auf Teile meines Lebens übertragen kann, doch längst nicht auf alle. Vielleicht braucht es dafür mehr Wolkenmonster. Oder Klimacamps. Oder beides.