Für Gesundheitsaktivist*innen kann sie schlichtweg ernüchternd sein. Wir beschäftigen uns damit, wie kapitalistische Produktionsweisen krank machen, wie institutioneller Rassismus und Sexismus die psychische und physische Gesundheit negativ beeinflussen, wie sozio-ökonomische Ungleichheiten gesundheitliche Ungleichheiten bedingen. Wir befassen uns mit der Unfähigkeit eines immer stärker auf Profit ausgerichteten Versorgungssystems, Menschen zu einer besseren Gesundheit zu verhelfen. Wir mobilisieren für Streiks in der Pflege, organisieren Demos für die Abschaffung des §219a und damit für sexuelle Selbstbestimmung. Wir gehen Bündnisse mit anderen Akteuren im Gesundheitswesen ein, um dem Wahnsinn in unseren Krankenhäusern menschenwürdige Alternativen entgegenzusetzen. Wir organisieren uns auf lokaler Ebene als KritMed-Gruppen an fast allen medizinischen Fakultäten, sind deutschlandweit eng vernetzt als Kritische Mediziner*innen Deutschland und pflegen global Kontakte zum People’s Health Movement, einer Grassrootsbewegung, die besonders in Ländern des Globalen Südens für Aufruhr und Wandel sorgt.
«Während wir uns mit Strategien beschäftigen, wie wir für Gesundheitsgerechtigkeit kämpfen können, lauert am Horizont ein riesiges Monster, das wir nicht verstehen, das sich schwer greifen lässt und das droht, all die Errungenschaften im Bereich der globalen Gesundheit und darüber hinaus zu vernichten.»
Während wir uns mit Strategien beschäftigen, wie wir für Gesundheitsgerechtigkeit kämpfen können, lauert am Horizont ein riesiges Monster, das wir nicht verstehen, das sich schwer greifen lässt und das droht, all die Errungenschaften im Bereich der globalen Gesundheit und darüber hinaus zu vernichten. Ein brutales Monster, das, während es die Welt verwüstet, sie gleichzeitig unter Wasser setzt und Krankheit sät.
Daneben die Menschen, die ohnmächtig dabei zusehen, wie eine unsichtbare Macht alles aus dem Gleichgewicht bringt. Die Menschen, die versuchen, sich und ihre Engsten zu retten, Mauern, Dämme und Zäune bauen. Die Menschen, die nach starken Kräften rufen, die wieder Sicherheit herstellen sollen. Die Menschen, die gegen den Klimawandel in den Krieg ziehen. Die Menschen, die versuchen, Kraft ihres Verstandes Technologien zu entwickeln, die wieder alles gut machen sollen. Die Menschen, die einfach nicht verstehen, dass sie dieses Monster durch ihre Lebensweisen selbst heraufbeschworen haben.
All die Szenarien, Prognosen und die Reizüberflutung können uns in eine dystopische Abwärtsspirale führen. Eine, die durch ihren impliziten Eurozentrismus besticht, indem sie ausblendet, dass das Monster an anderen Orten dieser Welt längst wütet. Wir dürfen dabei eine historisch-systemische Analyse, die Reflexion der eigenen Rollen und Handlungsspielräume, die Entwicklung emanzipatorischer Strategien, das Handeln selbst und damit die Überwindung der lähmenden und erdrückenden Ohnmachtsgefühle, nicht aus den Augen verlieren.
Planetare Gesundheit
Eine unserer zentralen Aussagen lautet: Wir müssen Gesundheitsgerechtigkeit und Klimagerechtigkeit gemeinsam denken und praktizieren! In den Gesundheitswissenschaften wurde in den letzten Jahren ein Konzept entwickelt, das – eher wissenschaftsuntypisch – eine ganzheitliche Perspektive ermöglicht: Planetare Gesundheit. Wissenschaftler*innen beginnen zu verstehen, dass es keine gesunden Menschen auf einem kranken Planeten geben kann; dass Mensch und Natur nicht zu trennen sind. Kritiker*innen des (Früh-)Kapitalismus haben bereits vor mehr als 150 Jahren erkannt, dass diese Trennung unausweichlich in der Produktionslogik das Kapitalismus verankert ist. Profit ist ohne Ausbeutung (menschlicher) Ressourcen nicht möglich. Zwangsläufig folgt daraus, dass der Kapitalismus überwunden werden muss, wenn wir Planetare Gesundheit wiederherstellen bzw. das, was davon noch übrig ist, erhalten wollen. Um gemeinsame Handlungsstrategien zu entwickeln, müssen wir die Ursachen der Klimakrise und deren gravierende gesundheitliche Folgen genau benennen und mit den systemischen Ursachen von Krankheit in Beziehung setzen.
Der Klimawandel ist, wie eingangs verdeutlicht, die größte Gefahr für die globale Gesundheit in diesem Jahrhundert. Letztendlich werden alle Krankheitserscheinungen, von Knochenbrüchen über Infektionserkrankungen bis zu Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, von den direkten und indirekten Auswirkungen des Klimawandels auf irgendeine Weise beeinflusst – jetzt und in der Zukunft. Die Flutkatastrophe von 2010 in Pakistan mit 20 Millionen betroffenen Menschen, bei der ungefähr die Fläche Englands überflutet wurde, illustriert das auf grausame Weise. Es sind in etwa 1800 Menschen gestorben, 3000 Menschen wurden verletzt. Es gab 1 Million Fälle von Durchfallerkrankungen. 500 Krankenhäuser wurden zerstört.
Der Grundgedanke der Klimagerechtigkeitsperspektive ist, dass sowohl die Folgen als auch die Ursachen des Klimawandels ungerecht verteilt sind. Im Globalen Norden leben die Hauptverursacher, während die Menschen im Globalen Süden die Hauptleidtragenden sind.
98 Prozent der Klimatoten sterben im Globalen Süden! Es ist aber wichtig, sich daran zu erinnern, dass letztendlich alle Menschen verlieren werden. Ungleichheit zerstört Umwelt. Politiken, die Ungleichheit fördern, zerstören Umwelt und damit unsere Lebensgrundlage und Gesundheit.
Ungleichheit ist ungesund
Aus Gesundheitsgerechtigkeitsperspektive lassen sich Dynamiken erkennen, die sich unter dem Konzept der «sozialen Determination von Gesundheit» zusammenfassen lassen: Faktoren wie Bildungs- oder sozio-ökonomischer Status beeinflussen die Gesundheit der Menschen. Sie sind nicht naturgegeben, sondern historisch durch Kolonialismus, Patriarchat und andere Herrschaftsverhältnisse produziert. Eines der eindrücklichsten Beispiele ist die gesundheitliche Ungleichheit entlang des sozio-ökonomischen Gradienten. Je größer die Spanne zwischen arm und reich, desto größer der Unterschied in der Lebenserwartung. In Deutschland erkaufen sich die reichsten Männer* etwa sieben Jahre Lebenszeit im Vergleich zu den ärmsten Männern* desselben Jahrgangs. Noch dramatischere Tendenzen lassen sich im Vergleich zwischen Globalem Süden und Globalem Norden erkennen, mit bis zu 25 Jahren Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung bei Geburt. Letztendlich verlieren alle Menschen in einer Gesellschaft durch sozio-ökonomische Ungleichheit. Auch die vermeintlichen Gewinner*innen, denn sie ‹gewinnen› nur im Vergleich zu anderen und nicht absolut. Je ungleicher die Gesellschaft, desto kränker die Menschen. Ungleichheit zerstört Körper. Politiken, die diese Ungleichheit fördern, zerstören Körper.
Wie wird aktuell auf die Klima- und Gesundheitskrise reagiert?
Die Verantwortung zur Veränderung wird in neoliberalen Ideologien auf das Individuum übertragen. Dann ist das Individuum aufgefordert, nachhaltiger zu konsumieren, weniger zu fliegen oder eben gesünder zu konsumieren und mehr Sport zu machen; sich selbst mehr anzustrengen, um mehr zu erreichen. Staatliche und private Akteure zielen damit sowohl im Klima- als auch Gesundheitsschutz auf sogenannte Verhaltensprävention. Das Verhalten der Einzelnen soll verändert werden: «Immer schön das Licht ausmachen und am besten mit dem Rauchen aufhören, dann wird alles besser.» Diese Herangehensweise ist hochgradig apolitisch und scheint bei vielen Menschen schon fest im Alltagsverstand verankert zu sein.
Eine bedrückende Normalität. Die Vereinzelung hat tiefgreifenden Einfluss auf unsere mentale Gesundheit. Die Verlagerung der Verantwortung löst psychischen Druck aus: Wenn psychische Probleme als individuell konstruiert werden, dann folgt daraus auch, dass die* Einzelne selbst «schuld» ist. Diese Argumentation ist auch relevant in Anbetracht der übermächtigen Klimakrise, die Angst, Hilflosigkeit und Verzweiflung bewirkt.
Andere Bestrebungen sind es, sich auf sogenannte Techfixes, in Form von biomedizinischen Anwendungen (beispielsweise durch Veränderung der Dna) oder Geoengineering (beispielsweise Technologien, die die Einstrahlung der Sonne verringern) zu fokussieren. In beiden Fällen wird tief in die vermeintlich ursächlichen Prozesse eingegriffen, dabei aber soziale Faktoren oder die Komplexität der Systeme, in die eingegriffen wird, ausgeblendet. Legitimiert wird das durch die kapitalistische Verheißung von technologischem Fortschritt. Aus der Perspektive der Herrschenden ist es logisch, systemische und soziale Faktoren auszublenden. Es ist für die meisten Menschen der einfachere Weg, sich auf technologische Verheißungen zu verlassen, anstatt sich kritisch und verantwortungsvoll mit ihrem Handeln auseinanderzusetzen. Auf diese Weise kann die tatsächliche Bedrohung ausgeblendet und verdrängt werden.
«Depression, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Antriebslosigkeit, Angst: All das sind lebendige Reaktionen auf das Monster und keine Krankheiten, die es rein medizinisch zu behandeln gilt!»
Es liegt an uns, kollektive Verantwortung für Mensch und Umwelt zu übernehmen. Gemeinsam können wir Strukturen verändern und bisher utopische Systeme erlebbar machen. Für uns bedeutet das, die psychische Dimension der Klimakrise ins Zentrum einer Klimagerechtigkeitsbewegung zu stellen und uns gleichzeitig von einer Pathologisierung abzugrenzen. Depression, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Antriebslosigkeit, Angst: All das sind lebendige Reaktionen auf das Monster und keine Krankheiten, die es rein medizinisch zu behandeln gilt! Die Grenzen für ein gutes Leben liegen auf systemischer Ebene und werden von einer kranken Gesellschaft gesetzt. Auch Verdrängung, Ausblendung und Verleugnung sind verständliche Effekte, wenn Menschen sich ohnmächtig und allein fühlen. In all diesen Emotionen steckt eine Energie, die wir noch zu viel gegen uns selbst, anstatt für unsere Ziele verwenden. Wir brauchen geschützte Räume, in denen wir diese Emotionen teilen, uns verletzt und verletzlich zeigen können. In verantwortungsvollen und wertschätzenden Verbindungen liegt die Macht zur Veränderung, zur Verschiebung und Durchbrechung der Grenzen: Love & Rage!