Als der Bus durch Cizzre fährt, das mittlerweile tagelang von der türkischen Luftwaffe bombardiert worden ist, weisen die Mitreisenden auf Einschußlöcher in Hausfassaden und Schaufensterscheiben hin. Das seien die Soldaten gewesen, im Bus ist keiner, der sich nicht zur PKK bekennen würde. Hier herrscht Krieg, keine Minute vergeht, ohne daß Kolonnen von Jeeps, Militärlastwagen oder einzelne Schützenpanzer die größte Straßenkreuzung in Silopi passieren. Auf der anderen Seite der Grenze, die man über eine provisorisch geflickte Brücke erreicht, herrscht eine deutlich entspanntere Atmosphäre. Hinter dem Schild „Welcome to Kurdistan“ schleusen hilfsbereite Peschmerga in irakischen Uniformen den Ankömmling schnell durch die desorganisierte Grenzabfertigung.

Um uns herum ist alles unglaublich grün, Sträucher, Büsche, Feigenbäume, da vorne ist eine Quelle mit kaltem Wasser. Der Gastgeber unseres Picknicks, ein alter Mann, kocht Tee, holt ziemlich scharfen Tabak aus einem Stoffbeutel um sich Zigaretten zu drehen und überschüttet unsere kurdischen Begleiter mit einem witzig-bissigen Redeschwall. Sie kommen überhaupt nicht zu Wort. Über seinem Kopf bat er ein schwarzes Tuch mit Fransen schwungvoll zurückgeschlagen und lächelt uns ironisch an, als wir fragen, ob wir ein Foto von ihm machen können … ja, wenn wir unbedingt wollen … Er hat auch in einer collective town gelebt, jetzt ist er den Sommer über hier im Grünen, im Winter geht er in das neue Dorf, an dem wir vorhin vorbeigefahren sind. Durch das Tal führt eine Straße Richtung Iran. Einer unserer Freunde deutet auf die Berghänge ringsherum. Dort hat ihn der Sohn des Alten in einem 24-Stunden-Marsch aus dem Iran zurückgeschleust. Wegen der Minen mußte er genau hinter seinem Führer bleiben. Gestern erst, ist in der Nähe jemand beim Holzsammeln auf eine Mine getreten, über 24 Millionen sollen in ganz Südkurdistan liegen. Manchmal siebt man am Straßenrand kleine Blechschilder mit Totenköpfen, eine Kurve weiter vielleicht ein paar Hütten. Um hier zu leben, muß man wissen wo man hintreten will.

Wir fragen nach den iranischen Perschmerga, aber es sind keine mehr in der Gegend. Zum Abschied pflückt uns der Alte frische Feigen.

Seit 1991 Saddam Hussein in der Folge des 2. Golfkrieges durch einen Volksaufstand zum Rückzug aus dem größten Teil Südkurdistans gezwungen worden ist, lebt die Bevölkerung jetzt in einer praktisch autonomen Zone mit einer eigenen kurdischen Regionalregierung. Dieses Gebiet des Nordirak bildet den südlichen Teil Kurdistans und teilt sich in zwei Regionen; den an die Türkei grenzenden Badinan und den weiter südlichen Soran, von dessen Grenze es kaum noch 200 km bis nach Baghdad sind. Während der Badinan ein stark traditionelles Bergland ist, in dem die „Demokratische Partei Kurdistans“ (PDK) dominiert, hat im Süden die „Patriotische Union“ (PUK) ihre Machtposition. Dort im Soran wird die Landschaft flacher und die Gesellschaft ist weniger von Stammesstrukturen dominiert. PUK und PDK unterscheiden sich programmistisch kaum voneinander, durch Stammesbindungen, persönliche Gefolgschaft und Abhängigkeit sind die Mitglieder um die beiden zentralen Führer Masud Barzani (PDK) und Jelal Talabani (PUK) gruppiert. Die wichtigsten Städte sind das Regierungszentrum Erbil mit dem kurdischen Regionalparlament und die „intellektuelle Hochburg“ Sulemania. Kirkuk mit seinen reichen Ölquellen und hauptsächlich von Kurden bewohnt, liegt bereits in der von Saddam Hussein kontrollierten Zone. Die Situation Südkurdistans ist problematisch. Zu den innenpolitischen Schwierigkeiten angesichts der katastrophalen Wirtschaftslage infolge von Krieg und UN-Embargo tritt der außenpolitische Würgegriff durch die angrenzenden Länder. Die Nachbarn Türkei, Syrien und Iran haben aufgrund ihrer eigenen kurdischen Minderheiten ein jeweils spezifisches Interesse an der Situation der Kurden im Nordirak. Außerdem schwebt über der ganzen Region wie ein Damoklesschwert die Drohung Saddam Husseins, seine Armee den Marsch nach Norden zur Rückeroberung antreten zu lassen. Ciffri, die letzte befreite Ortschaft direkt an der Demarkationslinie zum von Baghdad kontrollierten Restirak, ist an drei Seiten von Saddams Armee eingeschlossen.

Ein örtlicher Politiker zuckt beim Essen mit den Schultern, als eine Maschinengewehrsalve die mittagliche Ruhe durchbricht. „Wenn die Iraker wollten, wären sie in fünf Minuten hier“ bemerkt er gelassen, „was sollen wir tun? Während die Peschmerga die Soldaten aufhalten, werden die Frauen versuchen mit den Kindern in die Berge zu entkommen. Aber in letzter Zeit war es relativ ruhig. Saddam kommt nicht, weil er die Städte zwar erobern, aber sie nicht kontrollieren könnte.“

Geht hier die Drohung von Saddams Militär aus, ist es im Norden das türkische Militär, das schon wiederholt in großangelegten Operationen gegen die PKK tief auf irakisches Gebiet vorgedrungen ist. Im letzten Jahr führte dies sogar zu innerkurdischen Kämpfen, als besonders die PDK gemeinsam mit Ankaras Soldaten gegen die PKK-Stützpunkte vorging. Seit dem Herbst 1993 versucht sich die Türkei mit einem Millionen-Dollar-Hilfsprogramm der Zusammenarbeit der irakisch-kurdischen Parteien gegen die PKK zu versichern Mit der Bombardierung kurdischer Dörfer auf irakischem Gebiet übt die Türkei überdies regelmäßig Druck auf die Zivilbevölkerung aus, um der PKK die Unterstützung zu entziehen. An der Grenze zum Iran kam es ebenfalls schon zu Zwischenfällen. Im Sommer 1993 beschossen die Iraner Dörfer auf irakischer Seite, um die gegen das Teheraner Mullah-Regime kämpfenden iranisch-kurdischen Perschmerga zum Rückzug aus der Grenzregion zu zwingen. Einzig Syrien unterhält ein relativ entspanntes Verhältnis zu Südkurdistan. Von Baghdad aus versucht Saddam durch ein internes Wirtschaftsembargo und vom Geheimdienst inszenierten Bombenterror das kurdische Gebiet zu destabilisieren. Zeitbomben explodieren in Lastwagen mit Hilfslieferungen, das im Irak überreichlich vorhandene Benzin ist im Nordirak teure Mangelware. Seit letztem Sommer hat er der Großstadt Dohuk den Strom abgedreht, in der seitdem die Bevölkerung auf private Aggregate angewiesen ist. Fast drei Jahre nach der Befreiung vom Baghdader Baathregime haben die instabile Lage und die desolate Wirtschaft den Durchhaltewillen vieler Menschen gebrochen, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit herrschen vor. Selbst Peschmerga, die mehr als zehn Jahre für die Befreiung gekämpft haben, wollen das Land verlassen.

Ein typisches kurdisches Schicksal hat der dort lebende Lehrer Baschir erlitten. Von den 300 Dinar Gehalt, was einem Marktwert von ungefähr 10 $ Dollar entspricht, kann er seine fünfköpfige Familie nicht durchbringen. Kleinhandel und ein weitverzweigtes Familiennetz helfen etwas weiter. Seit fünf Jahren lebt die Familie in der Stadt, dreimal hintereinander ist ihr Dorf vom irakischen Militär zerstört worden. Nachdem die Soldaten noch mit Baggern die Obstbäume ausgerissen hatten, verließen die Menschen das Dorf. Zwar betont er stolz, daß man sofort in die Berge zurückgehen und der Kampf, sollte Saddam wiederkommen, sofort wiederaufgenommen werden könnte, doch herrscht der Wunsch vor, das Land zu verlassen, es dem Cousin nachzutun, der in Schweden lebt.

Der kurdische Widerstand konnte sich erst mit dem Ende des Golfkrieges reorganisieren. Bei einer Fahrt über Land sieht man überall auf Hügeln und Bergkuppen die burgähnlichen Militärfestungen, mit denen er das Land überzog. In den halbzerschosssenen Soldatensiedlungen wohnen jetzt meist Flüchtlinge aus Kirkuk. Bei neun Militäraktionen mit dem bezeichnenden Namen „Anfal“ - Beute - verschwanden 1988 annähernd 200 000 Menschen spurlos. Ganze Städte wie das damals zu trauriger Bekanntheit gelangte Halabja wurden mit Giftgas bombardiert.

„Eines Tages umstellten die Soldaten unser Dorf“, erzählt eine junge Frau, die mit ihren drei kleinen Geschwistern in einem Lager bei Sulemania lebt. „Ein Soldat verhalf uns zur Flucht, weil wir Mädchen waren, von meinen Eltern, Brüdern und den anderen Verwandten habe ich nie wieder etwas gehört.“

Die sog. „Anfalwitwen“, Frauen, die ihre männlichen Verwandten verloren haben, bilden die Gruppe mit den bedrückensten sozialen Problemen.

Nach der Befreiung vom Baghdader Diktator offenbarte sich erst das unvorstellbare Ausmaß der Zerstörung und Vernichtung, das seine Herrschaft hinterlassen hat. Über 400 Dörfer waren dem Erdboden gleichgemacht, weite Teile des Landes entvölkert und zu militärischen Sperrgebieten erklärt worden. Manche Orte, wie das südöstlich von Sulemania gelegene Said Sadik haben die Iraker akkurat Haus für Haus gesprengt und tatsächlich nur den Friedhof unzerstört gelassen. Jetzt kündet eine Hauptstraße aus Buden und Tuchplanen, die zwischen verbogenen Eisenträgern gespannt sind, vom langsamen Wiederaufbau dieser, ehemals mehrere zehntausend Einwohner zählenden Stadt. Die Menschen wurden in leicht zu kontrollierende Lager an den Hauptstraßen umgesiedelt, den sog. „collective towns“.

Manchmal häufen sich die ausgeweideten Kadaver der IFA-Militärlaster zu ausgedehnten Trümmerfeldern, wie man sie im ganzen Irak finden kann. Dorf um Dorf ist systematisch zerstört worden und systematische Zerstörung hieß für Saddam wortwörtlich, daß kein Stein auf dem anderen bleiben durfte. jetzt kann man neue Siedlungen aus einem Guß sehen, Betonhäufchen, die Vorderfront geweißt, jedes mit einer großen blauen Nummer versehen. Das haben die Holländer gebaut. Wo „Prefabs“, vorfabrizierte Blechcontainerbaracken stehen, da war die Organisation von Danielle Mitterand am Werk. In einem UN-Flüchtlingslager besuchen wir so eine Dose. Ein Aufenthaltsraum mit Matten, eine Trennwand, der Hausrat. Im Sommer ist es hier drinnen zu heiß, im Winter zu kalt, angeblich sind sie für den Einsatz im tropischen Südostasien entwickelt worden. Ab und an werden im Lager Lebensmittel verteilt, einen Heizer hat die Familie auch bekommen, allerdings kaum Brennstoff Die Leute hoffen, daß sie diesen Winter in ein festes Haus in einer „collectivce town“ umgesiedelt werden. Nach Kirkuk können sie nicht zurück, dort planiert Saddams Stadthalter gerade die Kurdenviertel. Die „collective towns“ sind städtische Konglomerate, manchmal mitten im Nichts. Einmal standen wir auf einem Dach in so einer „Stadt“ wegen des trostlosen Rundblicks, es war früher Nachmittag. Aus der staubigen Ebene, die kein Zeichen von Vegetation zeigte tauchten drei Frauen auf die Reisigbündel trugen. Im Hintergrund waren braune Berge und um uns herum bröcklige Betondächer. Die Frauen waren früh morgens zum Holzsammeln aufgebrochen.

Überall in Kurdistan sind die Abzweigungen an den Hauptstraßen übersät vom Schilderwald internationaler und einheimischer Hilfsorganisationen, doch bleibt die Hilfe begrenzt, allein schon aufgrund der gigantischen Zerstörungen. Die gesamte ländliche Infrastruktur muß neu aufgebaut werden. Ganze Dörfer entstehen wieder aus dem Nichts, doch repräsentiert die internationale Hilfe oft mehr Schein als Sein. Viele der Hilfsprogramme tragen zu langfristiger Abhängigkeit von Außen bei. Verbittert fragt ein junger Ökonom von der Universität Sulemania, „man unterstützt uns mit Nahrung mit Hilfslieferungen, man hilft uns aber nicht unabhängig zu werden. Was passiert, wenn die Hilfe im nächsten Winter ausbleibt?

Ein vielleicht Vierzigjähriger erzählt von der Anfallkampagne, wie sie zwei Soldaten gefangengenommen haben, die förmlich über seine Peschmergagruppe gestolpert sind, die sie dann haben laufen lassen. Zweimal ist er bei Kämpfen mit Giftgas in Berührung gekommen – die Lunge – ganz gesund ist sie nicht mehr. Manchmal begleitet er Ausländer durchs Land, seine Partei hat ihm dafür eine Auto gestellt. Was er in Zukunft machen soll, weiß er nicht, vielleicht kriegt er einen Job bei UNICEF. Auch der Vizegoverneur, bei dem wir Tee trinken, war über zehn Jahre im Widerstand. Er hat damals eine Ingenieurausbildung abgebrochen. „Was ich gelernt hatte, habe ich in den Bergen vergessen. Wir wissen, wie man kämpft, aber jetzt haben wir das Problem, daß zuwenig Leute da sind, die noch was anderes können.“ Er entschuldigt sich, daß er kaum Englisch spricht. Das geschieht öfter. Der Araber aus Baghdad, der sich mit drei anderen Kämpfern in den geräumten Gebieten durchgeschlagen hat, seit 19 78 bei der Peschmerga, ebenso wie der Maler, der uns Aquarelle von den Bergen und die Karikaturen seiner Mitkämpfer zeigt, sie fragen uns aus, nach der Wiedervereinigung, nach den Nazis. Sie weisen entschuldigend auf ihre Wissenslücken hin, bemängeln, daß sie kaum Englisch sprechen, „Wir hatten keine Zeit dazu“. Eine ganze Generation hat Ende der 70er die Schulen und Unis abgebrochen, um in die Berge zu gehen. Viele haben tatsächlich nur noch ihre Partei als Rückhalt und Versicherung, um nicht als Kriegsinvalide oder überflüssig gewordener Guerillero auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen zu werden.

Während die EG etwa rund um Sulemania ein Schulspeisenprogramm mit einer Million ECU finanziert, können in derselben Stadt die meisten Fabriken nicht arbeiten, weil Ersatzteile und Rohstoffe unter das gegen dem Gesamtirak gerichtete UN-Embargo fallen. Die Wirtschaft basiert mittlerweile hauptsächlich auf dem Schmuggel und den internationalen Organisationen als Hauptarbeitgebern. Via Kurdistan wird Baghdad aus dem Iran und der Türkei unter Umgehung der UN-Schranken versorgt. LKW-Kolonnen, vollgepackt mit Reifen oder Autobatterien, rollen Richtung Baghdad. Medikamente und Saatgut, von Hilfsorganisationen ins Land gebracht, werden von Schieberbanden in den Iran verscherbelt. Die Zolleinnahmen sind jedoch die einzgie Finanzquelle der kurdischen Regionalregierung. Die Teile der Bevölkerung, die nicht am Handel teilnehmen oder bei einer NGO ihr Auskommen gefunden haben, leben meist von der Hand in den Mund.

Durch Umsiedlung, jahrelangen Krieg und Verelendung sind die alten Sozialstrukturen in Auflösung begriffen, im letzten Jahr schreckten Raubmorde selbst an Kindern die Bevölkerung auf. Auf diese Entwicklung zielt Baghdads Kopfgeldofferte für Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen. Die Rede ist von für kurdische Verhältnisse horrenden Summen, denen die 1993 erschossenen zwei Entwicklungshelfer zum Opfer gefallen sein sollen.

Na ja, wenn ihr immer in Bewegung bleibt und kein festes Ziel bietet, geht das, sagt die Kurdin lächelnd, Wie ernst war das jetzt gemeint? Wir laufen jeden Nachmittag ohne Begleitung über den Markt. Und weil eine Bedrohung nicht greifbar ist, bleibt sie auch irreal. Einen Belgier, der an einem Hilfsprojekt für Taubstumme arbeitete, haben sie letztes Jahr mitten in der Stadt erschossen, als sein Auto an einer Ampel hielt, dem haben seine Peschmerga auch nichts genutzt. Wenn die Hilfsexperten ausrücken, ist das ein martialischer Anblick. Mit Skibrillen gegen den Fahrtwind geschützt, sitzen die Begleitpeschmerga auf Pickups und halten, den Finger am Abzug, die Umgegend im Auge. Je wichtiger man sich nimmt, desto mehr Begleitfahrzeuge braucht man. In Bretterverschlägen und Laubbütten sitzen die Peschmerga vor den NGO-Häusern; essen die Helfer auswärts, bleiben sie vor den Restaurants beim Wagen. An einem Tisch mit seinen Aufpassern zu sitzen ist nicht üblich.

Die Handlungsmöglichkeiten der kurdischen Regionalregierung, um die Krise zu bewältigen, sind eng begrenzt. Die eifersüchtig überwachte paritätische Aufteilung aller einflußreichen Posten zwischen den beiden großen Parteien weist darauf hin, daß von eigenständigen staatlichen Strukturen kaum die Rede sein kann. Im Parlament verteilen sich bis auf Vertreter der turkmenischen und christlichen Minderheit die Sitze auf PUK und PDK, allgemein geht die Befürchtung um, was passieren wird, falls es bei zukünftigen Wahlen zu eindeutigen Ergebnissen zugunsten einer der beiden Parteien kommen sollte. Aufgrund machtpolitischer Rivalitäten der Parteiführer besteht unterschwellig permanent die Gefahr eines Bürgerkrieges.

„Ich bin doch der Einzige, der einfach so zurückgekommen ist“, erzählt ein Freund, der seit einem Jahr wieder in Kurdistan lebt. „Aus dem Ausland sind nur die zurück, denen ihre Partei einen entsprechenden Posten angeboten hat; wenn ich vorher gewußt hätte, was hier läuft, hätte ich mir das alles noch mal überlegt. An der Uni sind die Islamisten im Kommen und die Anhänger von PUK und PDK beschimpfen sich gegenseitig und warten darauf, endlich aufeinander schießen zu können.“ In Deutschland hat er sein Studium abgebrochen, auf das er lange hat warten müssen, sein Asylverfahren hat sich über Jahre hingezogen. „Meine besten Jahre habe ich in Deutschland vergeudet. Stell dir vor, du bist neunzehn und du darfst nichts anderes tun als warten, warten, nur warten“.

Nachts, wenn das Licht in manchen Stadtteilen ausfällt, kommt es zu Schießereien, im Dezember zeigten tagelange Straßenkämpfe zwischen den Islamisten und der PDK, in die auch die PUK verwickelt wurde, wie fragil die politische Lage ist. Politische Morde sind keine Seltenheit, besonders linksstehende Gruppen haben unter zunehmender Repression zu leiden. Zeitungen wie das Organ der „Arbeiter-Kommunisten“ oder ein PKK-nahes Magazin wurden verboten. Die Übergriffe gegen Frauen bis hin zur Ermordung wegen sog. „Ehrensachen“ oder angeblicher Kollaboration mit dem Baathregime häufen sich. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Bauern und zurückkehrenden Großgrundbesitzern, die versuchen, die Landreformen der sechziger und siebziger Jahre rückgängig zu machen. Geld aus Saudi Arabien kauft dem islamischen Fundamentalismus zunehmenden Einfluß in der eher laizistisch orientierten kurdischen Gesellschaft, in Dörfern ohne Krankenstation oder Schule entstehen prächtige Moscheen. Die zur Überwachung der Flugverbotszone über den Nordirak donnernden amerikanischen Jets erinnern die irakischen Kurden ständig an das Provisorium ihrer gegenwärtigen Lage. Aus Rücksicht auf die Anrainerstaaten mit ihrer repressiven Politik den eigenen kurdischen Minderheiten gegenüber müssen die Kurden des Iraks den Anschein einer möglichen Unabhängigkeit von Baghdad vermeiden. Die nationalstaatliche Einheit Gesamtiraks ist kein Thema, und solange in Baghdad nichts passiert, hat das demokratische Experiment in Nordirak/Südkurdistan nur eine vorläufige Zukunft.

Die Linke in Südkurdistan ist gespalten und fragmentiert. Da ist die Kommunistische Partei, die durchaus einer Wandlung unterliegt und sich aus heterogenen Kräften zusammensetzt; von konservativen Kadern, in der SU ausgebildet, die melancholisch von Oktoverrevolutionsparaden schwärmen, bis hin zu jungen Genossen, die Gramsci lesen und das traditionelle kurdische Parteiengeklüngel – mein Großvater war Kommunist, mein Vater auch, also bin ich auch einer – kritisieren. In den 50ern und 60ern teilweise die stärkste Partei im Irak, haben die Kommunisten durch ihre enge Anlehnung an die SU und ihre Zusammenarbeit mit dem Baathregime in den 70ern viel Einfluß verloren, besonders in Kurdistan. Bei den Wahlen zum Regionalparlament landeten sie bei knapp unter 3%, aber, so erklärt der neue Generalsekretär Abu Dahoud „wenn man sich die erbeuteten irakischen Geheimdienstakten anschaut, wird das relativiert, denn unsere Partei hat nicht einen Tag aufgehört im Irak zu arbeiten, während viele der jetzt vom Ausland unterstützten Oppositionsgruppen vom irakiseben Geheimdienst nicht mal erwähnt werden. Wir haben kein Geld und wir haben keine Erfahrungen mit Wahlen, sondern nur mit klandestiner Arbeit. Indirekt hat man mit Erpressungen und Drohungen auf Wähler Druck ausgeübt, da spielen Stammesbindungen eine Rolle, insgesamt ist die irakische Gesellschaft in Bezug auf politische Kultur und politisches Bewußtsein noch nicht besonders hoch entwickelt. Die Leute leiden Not.

Wie man bei den Islamisten sieht, ist es einfach, mit ein paar Millionen Dollar schnell tausende Mitglieder zu gewinnen. „Interessant ist die Gründung einer kurdischen KP (ICP) mehr oder minder innerhalb der gesamtirakischen Partei, was einerseits die realen Bedingungen der politischen Lage widerspiegelt, andererseits aber auch einen fundamentalen Wandel in der traditionell monolithisch-zentralistisch ausgerichteten KP anzeigt. So bestätigt der Generalsekretär, daß sowohl strikte Ablehnung eines föderalen Prinzips für den Post-Saddam-lrak, wie auch Befürwortung einer „Befreiung“ Kurdistans von der „arabischen Besetzung“ und der völligen Trennung von der irakischen KP im innerparteilichen Meinungsspektrum vertreten sind. Links davon sieht es düster aus. Viele der an der anfänglich selbstorganisierten spontanen Intifada von Frühjahr 1991 Beteiligten haben sich, nachdem die Parteien ihren Einfluß schnell wieder durchsetzen konnten, desillusioniert zurückgezogen. Die radikalen Linken in der PUK sind im Widerstand aufgerieben worden und im Ausland zerstreut. „Die Arbeiterkommunisten“, eine im Sommer 1993 gegründete Partei, mit deren Umfeld einer Arbeitslosenunion und einer Frauenorganisation, hinterläßt einen, gelinde gesprochen, zwiespältigen Eindruck. Den Genossen da geht es um die Arbeiter, den Arbeiterstaat und den endgültigen Kampf und Sieg der Arbeiterklasse. Woher sie die ganzen Arbeiter in dem – nicht nur, aber primär – agrarisch geprägten Nordirak nehmen wollen, verraten sie nicht. Die Landfrage, eines der sensibelsten Probleme momentan, denn zurückkehrende Landbesitzer versuchen die Landreformen rückgängig zu machen, interessiert sie nicht: „Das sind alte Stammeskonflikte“, nur an den „Landarbeitern“ will man ein Interesse nicht ausschließen. Eine linke Front lehnen sie ab, aber wenn die PUK da ihrer Meinung wäre, könnten sie sich „eine Zusammenarbeit in Fragen wie der des Ozonlochs vorstellen.“ Gespräche mit einem anderen Zusammenhang, der uns als links empfohlen worden ist, verlaufen ähnlich. „Wir studieren erst mal die Quellen, Marx, Engels, Lenin, die programmatischen Sachen sind jetzt wichtig.“ So ganz nachvollziehen können wir das alles nicht mehr und unser kurdischer Begleiter bestätigt, daß das keineswegs an unserer möglicherweise eurozentristischen Rezeption, sondern durchaus in der Sache begründet liegt.

Irakisch-Kurdistan

Flüchtlinge im eigenen Land

1988 Die irakische Armee zerstört 2500 Dörfer in lrakisch-Kurdistan. 250 000 Menschen „verschwinden“. Die Stadt Halabja wird mit Giftgas aus bundesdeutscher Produktion bombadiert. Zurück bleiben Frauen und Kinder, umgesiedelt in künstliche Sammelstädte und ein zerstörtes, vermintes Land. Der Alltag dieser Frauen ist bestimmt von einer Zukunft ohne Perspektive.

1991 Die irakischen Kurden können sich in Folge des Golfkrieges von der Saddam-Diktatur befreien. Kurdistan wird UN-Schutzzone. Das UN-Embargo und die ständige Bedrohung durch die Nachbarstaaten bleiben dennoch bestehen.

1994 Seit drei Jahren versuchen die Menschen im selbstverwalteten Kurdistan das zerstörte Land wiederaufzubauen. Sie leiden unter einem innerirakischen Embargo, den UN-Sanktionen, rasender Inflation und steigenden Preisen. Statt die darniederliegende Wirtschaft zu unterstützen und die kurdische Regierung international anzuerkennen, behandelt der Westen das Land wie ein riesiges Flüchtlingslager.

Noch immer leben 200 000 Flüchtlinge aus dem irakisch besetzten Gebiet unter katastrophalen Bedingungen in Kurdistan ohne die Aussicht in ihre Städte zurückzukehren, ohne Arbeit, ohne Hoffnung … Noch immer leben „Anfai-Witwen“ in der gleichen perspektivlosen Situation in den Sammelstädten …