In den siebziger und achtziger Jahren kam es zu einem kurzen Aufschwung der Provinz­diskussion, was sicher auch mit dem Aufflammen der Anti-AKW-Kämpfe zu tun hatte, die die Provinz als Ort dieser Ausein­andersetzungen plötzlich interessant machte. Albert Herrenknecht schrieb sein Buch „Provinzleben – Aufsätze zu einem politischen Neuland“ (Verlag J und Politik, Frankfurt 1977), ein „Kursbuch“ (Nr. 39, Westberlin 1975) zum Thema Provinz erschien, in Berlin fand der „Stadt-Land-Dialog“ statt. Mit dem Abflauen der Anti-AKW-Bewegung gerieten auch die Provinz-Orte wie Kalkar, Brokdorf, Grohnde, Wackersdorf etc. wieder in Vergessenheit – und mit ihnen die Erinnerung an die Notwendigkeit, sich auch mit der Provinz zu beschäftigen.

Aus den damaligen Kämpfen hat die Linke auch nicht viel gelernt. Ein ganz wesentlicher Punkt wäre doch gewesen festzuhalten, daß bestimmte Fonnen des Widerstands nicht ritualisiert durchgeführt werden können. Vielmehr sind diese nur unter bestimmten Gegebenheiten und bei Vorhandensein eines bestimmten Bewußtseinstandes der (provinziellen) Bevölkerung möglich und sinnvoll. Denn wie selten in der linken Geschichte war z.B. in Wackersdorf ein Konsens zwischen Bevölkerungsmehrheit und Linken zu spüren, daß zur Abhilfe der Gefahr auch direkte Militanz nötig ist. Nur dann kann diese auch politisch wie moralisch gerechtfertigt werden.

(Welche anderen Fonnen – vom zivilen Ungehorsam bis zur Sachbeschädigung – nötig und möglich sind, hängt eben auch immer von der konkreten Situation ab.) Neuere Ansätze der Provinz-Diskussion, etwa bei der Antifaschistischen Aktion/ Bundesweile Organisation (Aufsätze der Antifa-Bünde und der Antifa-Aktion Passau in „EinSätze!“ (September 1993), scheinen noch sehr unzureichend und noch zu sehr an städtischer Autonomenpolitik orientiert.

Auch dieser Artikel kann nur ein erneuter Anriß des Themas sein: unvollständig, diskussionsbedürftig.

Der fast schon arrogante Aufruf der Pariser Communarden 1871 „Möge die Provinz sich beeilen!“ beinhaltet auch die Annahme, alles sei Provinz, alles, was nicht Paris ist. Doch Provinz ist vielschichtiger. Für die BerlinerInnen ist Frankfurt schon Provinz, für die FrankfurterInnen ist es Hanau , für die HauauerInnen Aschaffenburg und für die Aschaffenburgerlnnen Alzenau oder Miltenberg. Dort wird dann zwar akzep­tiert, daß die eigene Stadt als Provinz anzusehen ist, jedoch auf Dammbach oder Rüdenau verwiesen, was ja schließlich „tiefste Provinz“ sei. Provinz ist also kein fester Begriff, sondern ein sehr unterschiedliches Verhältnis und vom Wohnort des Betrachters abhängig (und da ist das Metropolen-Provinz-Ver­hältnis im internationalen Bereich noch gar nicht mitgedacht, denn um dieses soll es hier bewußt nicht gehen).

Warum „Provinz-Theorie“?

Das Land, die Provinz, galt nicht nur den oben genannten Pariser Communarden als Hort der Reaktion, gar der Konterrevolution. Auch Albert Herren­knecht (siehe Kasten) schreibt: „Es ist wichtig, auf dem Land zu bleiben, für dort eine Perspektive zu entwickeln, politisch auch dort präsent zu sein und kleine Alternativen aufzubauen. Dies ist wichtig, nicht nur, um die Konterrevolu­tion zu verhindern, sondern auch, um dem politischen Gegner das Land (und das ist nun mal wörtlich zu nehmen) nicht zu überlassen“. Oskar Negt führt dazu aus, daß „wir aus der Geschichte wissen, daß Revolutionen zwar in den Städten gemacht werden, aber die Kon­ terrevolution vom Lande kommt, von der Provinz.“ (Links-Sondernummer zum SB-Pfingstkongreß 1976).

Die Antifaschistische Aktion Passau schließlich schreibt zu diesem Thema: „Gerade in der letzten Zeit haben die FaschistInnen ihre Aktivitäten verstärkt in die Provinz verlagert, um dort mög­ lichst ungestört Aufbauarbeit leisten zu können und um Veranstaltungen durch­ zuführen.“ (EinSatz!, September 1993)

Dies zeigt ganz offensichtlich: Ohne Einbindung auch der Provinz, ohne Beschäftigung mit ihren besonderen Gegebenheiten, ohne Antworten, wie mit diesen sinnvoll umgegangen wer­ den kann, ist eine positive Veränderung nicht zu bekommen.

Provinz ist Kolonie im eigenen Land. Die provinzielle Situation macht sich ja gerade dadurch bemerkbar, daß Nah­verkehr, Bildungseinrichtungen, kultu­relle Angebote, bestimmte qualifizierte Arbeitsplätze etc. überaus ungleich zugunsten der großen Städte verteilt sind. Daraus resultieren einige provinz-spezifische Schwierigkeiten für linke Politik. Zum einen gibt es den dauern­den Verlust aktiver Menschen durch Wegzug in die Metropolen zwecks Stu­dium oder Aufnahme eines Arbeitsplat­zes; dem stehen nur ganz geringfügige Zuzüge gegenüber, etwa, wenn ein lin­ker Lehrer (so etwas soll es ab und zu noch geben) eine Stelle auf dem Land erhält. Ergebnis ist ein personelles Aus­trocknen linker Strukturen. Zum ande­ren erschweren die weiten Wege, die durch das Fehlen des öffendichen Nah­verkehrs entstehen, den Aufbau einer linken Szene, da die einzelnen (gerade jüngeren) Linken auf ihren Dörfern und in ihren Kleinstäd ten oft räumlich von­ einander isoliert bleiben.

Die Abwesenheit von bestimmten Bil­dungseinrichtungen (mit den Servicean­geboten der Studierendenausschüsse etc.) und Kulturzentren macht es auch schwieriger, geeignete Räumlichkeiten und technische Strukturen zu finden, die für den Aufbau einer linken Szene von Bedeutung sind. Ein ganz einfaches Beispiel: Schon der Druck eines Flug­blattes kostet in der Provinz das Mehrfa­che dessen, was in der Metropole mit Kopierläden etc. zu zahlen ist. Dadurch ergibt sich ein erschwerter Aufbau lin­ker Infrastruktur in der Provinz.

In engem Zusammenhang mit dem Stu­diums- oder berufsbedingten Wegzug aktiver Leute steht jene gerade in der Provinz so bedeutungsvolle Geisteshal­tung, die ich hier mit Traditions-Konser­vatismus bezeichnen möchte. Mangels einer ausgeprägten linken Gegenkultur und sicher auch begünstigt durch die stärkere soziale Kontrolle (siehe unten) hält sich in den nicht-städtischen Regio­nen diese Grundhaltung, die mit dem alten CDU-Werbeslogan „Keine Experi­mente wagen!“ ganz treffend umschrie­ben ist.

Die schon erwähnte größere soziale Kontrolle macht das Ausscheren aus dem allgemeinen Konsens sicherlich erheblich schwerer als in der Anonymi­tät einer Metropole. Zugleich zeigt sich hier der Doppelcharakter bestimmter provinzspezifischer Bedingungen: Wer schlechter ausscheren kann, ist auch besser eingebunden. Das heißt, eine Ausgrenzung bestimmter Positionen – solange sie in provinzspezifischer Form angeboten werden – ist kaum möglich. Selbst als „Kommunisten“ verschrieene Mitglieder einer Jugendinitiative wurden in einer fränkischen Kleinstadt nie wirk­ lich ausgegrenzt, da sie über ihre Eltern („Der ist doch der Sohn von Müllers Hannes“) oder ihr sonstiges Umfeld („Die war doch in der katholischen Jugend“) eingebunden waren. Einen Grund zur Idealisierung dieses Umstan­des gibt es aber eben sowenig wie einen, ganze Provinzen zu weißen Flecken auf der linken Landkarte zu erklären.

Ein nicht unwesentlicher Punkt der Schwäche linker Positionen und Struk­ turen auf dem Lande liegt in der Linken selbst, im Nachahmen des Metropolen­gehabes. Zu oft wird versucht, die „gei­len“ Aktionen der Metropolen-Linken zu imitieren. Sind diese Aktionsformen in ihrem sektiererischen Gehabe und in ihrer Rücksichtslosigkeit gegenüber der Vermittelbarkeit der Inhalte oft schon in der Stadt einfach nur unsäglich, wird dieses Gehabe in der Provinz entweder lächerlich oder dient nur der völligen Ausgrenzung der Linken.

Schwarzgewandete Demo-Blöcke mögen zwar das Bedürfnis nach radika­lerer Performance befriedigen und kön­ nen sicher auch für das Gruppen-Fee­ling enorm wichtig sein, dienen aber – gerade auf dem Land – niemals der Unkenntlichkeit (und damit der Unangreifbarkelt durch Polizei oder Nazis) der Teilnehmerlnnen, werden also zur sinnentleerten Form. Denn die notwen­digerweise kleinen „schwarzen Blöcke“ werden hier erst zum erkennbaren Objekt des Angriffs von außen. Und daß die Vermummten nicht erkannt werden könnten, kann nur der vermu­ten, der die Provinz nicht kennt. Ähnliches gilt auch für mit radikalen Phrasen gespickte Flugblätter, die auf dem Land nicht nur keine „Bürger“ ansprechen, sondern nicht einmal eine linke Szene erreichen können, da es die in der großstädtischen Form gar nicht gibt.

Lob der Provinz-Linken

„Unsere Genossen auf dem Lande sind immer in der Minderheit, und man versucht, ihnen Angst zu machen: ‚Wenn du den Mund aufmachst, schlagen wir dir die Fresse kaputt.‘ Ich bewundere jeden einzelnen, der auf einem Dorf Kommunist ist, sich dazu bekennt und es durchsteht. Es gehört viel Mut dazu.“

(Edwin Hörnle, 1883-1952)

Provinz – Was tun?

Um eine linke oder auch nur alternative Kultur in der Provinz zu erhalten bzw. erst zu begründen, mussen demokrati­sche Großorganisationen in die Pflicht genommen werden, um ihre Infrastruk­ tur und ihre technischen, personellen und finanziellen Mittel emzubringen. Dazu gehört auch, eine erleichterte För­derung von Provinzprojekten durch z.B. grüne Stiftungen einzufordern und über die entsprechenden Kreisverbände an die Stiftungen heranzutreten. Auch muß die Unterstützung von „schwa­chen“ Regionen durch „starke“, also durch Metropolen auf- bzw ausgebaut werden Dazu gehört auch, daß letztere den ersteren Referenten und „Kultur­beiträge“ (kostenlos) zur Verfügung stel­len. Die „Fördermitgliedschaft „ von Metropolen-Linken bei Provinzvereini­gungen scheint hier auch angezeigt, um den nötigen Kontakt der Metropole zur Provinz herzustellen, Finanzen (Beiträge, Spenden etc.) aus den besser gestellten Regionen an die Provinzen abzuführen, den lnformationsfluß auf­recht zu erhalten etc.

Auf dem „flachen Land“ muß schließlich versucht werden, die wenigen Gruppen und Einzelpersonen über gememsame Seminare, Treffen und Aktionen zu ver­netzen, nach Möglichkeit auch ein von allen Gruppen und Personen getragenes Zentrum im jeder Region einzurichten, wobei die (finanzielle) Unterstützung durch „stärkere“ Regionen (denkbar auch im Rahmen von „Regionalpartner­schaften“) wünschenswert wäre.

Ein weiterer Punkt könnte sein, so etwas wie ein provinzielles Regionalbe­wußtsein zu schaffen, indem die Geschichte der eigenen Provmz aufgearbeitet wird. Die Kämpfe, Siege und Niederlagen der „linken“ Vorfahren vom Bauernkrieg bis zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus wären hier ebenso aufzuzeigen wie das Leben der „einfachen“ Leute. Eine Geschichts­schreibung also, die der offiziellen mit ihrer Abfolge Grafen, Königen und Ministern, mit ihren „ausbrechenden“ Kriegen und „schicksalshaften“ Zufällen etwas entgegensetzt. Dazu gehört es auch, die Geschichte der aktuellen lin­ken Bewegungen in der Provinz selbst zu dokumentieren, um, wie Albert Hee­renknecht betont, ein Gefühl dafur zu entwickeln „Wir haben eine Ge­schichte!“

Und was tun gegen die Nachahmung des Metropolengehabes? Diesem gegenüber wären gerade in der Provinz Vermittelbarkelt unserer Inhalte und Bündnispolitik nicht nur nötig, sondern auch möglich, da es weniger Be­rührungsangst und Abschottung in den eigenen Politik- und Kulturghettos gibt, was auch für andere Gruppen (von der katholischen Jugend über Wohlfahrts­verbände bis zu Sport- und Kulturverei­nen) gilt.

Es soll hier nicht behauptet werden, es gäbe dabei keine Probleme und alles sei so schön provinziell einfach. Aber, wenn es darum geht, Hegemonie zu erringen, dann geht an dem Aufgezeig­ten kein Weg vorbei. Die Möglichkelten linker Politik liegen irgendwo zwischen Bündnispolitik und dem Achten auf Vermittelbarkelt einerseits und dem Festhalten an eigenen Positionen wie dem Nichtvereinahmenlassen anderer­seits, was zwar nicht nur für die Provinz gilt, hier aber nochmal verschärft zutrifft.