„Wenn mehrere Körper, von derselben Grösse oder auch von verschiedener Grösse, von anderen Körpern so zusammengedrängt werden, dass sie aneinanderliegen, oder wenn sie, mit demselben Grad oder auch mit verschiedenen Graden von Geschwindigkeit, sich so bewegen, dass sie ihre Bewegungen nach einer bestimmten Regel untereinander verknüpfen, dann wollen wir sagen, dass diese Körper miteinander vereinigt sind und dass sie alle zusammen einen einzigen Körper oder ein Individuum bilden, das sich von den anderen durch die beschriebene Vereinigung der Körper unterscheidet.“
Baruch Spinoza
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„Für einen Körper ist es schlechterdings nicht möglich, allein zu sein.“
Antonio Negri
Mit der Krise des letztgenannten Begriffs wird das Gemeinsame wieder zum Problem. Die Ausbeutung der abstrakten Arbeit besteht heute, im Zeitalter der flexiblen Akkumulation, zwar fort. Doch der Charakter der Ausbeutung hat sich verändert. Für viele Theoretiker hat sich deshalb die Notwendigkeit ergeben, das Subjekt des Befreiungsprozesses neu zu bestimmen.
Besonders umstritten ist heute der von Antonio Negri und Michael Hardt lancierte Begriff der Vielheit (multitudo), der auf Negris langjährige Beschäftigung mit der Philosophie Baruch Spinozas (1632-1677) zurückgeht. Indem er die Gemeinschaft der im globalisierten Kapitalismus arbeitenden Subjekte als multitudo bezeichnet, beruft sich Negri unter anderem auf Spinozas Theorie der Körper. In ihr sind alle praktisch-politischen Konsequenzen angelegt, die sich aus den von Hardt und Negri vorgelegten Analysen ergeben.
Antonio Negris Neubestimmung des Revolutionären Subjekts
Negri geht von einem Gegensatz zwischen Menge (multitudo) und Volk (populus) aus. Beide Begriffe finden sich nicht nur bei Spinoza, sondern auch bei Thomas Hobbes (1688-1679). Die Staatsgründung beinhaltet nach Hobbes einen Übergang von der multitudo zum populus. Es handelt sich um einen Prozess der Machtentäußerung, durch den die multitudo ihre Naturrechte an den Souverän abtritt. Durch diese Machtentäußerung entstehen sowohl Volk wie Staat. Anders als Hobbes denkt Spinoza diesen Prozess weder als endgültig noch als unbedingt wünschenswert. Im unvollendeten Schlusskapitel seines Politischen Traktats entwirft Spinoza eine politische Gemeinschaft, die absolute Demokratie, in der es zu keiner Machtentäußerung der multitudo kommt. Indem er diese Überlegungen fortsetzt und auf das Zeitalter des globalisierten Kapitalismus anwendet, lädt Negri dazu ein, die Möglichkeit einer globalen nichtstaatlichen Politik ins Auge zu fassen.
Wichtig ist hierbei vor allem die Ablehnung des Einheitsideals. Das Volk ist seit Hobbes immer wieder als Einheit gedacht worden. Als solche entsteht es aber erst durch die Machtdelegation an den Souverän, d.h. durch die politische Repräsentation. Ein politischer Zustand ohne Machtdelegation wäre ein Zustand ohne einheitliches Volk. Negris Begriff der multitudo stellt den Versuch dar, das zu denken, was an Stelle des Volkes zurückbleiben würde: eine nichtstaatliche und selbstverwaltete Gemeinschaft, die sich nicht auf eine repräsentierbare Einheit reduzieren lässt.
Hier scheinen sich gedankliche Parallelen zu dem von Giorgio Agamben entwickelten Begriff der unrepräsentierbaren Gemeinschaft zu ergeben. Anders als Negri denkt Agamben seine Gemeinschaft jedoch nicht bloß als unrepräsentierbar, sondern auch als passiv. Ihr Substrat ist jenes „nackte Leben“, das bei Agamben nicht zufällig immer nur in der Opferrolle auftritt. Negris Definition der multitudo liegt dagegen nicht der Lebens-, sondern der Arbeitsbegriff zugrunde. Die multitudo ist die Gesamtheit der im globalisierten Kapitalismus produktiv tätigen Subjekte. Dazu gehören sowohl der klassische Lohnarbeiter wie jene gesellschaftlichen Akteure und Akteurinnen, deren Beitrag zur kapitalistischen Wertschöpfung weder als Arbeit anerkannt noch entlohnt wird.
Negris Begriff der multitudo beinhaltet eine Neubestimmung des Ausbeutungsbegriffs, die einen radikalen Bruch mit dem orthodoxen Marxismus darstellt. Wenn nicht mehr nur die von Lohnarbeitern verausgabte Arbeitskraft ausgebeutet wird, da die kapitalistische Wertschöpfung zunehmend auf gesamtgesellschaftlichen Produktionsnetzwerken beruht, verliert das Wertgesetz seine Gültigkeit. Räumlich reicht der Produktionsprozess über die Fabriktore hinaus, um sich über das gesamte gesellschaftliche Territorium zu erstrecken; zeitlich vollzieht er sich auch außerhalb der entlohnten Arbeitsstunden, wodurch Arbeitszeit und Lebenszeit tendenziell zusammenfallen. Die Nichtmessbarkeit der Produktivität – im Sinne einer Sprengung der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Arbeit und Leben – ist ein wichtiges Symptom des ontologischen oder seinsmäßigen Wandels, den Negris Theorie beschreibt.
Inwiefern benötigt man zum Verständnis dieses Wandels die eingangs erwähnte Kategorie der Körperlichkeit? Negris Ausführungen über den Zusammenhang zwischen Körperlichkeit und multitudo bleiben zunächst relativ abstrakt. Er spricht von der „monströsen“ Körperlichkeit der multitudo und meint damit ihren nicht-repräsentierbaren Charakter: die Unmöglichkeit, ihre Vielheit auf eine Einheit zu reduzieren. Dabei ist daran zu erinnern, dass das Hobbessche Volk auf dem Titelblatt des Leviathan (1651) als ein riesiger Körper dargestellt wird, der sich aus kleineren Körpern zusammensetzt: der Staatskörper als Summe der Körper von Einzelbürgern. In diesem Bild zeigt sich das serielle Denken, das dem Volksbegriff zugrunde liegt. Das Volk ist eine Summe serienhafter Individuen. Sie sind zählbar; ihre Arbeitskraft ist messbar. Phänomene wie die Stimmzählung bei Wahlen und die keynesianische Wirtschaftsplanung sind darin angelegt. Negri spricht bezeichnenderweise nie von der multitudo als einer Summe von Individuen. Er spricht vielmehr von einem Ensemble von Singularitäten. Dieser Ausdruck sperrt sich gegen die Vorstellung einer möglichen Serie und behauptet damit implizit den anachronistischen Charakter sowohl der repräsentativen Demokratie wie auch der national- und planstaatlichen Verfügung über die Produktionsmechanismen.
Die multitudo bildet keinen Staatskörper. Negri vergleicht sie vielmehr mit dem von Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) entwickelten Begriff des Fleisches. Das Fleisch ist ein Stoff, der aufgrund seiner Wirkungsgesetze eine Vielzahl von jederzeit wieder auflösbaren Gestalten annehmen kann. Es ist Leben ohne Form, so wie die multitudo das ist, was zurückbleibt, wenn man den Staat abzieht: eine Produktivität, deren vergesellschafteter Charakter die Abstreifung kapitalistischer Herrschaftsstrukturen denkbar macht.
Die Körperlichkeit der multitudo drückt sich nicht in serienhafter Aneinanderreihung, sondern in fortgesetzter Vermischung und Verwandlung aus. Gerade in dieser scheinbar abstrakten Vorstellung finden sich die Ansätze des Organisationsmodells, dessen vermeintliche Abwesenheit Negris Kritiker so gern beklagen. Um dies besser zu verstehen, lohnt es sich, kurz auf Spinozas Theorie der Körper einzugehen.
Der Körper bei Spinoza
In der Ethik bestimmt Spinoza den Geist als die Idee des Körpers (Teil 2, Lehrsatz 13). Der Mensch als denkendes Wesen ist zunächst ein körperliches, die Veränderungen seines Körpers empfindendes Wesen. Jedes geistige Vermögen ist in der Empfindungs- und Handlungsfähigkeit des entsprechenden Körpers begründet. Das bedeutet unter anderem, dass kein Körper als isoliert vorzustellen ist, sondern vielmehr als in komplexe und wandelbare Körperzusammenhänge eingebunden.
Negri sieht in dieser Überlegung die Grundlage einer materialistischen Theorie des kollektiven Handelns. Ausschlaggebend ist hierbei Spinozas Unterscheidung zwischen einfachen und zusammengesetzten Körpern. Erstere unterscheiden sich auf dreifache Weise voneinander: durch ihre Bewegung oder Ruhe und durch den Grad oder die Geschwindigkeit ihrer eventuellen Bewegung. Spinoza betont ausdrücklich, dass dies die einzigen Kriterien zur Unterscheidung einfacher Körper sind: „Körper unterscheiden sich voneinander aufgrund von Bewegung und Ruhe und aufgrund des Grades ihrer Geschwindigkeit und nicht im Hinblick auf Substanz“ (Ethik, Teil 2, Lehrsatz 13, Hilfssatz 1). Unter Substanz versteht Spinoza „das, was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird“ (Ethik, Teil 1, Definition 3). In der Weigerung, den Körperbegriff aus dem Substanzbegriff abzuleiten, ist die Aufforderung enthalten, den Körperbegriff stets im Plural zu denken, d.h. den Körper niemals als bloßen Einzelkörper oder unter Verleugnung seiner Interaktion mit anderen Körpern zu definieren. Ein Körper ist einfach das, was er tut und was mit ihm geschieht. Kein Körper existiert außerhalb seines Zusammenspiels mit anderen Körpern.
Einfache Körper wirken beständig aufeinander ein. Dies ist deshalb möglich, weil ihnen die Fähigkeit zu Bewegung und Ruhe, sowie zu verschiedenen Graden der Bewegung, gemeinsam ist. Ein ruhender Körper kann von einem anderen in Bewegung gebracht, ein sich bewegender in Ruhe versetzt werden. Jedes Körperverhalten verweist auf Körperzusammenhänge, d.h. auf Bewegungs- und Geschwindigkeitsverhältnisse. Dass es überhaupt Bewegung gibt, setzt eine Vielheit sich gegenseitig beeinflussender Körper voraus – eine multitudo.
Zusammengesetzte Körper bilden sich, wenn sich einfache Körper gemeinsam bewegen. Ein zusammengesetzter Körper ist ein relativ konstanter Bewegungszusammenhang. Zwei oder mehr zusammengesetzte Körper können einen größeren zusammengesetzten Körper bilden. Solche größeren Körper können sich auf die gleiche Weise noch weiter vergrößern. So gelangt man vom physikalischen zum biologischen Körperbegriff, aber auch zum Begriff der politischen Gemeinschaft als einer Gemeinschaft menschlicher Körper, und schließlich zum Begriff der Welt als der Gesamtheit aller Körper.
Übersetzt man dieses Modell in politische Begriffe, ergibt sich das Organisationsmodell der multitudo. Vom Gemeinsamen ausgehend, überwindet es die statische und isolierende Betrachtungsweise der Hobbesschen Anthropologie. Nicht um den Erhalt eines aus vorgefertigten Individuen zusammengesetzten Staatskörpers geht es, sondern um wandelbare Kooperationsverhältnisse und einen offenen Prozess produktiver Begegnungen, in dem die Möglichkeit einer unbeschränkten Expansion angelegt ist. Dem produktiven Zusammenspiel der Körper sind keine ontologischen oder seinsmäßigen Grenzen gesetzt. Befreiung der Körper bedeutet letztendlich nichts anderes als das, was Marx als Entfesselung der Produktivkräfte bezeichnete: Befreiung von gewaltsam verordneten Maßverhältnissen, durch die die schöpferische Bewegung der multitudo in Zaum gehalten werden soll. Negris politische Positionen sind in diesem ontologischen Entwurf begründet, ob es sich nun um seine Aussagen zum Strukturwandel des Nationalstaats, zur Migrationspolitik, oder zur tendenziellen Hinfälligkeit der Unterscheidung zwischen Arbeitszeit und Lebenszeit handelt.
Politische Konsequenzen
Aus den zahlreichen politischen Konsequenzen, die sich aus dem Begriff der multitudo ergeben, sollen hier drei hervorgehoben werden. Die erste betrifft die Sprengung des theoretischen Rahmens der traditionellen politischen Philosophie, die zweite die Hinfälligkeit des Wertgesetzes, die dritte die Organisationsfrage.
Erstens fordert der Begriff der multitudo dazu auf, die Begriffe der politischen Repräsentation und der Souveränität zurückzuweisen, um eine nichtstaatliche Politik zu denken. Er lädt damit auch dazu ein, die Fixierung auf parteipolitische Fragen aufzugeben. Revolutionäre Bewegungen entsprechen der hier umrissenen Ontologie dann am vollkommensten, wenn sie sozusagen unterhalb der staatlichen Ebene agieren. Negris Theorie beinhaltet somit ein Plädoyer für das Modell der autonomen Basisbewegung, die sich weigert, ihre Entscheidungsmacht an staatliche oder parteipolitische Repräsentanten zu delegieren.
Zweitens beinhalten die in Verbindung mit dem Zusammenbruch des Wertgesetzes und dem zunehmend vergesellschafteten Charakter der Produktion angestellten Überlegungen eine Aufforderung, von lohnpolitischen Fragen Abstand zu nehmen. Negris Begriff der multitudo schließt an die Überlegung an, dass es im Zeitalter der vergesellschafteten Produktion und der Massenarbeitslosigkeit nicht mehr einfach um gerechte Entlohnung oder eine Verringerung der Arbeitszeit gehen kann. Angesichts der Kapitalisierung eines immer häufiger außerhalb der entlohnten Arbeitszeit geschaffenen Wertes gilt es Negri zufolge vielmehr, die jüngsten Forderungen nach einem sozialen Grundeinkommen aufzugreifen und in Hinblick auf ihre praktische Durchsetzbarkeit weiterzudenken. Die Forderung nach einem sozialen Grundeinkommen ist insofern auf der Höhe der Zeit, als sie sich gänzlich vom Wertgesetz befreit hat und somit die Sprengung der ökonomischen Maßverhältnisse zur Kenntnis nimmt, von der Negri und Hardt in ihrer Analyse des Postfordismus ausgehen.
Drittens schließlich lässt sich aus der im Begriff der multitudo enthaltenen Zurückweisung des Substanzbegriffs eine Polemik gegen jene überzogen statischen Vorstellungen der politischen Subjektivität ableiten, die die Hochzeit des Industrieproletariats der heutigen Linken vererbt hat. Solche Vorstellungen drohen – auch entgegen der Absicht ihrer Urheber – staatstragend zu sein oder zu werden. (Überspitzt ausgedrückt: was statisch ist, ist tendenziell auch staatstragend. Etymologisch geht das Wort Staat auf stare, stehen, zurück.) Im Zeitalter vollständig globalisierter Produktions- und Konsumtionsstrukturen, dem Zeitalter einer weitgehenden Abkopplung der Produktion von der Beschäftigung und des Lohns von der Produktivität, kann es Negri zufolge nicht darum gehen, dem Massen- oder gar dem Facharbeiter nachzutrauern. Vielmehr gilt es, die Veränderungen der Arbeit und der an sie gekoppelten Ausbeutungsmechanismen detailliert nachzuzeichnen, um das Programm einer neuen Allianz revolutionärer Kräfte zu entwerfen. In der institutionellen Politik gängige Unterscheidungen, wie z.B. die zwischen Staatsbürgern und Einwanderern oder zwischen Arbeitslosen und Arbeitnehmern, dürfen also nicht unkritisch hingenommen werden. Es kann nicht mehr darum gehen, „Wir sind das Volk!“ zu skandieren oder in „der Klasse“ bzw. „der Partei“ den Keim eines zukünftigen und vermeintlich besseren Staates zu erkennen. Eine dem Begriff der multitudo entsprechende Bewegung müsste vielmehr von sich sagen können: „Wir sind die Vielen, die sich Staat und Volk entziehen, um vermittels des uns Gemeinsamen eine Gesellschaft jenseits von Herrschaft und Ausbeutung zu errichten.“ In einem solchen Selbstverständnis wäre eine einfache aber grundlegende Überzeugung enthalten: dass nämlich nur der Versuch, das Gemeinsame der bei allen arbeitssoziologischen Veränderungen fortbestehenden Ausbeutung wieder zu entdecken, die bei Marx noch gegebene Beziehung zwischen Ausbeutung und Befreiung wiederherstellen kann.