Durch diese Sichtweise werden die Menschen ausgeschlossen, die mit nichteindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren werden. Die Medizin spricht in solchen Fällen von Intersexuellen und pathologisiert sie in Syndromen, um diese anschließend zu „therapieren“. Dies geschieht im gesellschaftlichen Kontext, Intersexuelle werden tabuisiert und durch den Gesetzgeber negiert1.

Um diese Thematik öffentlich zu machen und um gleichzeitig ein Forum für die Geschädigten zu bieten, gründete sich die Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG), mit deren Sprecher, Michel Reiter, folgendes Gespräch entstanden ist.

Von Michel zu Birgit und von Birgit-Michel zu Michel. Der Zusammenhang von Zwangszuweisung und Namensgebung

Eigentlich ist es egal, ob ihr mich mit Michel oder Birgit ansprecht, da beides falsch ist. Im Zweifelsfall sage ich natürlich lieber Michel, weil Birgit, zu der ich gemacht wurde, will ich nicht sein.

In meiner Geburtsurkunde wurde Michel, männlich, eingetragen und nach vier Monaten haben sich die Mediziner anders entschieden und haben gesagt, dieses Kind ist weiblich.

Zu meinem ersten Namen Michel hatte ich ein sehr authentisches Gefühl, ich dachte, dieses Kind ist bestimmt gern auf die Welt gekommen. Ich kann das schwer erklären, auf jeden Fall hatte ich den Eindruck, ja das hat gestimmt. Diese Stimmigkeit gab es nach der Behandlung jedoch nicht mehr. So daß ich nach und nach meinen ursprünglichen Namen (Michel) integriert habe. Auch das kippte mit dem Gefühl, daß Birgit nur konstruiert wurde, um eine geschlechtliche Zuweisung machen zu können. Erst mit 29 Jahren habe ich festgestellt, daß das, was mir suggeriert wurde, nämlich ich sei eine Frau, nicht stimmte, und daß ich mich mit Birgit nie identifizieren konnte. Deshalb habe ich entschieden, daß Birgit rausfliegt. Das heißt nicht, daß ich jetzt männlich bin. Und das heißt auch nicht, daß Birgit weiblich war. Das heißt nur, daß ich für mich eine Ära der Zuweisung versuche abzuschließen.

Meine Namensänderung ist natürlich auch ein Schritt nach außen, denn wer mich auf der Straße sieht, wird wahrscheinlich denken, ich sei eine Frau.

In der Zeit, als ich noch Birgit-Michel hieß oder mich so nannte, da haben die Leute entweder den Michel weggekürzt oder sie haben mich für verheiratet erklärt, also Birgit Michel-Reiter gesagt. Das scheint auf den ersten Blick trivial, aber beim hundertsten Mal fängt es massiv an zu nerven. Das ist dann die Seite der Ignoranz, die mir mit Birgit-Michel permanent passiert ist und die mir jetzt mit Michel Reiter auf dem Papier nicht mehr passieren wird. Jetzt schreiben sie „Herr Michel Reiter“. Das ist aber genauso falsch.

Intersexuelle, Hermaphroditen: was bedeuten diese Begriffe und wann werden Menschen als Intersexuelle oder Hermaphroditen bezeichnet?

Intersexuelle und Hermaphroditen sind Begriffe, die davon abhängig sind, wer sie geschaffen hat bzw. wer sagt, wann Frau oder Mann aufhört und wann Intersexen und Hermaphroditen anfangen? Es handelt sich damit um variable Begriffe. Allgemein wird angenommen, daß ausschließlich zwei, eindeutig unterschiedliche Geschlechter existieren: Mann und Frau. Diese „biologische Gewißheit“ wird nicht näher reflektiert. Doch 1–4% der Geburten zeigen geschlechtliche Unklarheiten auf und eine von 2000 ist geschlechtlich ausreichend atypisch, um die Frage zu stellen: „Ist es ein Mädchen oder ein Junge?“

Diese Personengruppe bezeichnet der moderne medizinische Diskurs als Intersexuelle oder Hermaphroditen, dem Volksmund sind sie auch als Zwitter bekannt.

In der Medizin ist auch von Mißbildungen die Rede, und die entsprechenden Abweichungen werden Syndrome genannt, von denen es 13 verschiedene gibt. Das bedeutet, daß die Medizin zu Außenstehenden auch nicht von Hermaphroditen oder Zwittern spricht, sondern immer nur von Syndromen.

Der Witz bei diesen Aufteilungen ist, daß, wenn man alle Menschen nackt nebeneinander aufstellen würde, die verschiedensten Variationen von Genitalausprägung, von Brustausprägung, von inneren Genitalien, und von Chromosomen usw. existieren würden, und daß damit diese Einteilung in Frauen, Männer, Zwitter, mißgebildete Männer, mißgebildete Frauen usw. eigentlich eine willkürliche Grenzziehung ist. Bei einer Recherche in der medizinischen Literatur lassen sich diesbezüglich auch immer wieder Unstimmigkeiten finden. Die Medizin versucht auf etwas, was nicht eindeutig ist, eine Polarität draufzusetzen und das kann sie nur, indem sie willkürliche Grenzen setzt.

Medizinische Eingriffe – Im Sinne des Kindes, gewollt durch die Eltern oder ärztliche Willkür?

Zunächst stellt sich die Frage, wer ist schuld, oder wer zwingt wen. Von Ärzten wird gern behauptet, daß Eltern die Ärzte zwingen, und historisch läßt sich ableiten, daß die Ärzte schon selbst gute Arbeit geleistet haben. Eltern, die diese Zuweisung bei ihrem Kind nicht machen lassen, müssen sich nicht selten von Ärzten sagen lassen, daß ihr Kind lebensgefährlich bedroht ist.

Da die Operationen und Untersuchungen in der Regel von hochbezahlten Spezialisten durchgeführt werden, spielt hier eine gewisse Autorität auch eine Rolle. Der Arzt sagt natürlich, dieses Kind ist mißgebildet und dem kann man helfen. Ärzte können sehr aggressiv werden, wenn ihre Hilfe nicht in Anspruch genommen wird, und es gibt Ärzte, die sich von Eltern unter Druck gesetzt fühlen, nicht nur diese Zuweisung generell zu machen, sondern sie möglichst schnell zu machen. Dann entsteht für Ärzte das Problem, daß sie unter Umständen, besonders nach der Geburt, Diagnosen geben müssen, derer sie sich selbst nicht sicher sind. Andererseits wird den Eltern in Deutschland auch keine Alternative angeboten. Es gibt keine unabhängigen Beratungsstellen für Eltern, die sagen, diesen Scheiß machen wir nicht.

Kommen wir zu der Frage, wann nach welchem Geschlecht zugewiesen wird. Das ist ganz einfach, befindet sich ein ‚Y’ im Chromosomensatz, gibt es einen Peniswachstumstest und wenn der versagt, wird sich in der Regel für eine Feminisierung entschieden und wenn kein ‚Y’ im Chromosomensatz ist, wird immer feminisiert.

Das Perfide daran ist, daß es sich beim Peniswachstumstest nur um eine Prognose handelt, die unter Umständen auch mal falsch sein kann. Das hätte zur Folge, daß das Kind vielleicht im Alter von 14 Jahren noch feminisiert wird, was ziemlich traumatisierend ist, da das Kind bereits eine eindeutige Rolle übernommen hat, die sich plötzlich ändern soll.

Bei der Feminisierung ist besonders der Fall interessant, wenn gesagt wird, daß dieses Kind schwanger werden kann, weil Gebärmutter und Eierstöcke vorhanden sind. Das ist aber nicht empirisch belegt, es gibt sogar Hinweise, daß diese Schwangerschaften äusserst schlecht gehalten werden. Und in einem anderen Fall kommt es vor, daß diese Leute keine Vagina und keinen Uterus haben, dennoch wird ihnen eine Vagina eingesetzt. Es gibt ein Zitat, das heißt: „Das Ziel ist, eine sexuell funktionierende Person zu erschaffen.“ Und was „sexuell funktionierend“ ist, das steht dann an anderer Stelle, das hat aber mit sexuellem Lustempfinden nichts zu tun. Hauptsache, penetriert werden zu können, das ist die weibliche Zuweisung. Und das ist alles, was für die Ärzte zählt: Kinderkriegen und Bumsen. Wobei Bumsen wichtiger ist als Kinder. In den Medizinbüchern läßt sich diese eigenwillige Logik nachlesen, das ist Heterosexismus in Reinstform.

Bei der Maskulinisierung spielt das zukünftige Lustempfinden auch keine Rolle, weil dabei im Stehen pissen zu können das erste Kriterium ist. Und um das zu erreichen, werden z.B. Harnröhren verlegt. Ich kenne einen Fall von 21 Operationen, danach war der Penis völlig vernarbt und nicht mehr erektionsfähig, aber im Stehen pissen war möglich.

Die Ergebnisse der Operationen bei einer Feminisierung wie bei einer Maskulinisierung sind katastrophal, wobei sich Ärzte natürlich rühmen, daß sie diese Operationen mit Hilfe der Mikrochirurgie jetzt besser durchführen können. In 15 Jahren werden wir wieder hören, daß sie damals, 1997, leider Fehler gemacht haben, so wie wir das heute auch hören, daß sie damals – 1960 – Fehler gemacht haben.

Die Medizin kennt auch noch Mißbildungen der Genitalien, da wird das Geschlecht nicht in Frage gestellt, aber das Genital. Diese Genitalfehl- und -mißbildungen werden bei Frauen doppelt so hoch registriert, wobei nicht davon ausgegangen werden kann, daß Frauen stärker mißgebildet sind, sondern daß an ihnen mehr geforscht wird. Im männlichen Bereich ist noch nicht so viel entdeckt worden, oder sie wollten auch nicht so viel pathologisieren, da es sich meist um männliche forschende Ärzte handelt. Krumme Penisse sind zum Beispiel noch nicht pathologisiert worden.

Traumatische Folgeschäden durch gewaltsame Herstellung medizinischer Eindeutigkeit

Ich kann für mich sprechen, für meinen Jahrgang und ich kann für die sprechen, die sich offen dazu äußern, das sind in den USA etwa 150 und in Deutschland zwei.

Bei uns wurden die Traumata durch verschiedene Faktoren ausgelöst, wobei der operative Eingriff das stärkste Schockerlebnis verursacht. Hinzu kommen eine Reihe von Nachfolgeuntersuchungen, die auch bei einer sensibilitätserhaltenden Operation nicht ausbleiben, bei denen der Arzt ständig die Auswirkungen der Hormonbehandlung begutachtet. Auch die Hormonbehandlung als solche stellt natürlich einen Faktor dar. Wir sprechen bei all dem von Folter.

Ich für meinen Fall habe in 14 Jahren 200 gynäkologische Untersuchungen und 300 Hormonbehandlungen erlebt. Außerdem wurde ich bougiert, d.h. mir wurde eine Vagina eingesetzt, die auch ständig gedehnt werden mußte.

Es handelt sich dabei nicht nur um Massenvergewaltigungen, sondern hinzu kommt diese Systematik, mit niemanden darüber sprechen zu dürfen, auch nicht mit den eigenen Eltern, keine Informationen zu bekommen, warum das eigentlich gemacht wird. Ich denke, wenn dem Kind so etwas wie eine Mitentscheidungsmöglichkeit und entsprechende Informationen gegeben werden, wäre ein Eingriff wesentlich weniger traumatisierend.

Der Mensch bleibt auf der Strecke, ein Wesen ohne das Gefühl von physischer und psychischer Integrität

Für mich stellt sich nicht unbedingt die Geschlechterfrage. Ich habe einmal gesagt: „Gender können nur die für sich formulieren, die ihren Sex kennen“. Ohne Sex gibt es kein Gender. Das ist der Bereich, den ich manchmal versuche zu erklären, eine geschlechtliche Zwangszuweisung kann kein Geschlechtsempfinden erzeugen. Insofern kann von einer Zuweisung nur abgeraten werden, es funktioniert nicht.

Ich denke, daß ein neugeborenes Kind zwar noch keine Identität, aber bereits ein Gefühl von physischer und psychischer Integrität besitzt. Ein operativer Eingriff zerstört jedoch das Gefühl für Integrität und Intaktheit, besonders wenn er in so frühen Wochen und Monaten vorgenommen wird, wie das in dem Hermaphroditenbereich oft der Fall ist. Und ich bin mir nicht sicher, ob diese Integritätszerstörung jemals wieder aufhebbar ist.

Eigentlich hatte ich kein Geschlecht, sondern eine Zuweisung. Andere Menschen sind mit einem authentischen Körpergefühl groß geworden, auch wenn sie es vielleicht gehaßt haben, aber es war etwas da.

Wir haben das einmal mit Frankenstein verglichen, daß hier aus einem ehemals intakten Wesen ein neues zusammengebaut wurde: Frankensteins Monster. Und dieses „Neue“ ergibt in sich keine Stimmigkeit.

Ich habe schon früher, bevor ich wußte, daß ich umgebaut wurde, gespürt, daß sie mir Lebensenergie geraubt haben – irreversibel. Es gibt ein abgrundtiefes Gefühl, auf einer zutiefst denkbaren Ebene zerstört worden zu sein.

Das sagen aber auch Leute, die gefoltert wurden. Ich weiß nicht, ob man das allein an den Genitalien festmachen kann, oder ob es einfach nur um die Massivität der Eingriffe geht.

Staat und Gesellschaft ignorieren Intersexualität – Menschen, die in unserer Wirklichkeit nicht vorkommen

Der Gesetzgeber kennt natürlich nur zwei Geschlechter, genauso wie er nur zwei Klos und nur zwei Möglichkeiten der Beantwortung der Frage nach Mann oder Frau kennt. Und wenn das falsche Feld angekreuzt wurde, dann bessert das der/die SachbearbeiterIn gern nach. Sprich, man kann ankreuzen, was man will, sie machen daraus, was sie wollen. Und diese Einschränkungen sind natürlich in dem Moment gegeben, wo sozialer Kontakt in öffentlichen Räumen stattfindet.

Privat interessiert mich weniger, was der Gesetzgeber sagt. Aber es interessiert mich für meinen Namen Michel. Ich habe jetzt die Möglichkeit, eine Berichtigung durchzuführen, also die Streichung des Randvermerkes „Birgit“, was bedeutet, daß ein Fehler eingesehen werden muß. Jetzt tragen sie in die Geburtsurkunde „männlich“ ein, was genauso verkehrt ist. Das Namensrecht in Bezug auf Eindeutigkeit ist mit Sicherheit eine Angelegenheit, die vor das Bundesverfassungsgericht gehört.

Diese Einschränkungen sind immer dann zu merken, wenn es z.B. um juristische Geschäfte geht, wenn irgendwo eine verbindliche Unterschrift gesetzt werden soll, und das ist schon bei einer Hausarbeit an der Uni der Fall.

Es gibt die Abwägung, was schlimmer ist, das Wissen der eigenen „Abnormität“ oder die Folgen des chirurgischen Eingriffs, um nach außen hin „normal“ zu wirken. Meines Erachtens nach sollte dem Kind vermittelt werden, daß es dem gängigen Bild von Männlein und Weiblein nicht hundertprozentig entspricht und daher einen selbstbestimmten Weg der Zuweisung erfahren wird.

Ich bin der Ansicht, daß das Geld, welches für die vielen Verstümmelungen ausgegeben wird, eher in die gesellschaftliche Infrastruktur investiert werden sollte, um das Kind halbwegs stabil aufwachsen zu lassen. Es hat natürlich keinen Sinn, daß Eltern diese Abweichungen tabuisieren.

Ich befürchte zukünftig den gefährlichen Trend, daß mit einer zunehmenden Veröffentlichung dieser Thematik der Ruf nach Abtreibung von nicht eindeutig geschlechtlich zuzuordnenden Föten stärker wird. Zwitter können nach der medizinischen Indikation bis zum neunten Monat abgetrieben werden, wenn sie für die Eltern als nicht zumutbar gelten.