April, in der Hochhaussiedlung vor Iserlohn (zwölfstöckige Familienbuchten mit vollgepißtem Keller, getaggten Briefkästen und einem immer kaputten Aufzug, was der üblichen Verfettung in den oberen Stockwerken gewisse Grenzen setzt) übten sich die Bewohner in gewöhnlicher Kommunikation. Graugesichtige Sulzwurstkäuferinnen, die am liebsten Dinge wie «habt ihr zu Hause nicht gelernt, euch zu benehmen?» fragen, Kopftuchträgerinnen, die dickdarmdurchweichend vom Fenster im 7. Stock ihren Kinder hinterhergrölen «Cocuguuuum, buraya gel!», oder jene Sorte Nachbarn, die sich am Briefkasten begegnen, um geradezu übereinander herzufallen: «Schönes Wetter heute, was?», «Ja, wurde auch Zeit langsam.»
Auf den Grünflächen (Betreten natürlich irgendwie verboten) brachen die erste Krokusse raus und Slobo, der so was wie der beste Kumpel von Fikret ist und zu jener Klasse Kanacken gehört, die in den Augen der Deutschen lange Zeit gar keine richtigen waren, nämlich Jugos, und deswegen auch nicht besonders auffallen, passierte, was fast allen Gelb-, Rot-, Braun-, Blau- und Schwarzköpfigen um diese Jahreszeit passiert: Ihn befiel die innere Unruhe, das heißt, der nervöse Blick oder das kindische Kichern, wenn irgendwelche Frauen vorbeilaufen, was in diesem Land umso schwerwiegender ist, als man sonst eigentlich problemlos acht Monate mönchisch verbringen kann, ohne sich über Dinge wie Sex größere Gedanken zu machen. Aber April ist eben anders, man wird zum Opfer der Hormone, entdeckt die Schönheit des Lebens und will auf einmal eine Familie gründen (oder so ähnlich) und so verschaute sich dieser entkoffeinierte Mixedpicklejugoslawe (der im Prinzip auch beim VfB Stuttgart als Mittelstürmer spielen könnte, so bubimäßig kommt er rüber) ausgerechnet in eine dieser alewitischen Schönheiten, die sich keiner anzusprechen traut, weil sie mindestens einenmetervierundvierzig über dem Erdboden schweben und einen gnadenlos niederlächeln, wenn ihnen gerade danach ist.
Keine Ahnung, woher dieser Skopje-Albano-Slowene (das sind diese Leute, die viersprachig groß werden, weil die Eltern gleichzeitig türkisch, serbo-kroatisch, albanisch und ein paar Fetzen griechisch verstehen) den größenwahnsinnigen Gedanken hatte, diese Frau zum Kaffee einzuladen, aber irgendwie klappte es, und so sah man an jenem denkwürdigen 8. April, der noch in die Geschichte von Iserlohn eingehen sollte, die beiden zusammen in der Eisdiele. Der Laden heißt «Bei Luigi», aber alle sagen einfach nur «bei Lutschi», weil das auch ganz gut zu einem Eisladen paßt, und angeblich gibt es hier den besten Bananasplit nördlich der Linie Triest-Bordeaux.
Fakt ist, daß Slobo, der Kümmeljugoslawe, sein Anliegen der Herzdame so charmant näher brachte, daß sie noch am selben Abend mit ihm in einem Hauseingang verschwand. Feuchte Küsse und hektisches Gefummel, aber «weiter war nich, Mann». Die schöne Ceyhan verteidigte ihre Familienehre ohne Abstriche und zwar nicht nur an diesem Abend, sondern auch an den folgenden 73 Abenden, die ziemlich ähnlich abliefen. Die gelockte Schönheit war zwar für manche Schweinerei zu haben, bei der gelbköpfige Damen und Herren vor Scham erröten würden, aber ans Häutchen ließ sie nix kommen, «da ist Babas Schnurbart vor» oder «da hat der Spaß ein Ende», und die beiden waren einfallsreich und intelligent genug, um das zu akzeptieren.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Fikret, der Abiturkurde mit Maschinenbaustudiumambitionen und stickdeckenfreier Wohnzimmereinrichtung, mit der Sache gar nichts zu tun. Das einzige, was ihm auffiel, war, daß man mit Slobo keinen vernünftigen Satz mehr wechseln konnte und Slobos Handy auf Dauermailboxbetrieb gestellt war, «der Inhaber dieser Nummer ist zur Zeit leider nicht erreichbar». Entspannte Frühlingswochen, während der Fikret seinen Freund manchmal mit einer gewissen Abneigung, manchmal mit aufrichtigem Neid beobachtete.
Aber dann wurde Fikret von einem Bekannten des Vaters gesteckt, daß die Familie des Bräutigams sich die Sache zwischen der Versprochenen und Slobo nicht länger mitanschauen würde. Die Geschichte – von der weder Slobo noch Fikret gewußt hatten – war nämlich die, daß Ceyhan seit Jahren einem Typen aus Witten versprochen war, der da in der zweiten Generation auf StahlkocherABM machte.
Die Familie des Bräutigams kündigte ihre Ankunft in der Iserlohner Vorstadt an – was für Ceyhan schon deshalb eine Katastrophe war, weil nun auch die letzten im Wohnblock, nämlich ihre eigenen Eltern, begreifen würden, wo der Hase langlief. Und Slobo, die feige Sau, anstatt mit seiner Freundin abzuhauen, den romantischen LoveStory-Film abzuziehen und irgendwo in Oberpfaffenhofen oder New Mexico eine 12- bis 17-köpfige Familie zu gründen, setzte alle verfügbaren Hebel in Bewegung, um die Telefonnummer seiner Jäger herauszubekommen. Nach exakt 37 Minuten Recherche hatte er sie (Vorwahl inclusive) ermittelt, und Slobos Vater rief sofort beim Bräutigam Baba an (solche Angelegenheiten regelt man nicht persönlich), um die üblichen Demutsbekundigungen vorzubringen.
– Agabey, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Wenn wir gewußt hätten, daß das Mädchen verlobt ist, hätten wir es nie erlaubt.
Aber der Vater des Bräutigams ließ nicht mit sich reden, mit ritterlicher Stimme (keine Ahnung, wie solche Vorstellungen 30 Jahre Hösch-Hochofen überdauern) antwortete der Mann:
– Ich danke Ihnen für diese Worte, aber dafür ist es jetzt leider zu spät.
Natürlich hätte Slobo schon da auf die glorreiche Idee kommen können, daß man in Frankfurt genauso gut arbeitslos sein kann wie in einer ökobewegtneubegrünten Schlakkenhaldenregion. Stattdessen jedoch bemühte er sich weiter um die Gunst des zukünftigen Bräutigams – als ob Ceyhan nur ein Trick gewesen wäre, um an den Mann ranzukommen. Er telefonierte ihm hinterher, wann immer sich eine Gelegenheit ergab, und tatsächlich schlug ihm der Bräutigam nach zehn Tagen doch noch ein Treffen vor. Sie verabredeten sich ausgerechnet im «Güzel Deniz», einem spielautomatenverseuchten Café, in dem die versammelten Lans-Mannschaften anzutreffen waren: wer etwas auf den Spoiler am Golf und das Handy am Gürtel hielt, kam hierher – egal ob die Papiere deutsch oder ausländerisch waren.
Fikret war trotz Maschinenbaustudiumambitionen und PommfritzLessingSchillerBVB-Assimilation noch GemüseAli genug, um bei der Wahl des Ort mißtrauisch zu werden. Und so beschloß er, noch einen Freund anzusprechen, um schließlich zu dritt loszugehen: Vorneweg Horstundrenate (ein ziemlich langsamer XXXL-Basketballhemden-Gelbkopf, der in Wirklichkeit natürlich Hanspeter hieß, aber den griffigen Spitznamen einfach nicht mehr los wurde) und dahinter Slobo und Fikret.
Horstundrenate schien für diese Sache eine ganz gute Wahl zu sein. Der Typ gehörte zu jener seltenen Sorte Teutschmänner, die es verstehen, zur Begrüßung die Hand zu geben, ohne dabei gleich eine leicht klemmige Situation aufkommen zu lassen, also kein Arschkneifenalemanne, der vor lauter Steifheit im Treppenhaus immer wortlos an einem vorbeizuhuschen versucht. Gleichzeitig versprach sich Fikret, der die Sache strategisch durchdacht und geplant hatte, von Horstundrenate so etwas wie einen Deeskalationseffekt, denn sicher wollte sich der Bräutigam vor einem dieneuerevueDichterunddenker nicht wie ein anatolischer Olivenzüchter aufführen. Aber das war von Fikret ziemlich um die Ecke gedacht, wie sich herausstellen sollte, denn erstens entpuppte sich Horstundrenate als ziemliches Sicherheitsrisiko und zweitens hatte der Bräutigam berechtigterweise überhaupt keine Bedenken, vor einem Teutonen als unzivilisiert wirken zu können («Glücksrad» und «Arabella Kiesbauer»!).
Slobo, Fikret und der ziemlich coole Deutsche betraten das «Güzeldeniz» mit jener Menge kaltem Schweiß auf der Stirn, der bei solchen Angelegenheiten wahrscheinlich unvermeidbar ist. Um sie herum nichts als Karten klopfende und spielautomatenfütternde Goldkettchentypen, die so taten, als ob sie vom Treffen am Nebentisch nichts wüßten (wobei jedoch ziemlich auffällig war, daß dieses normalerweise um die Tageszeit völlig verschlafene Café bis zum letzten Platz gefüllt war). Während die Blicke von 43 «voll-das-Gefährt-du»-Jungmännern auf ihnen und ihren schweißbedeckten Stirnen ruhten, versuchten Slobo, Fikret und Horstundrenate möglichst souverän auszusehen.
Der Bräutigam und sein Adjudant kamen sofort auf sie zu, nickten wortlos und wiesen ihnen Plätze an einem Tisch in der vorderen Ecke des Raums zu. Das war komisch, normalerweise hätte man sich bei so einer Sache mit Sicherheit in den abgelegensten Teil der Kneipe verdrückt, aber alle anderen Tische waren voll, also setzten sie sich zu fünft direkt neben das Glasfenster, das zur Straße hinausging.
Als ob sie damit nicht schon genug auf der Platte gewesen wären, hatten sich zu allem Überfluß auf der gegenüberliegenden Strassenseite auch noch einige Zivilbullen plaziert, die Wind davon bekommen hatten, daß «im Güzeldeniz eine Blutfehde zwischen zwei türkischen Familien ausgetragen werden sollte». Also nicht nur Spielhallenkönige und ansonsten aufgeklärte Alewiten (bei denen der Spaß allerdings auch irgendwo aufhört), sondern auch noch hippietranige Polizisten im Aldijacken-Zivil. Alle Voraussetzungen für ein glamouröses Finale.
– Laß uns zu zweit rausgehen, sagte der Bräutigam streng.
– Wir können auch hier reden, antwortete Slobo, der schon ahnte, was auf ihn zukam. Aber der Bräutigam bestand darauf:
– Das muß unter uns bleiben.
– Ich hab keine Geheimnisse vor meinen Freunden, erwiderte Slobo.
– Aber ich.
Fikret versuchte Slobo zurückzuhalten, aber der Freddybobic-Jugo ließ sich doch darauf ein, anscheinend wollte er die Geschichte einfach hinter sich bringen, und so verschwand er mit dem Bräutigam vor die Tür.
Es war Fikret hinterher nicht ganz klar, was ihn schließlich dazu bewog, trotz der kategorischen Worte des Bräutigams doch noch aufzuspringen und seinem Kumpel hinterherzuhechten. Während Horstundrenate gleichgültig dasaß und lässig mit einer kleinen Feile den Dreck unter seinen Fingernägeln hervorpuhlte, als ob er gerade einem schlechten Schwarze-Reihe-Krimi entsprungen wäre, beobachtete Fikret die Leute an den Nebentischen und begann nervös zu werden. Entweder er hatte genug «Aralseeasiaten-ich-weiß-was-mit-Blutfehden-abgeht-Instinkt» (Südländer!) oder aber es lag einfach an den auffällig zuckenden Fingern der Kleinstadtdjangos an den anderen Tischen. Auf jeden Fall sprang er auf, als einer der Nachbarn eine zu schnelle Bewegung machte, warf den Tisch in Richtung der auf ihn zuspringenden Typen und schlüpfte an ihnen vorbei durch die Tür hinaus. Horstundrenate, der reaktionsschwache, saß währenddessen wie angegossen da, schaute ein wenig verdutzt und puhlte – wahrscheinlich aus Verlegenheit – weiter mit der Feile den Dreck unter den Nägeln hervor. Ich nehme an, daß genau das – seine ins Auge stechende Unschuld – der Grund war, warum ihn niemand angriff. Erst als sämtliche Leute in der Kneipe auf den Beinen waren, stand auch er langsam und umständlich auf, um die Kneipe zu verlassen.
Fikret war inzwischen ohne lang nachzudenken um die Ecke verschwunden und rannte einem schmerzerfüllten Schnaufen nach, das aus einem Hauseingang in der Nähe herüberdrang. Tatsächlich waren dort direkt neben der Klingelanlage eines ranzigen Altbaus die Leute versammelt, nach denen er gesucht hatte: der Bräutigam, vier seiner bestgebauten Freunde und ein blutüberströmter Slobo, der immer wieder unter den Schlägen der fünf ihn umringenden Männer zusammenzuckte.
Nun weiß man ja, daß der Orientale (so wie der Afrikaner den Rhythmus im Blut hat) stets ein Messer bei sich trägt (das Wetter, die Gene...), aber ausgerechnet Fikret hatte natürlich keins und mußte sich deshalb wie ein Selbstmörder mit bloßen Händen auf die fünf Schläger stürzen. Gerade als er dabei war, eine dieser Massenschlägereien loszutreten, bei der die Masse einen einzelnen nach Strich und Faden vermöbelt, kam Horstundrenate angeeiert. Das Hemd schlabbrig aus der Hose hängend, die Schuhe nicht richtig zugebunden und mit einem Blick, der in seiner Aufgewecktheit an einen blinden Maulwurf erinnerte. Man konnte denken, daß er nur deswegen aus dem «Güzel Deniz» hierhergekommen war, weil ihn jemand herüber geschickt hatte oder weil ihm auf dem Heimweg plötzlich eingefallen war, daß er den anderen seine sauberen Fingernägel zeigen könnte. Auf jeden Fall kam er gerade an, als Fikret eins auf die Nase bekam und wie ein Schwein aus der Nase zu bluten begann, und weil Horstundrenate den Abiturkurden und Slobo echt gut leiden kann, begab er sich ebenfalls ins Handgemenge, zerrte erst ein wenig an den anderen rum und zog dann ohne langes Fackeln sein Messer. Es war eins dieser «Schmetterlings-ich-zeig-dir-was-ein-wirklich-cooler-Typ-ist»-Teile, die kaum klakken, wenn man sie aufmacht, und ohne groß Aufsehen zu erregen, stach Horstundrenate damit viermal zu. Der Bräutigam sowie der fetteste seiner Kollegen sackten in sich zusammen, die anderen zwei bekamen von Fikret eine aufs Maul und der fünfte war damit beschäftigt, seine umfallende Freunde aufzufangen. Horstundrenate hatte damit eine fulminante Wendung der Ereignisse eingeleitet.
Fikret kapierte erst mal gar nicht, was passiert war, schließlich hatte er ziemlich zugequollene Augen, und außerdem mußte er sich darauf konzentrieren, Slobo, der sich schlaff den Bauch hielt, von der Wand wegzuziehen. Als die beiden zu registrieren begannen, daß der Bräutigam und einer seiner Freunde Messerstiche abbekommen hatten, waren schon die Zivilbullen da. Die Revier-Tranis hatten die ganze Zeit die Kneipe beobachtet und deshalb war ihnen völlig entgangen, daß die wichtigen Leute dort schon vor 10 Minuten rausgegangen waren, um draußen abzurechnen. Erst als der Bräutigam nach dem Messerstich aufschrie, begriffen sie, was los war, und kamen angerannt.
Die Aldijacken-Beamten hatten natürlich erst mal nichts besseres zu tun, als die Verletzten nach Waffen abzutasten und ihre Papiere zu kontrollieren, und so wurden alle, auch Slobo und Fikret, vorübergehend festgenommen. Bis dahin alles normal.
Der einzige, der sich seelenruhig verpißte, und zwar ziemlich sicher nicht aus Gelassenheit, sondern weil er zu blöde gewesen war zu begreifen, daß diese angeranzten Fuzzis Bullen sein sollten, war natürlich Horstundrenate. Unbeholfen hatte er das Messer weg gesteckt und war losgegangen, um Wasser und einen Lappen für Slobo zu holen, und als er zurückkam, war schon alles von den Bullen abgeriegelt. Horstundrenate sah deshalb zu, daß er Land gewann.
Aber das war noch nicht alles, der eigentliche Höhepunkt kam erst noch: Weder die Lans aus dem «Güzel Deniz» noch die Freunde des Bräutigams hatten nämlich geschnallt, wer zugestochen hatte. Die Typen in der Kneipe glaubten, der Nagelfeilennachwuchsbasketballer sei nach Hause gegangen und der Bräutigam und seine Kumpels waren viel zu sehr mit der Schlägerei beschäftigt gewesen, um zu blicken, wer auf sie eingestochen hatte. Auf diese Weise machte das Gerücht die Runde, Fikret, der Terrorkurde, habe einen Kosovo-Kumpel (um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, wurde der slowenische Anteil der Familie einfach verschwiegen) allein gegen fünf Leute rausgekämpft. Und wenn ich sage: «das Gerücht machte die Runde», dann meine ich das auch so, es flog förmlich. Innerhalb von fünf Stunden wußte es ganz Iserlohn. Die Typen erzählten es sich im Imbiß, beim Teetrinken in den Dernekler, vor der Camii, in der deutschen Schweinesülzmetzgerei oder bei Aldi, und jeder variierte die Story nach Belieben: für die Deutschen war die ganze Sache klar – anatolische Blutrache, die Türken hielten es für eine PKK-Aktion, die Jugos sagten: «nichts als Notwehr», die Kurden zollten dem Beweis ritterlicher Freundschaft ihren Respekt und für Fikret schließlich war es nichts als eine echte Katastrophe.
Er wurde auf die Wache verfrachtet und sah sich schon die nächsten Monate in Untersuchungshaft, als die Bullerei ihn gegen Abend rausließ. Der Bräutigam und seine Freunde hatten die Aussage verweigert: «Das machen wir unter uns klar, da haben die Deutschen nichts mit zu tun.»
So kamen Slobo und Fikret frei und begannen Horstundrenate zu suchen. Sie mußten ziemlich lang rumlaufen, der Gelbkopf hatte sich in der Wohnung eines Freundes verschanzt: die Türen mit Schränken verstellt, die Vorhänge zugezogen und den Briefkasten mit Werbesendungen vollgestopft: «Bin bis nächstes Jahr verreist.» Aber Fikret, der Abiturkurde, durchblickte den Trick natürlich sofort und so hingen sie dann um drei Uhr nachts zusammen in dieser verdunkelten Wohnung rum und machten sich gegenseitig mit original orientalischen Blutracheanekdoten nervös, bei denen ganze Familien mit Handgranaten ausgelöscht und dann mit dem Kebapmesser geschnetzelt worden waren. Die drei hatten zwar keine Ahnung von so was, aber man kennt solche Geschichten ja aus Funk&Fernsehen.
Nach 24 durchwachten Stunden verließen sie schließlich im Kofferraum eines Audis und mit den Nerven völlig am Ende die Stadt, um vor den Bullen und den sie jagenden türkischen Clans unterzutauchen. Sie versteckten sich bei Verwandten in Frankfurt, Hanau, Augsburg, Hannover, Kassel, Bamberg, Konstanz, Schifferstadt und schließlich sogar im österreichischen Graz und gaben ungefähr 1876 DM für Ferngespräche aus, denn Fikret und Slobo setzten alles daran, sich beim Bräutigam (respektive seiner Familie) zu entschuldigen und die Sache in irgendeiner Weise zu bereinigen. Aber es war wie verhext: Der Bräutigam und sein Vater waren weder im Krankenhaus noch am Arbeitsplatz zu erreichen, entweder war der Hörer gleich ganz neben die Gabel gelegt worden oder es hieß einfach nur: «die sind heute nicht da». Die drei wurden also immer nervöser, aber dann bekam Fikret durch einen Zufall doch noch raus, was inzwischen Stand der Dinge war: In Iserlohn sprach niemand von Horstundrenate; Fikret hingegen galt als der große Stecher, der zwölf Alewitenschränke ganz allein angegriffen hatte, und wenn sich der Bräutigam immer verleugnen ließ, dann lag das nur daran, daß er einen Höllenschiß vor Fikret hatte. Was ihn und seine Kumpels betraf, hatten sie tatsächlich die Aussagen bei den Bullen verweigert, aber dafür hatten ein paar Lans aus der Kneipe, die die ganze Sache gar nicht richtig mitverfolgt hatten, alles mögliche über den blutrünstigen Messerstecher von Iserlohn-Vorstadt ausgepackt (natürlich über Fikret und nicht über XXXXL-Basketball-Vorstadt-DennisRodman-Hanspeter).
Eine ziemlich absurde Situation also. Slobo jammerte über die verlorene Ceyhan, Fikret mußte mit seinem ungewohnten Image klarkommen, und Horstundrenate machte sich Vorwürfe wegen den Messerstichen. Die Situation schien unlösbar, und nach drei Wochen war Horstundrenate so fertig, daß er sich stellen wollte, um seinen Kumpel Fikret zu entlasten (was eine blöde Idee war, es hätte ihm sowieso niemand geglaubt), aber inzwischen hatte Fikrets Cousin die Namen von den Leuten rausbekommen, die bei den Bullen Aussagen gemacht hatten. Fikret war zwar (wie schon gesagt) kein Kaufhallenlan, aber bei dieser Sache hatte er die einmalige Gelegenheit, als coolster Vorstadtkanacke der ganzen Region in die Annalen einzugehen, und deswegen kam ihm diese total blödsinnige Idee, die der ganzen Angelegenheit die Krone aufsetzte.
Mitten in einer heißen Julinacht kam er mit einem geliehenen Schlitten nach Iserlohn zurück, fuhr in der Siedlung vor und klingelte im piekfeinen Anzug die Typen aus dem Schlaf, die gegen ihn ausgesagt hatten. Obwohl in den Fluren der blöden Mietshäuser nur schwächliche Neonlampen flimmerten, hatte er seine Sonnenbrille aufgesetzt, eines dieser DonJohnson-Modelle, die nach Miami-Cop aussehen, und Fikret bekam es hin, nirgends mehr als einen einzigen Satz zu sagen: «Du weißt, du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du ziehst die Aussage zurück oder du weißt, was passieren kann...» (Husten, Grippe, ein verstauchter Fuß?)
Die Leute dachten an 12 niedergestochene Schränke (und eben nicht an Erkältung...) und glaubten Fikret, der von Schmetterlingsmessern nicht die geringste Ahnung hatte. Alle kauften dem verdammten Bastard die Story ab, zogen ihre Aussagen zurück und entschuldigten sich bei Fikrets Familie und Slobo. Von der neuen Entwicklung noch eingeschüchterter als bisher ging endlich auch der Bräutigam wieder ans Telefon. Es täte ihm leid, was geschehen sei, sagte er zu Slobo, er trage selbst schuld an den Verletzungen und betrachte die Angelegenheit als erledigt, wenn die anderen dem zustimmen würden. Die beiden – eigentlich so was wie DudarfstAusländer (halbe Werte!) – waren auf einmal echte Ghettokönige, solche von der Sorte, denen man sofort den Durchgang freimacht, wenn sie in einer Kneipe an einem vorbeiwollen und die von allen gegrüßt werden. Eine Woche später kehrten die drei glorreich nach Iserlohn zurück und liefen wieder ganz relaxed durch die Siedlung.
So hatte alles wieder seine Ordnung: Die Bullen waren maßlos entnervt, weil auf einmal die ganze schöne Anklage gegen diesen «PKK-Terroristen mit Verbindungen zur Albanier-Mafia» (der Vater aus Skopje, das kennt man ja) zusammengebrochen war, die Eltern von Slobo und dem Bräutigam bekundeten sich gegenseitig ihre Hochachtung und tranken einen Versöhnungs-Cay, im «Güzel Deniz» redeten die Lans voller Bewunderung von dieser vorbildlichen Männerfreundschaft, und sogar die alternativ angehauchten Sozialarbeiter begannen auf Fikret aufmerksam zu werden («man müßte mit dem mal über andere Konfliktlösungsstrategien reden»). In ganz Iserlohn-Vorstadt war der Frieden zurückgekehrt.
Die einzige, die bei der Geschichte definitiv die Arschkarte zog, war natürlich Ceyhan, die während Slobos Flucht das Haus kaum verlassen hatte, weil ihre Eltern befürchteten, sie könnte mit ihrem Liebhaber abhauen. Um den Trottel von Bräutigam kam sie auch nach der Rückkehr der drei nicht mehr herum. Es wurde eine ziemlich durchschnittliche Hochzeit, bei der sie aussah, als ob man ihr Zahnstocher in die Wangeninnenseiten gesteckt hätte, aber das haben die meisten Ehen so an sich.
Deswegen war sie auch die einzige weit und breit, die eine einigermaßen realistische Einschätzung hatte: «Harte Typen? Bullshit, Weicheier mit mehr Glück als Verstand.» Abiturtypen eben.