Bewegungsgeschichte ist cool. Sie gibt Einblick in vergangene Debatten, dokumentiert so gut wie möglich Dinge, die schon mal gesagt wurden, und ist Gradmesser dafür, wie viel Bewegung denn in der Bewegung ist. Das wird auch deutlich an aktuellen Debatten rund um Klasse und Klassismus, die für Aktivist*innen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse weder neu noch ein theoretisches Konstrukt ist, sondern Lebenswelt und aktivistischer Bezugspunkt. 

Eine «neue Klassendiskussion»?

Wenn es um Klasse geht, scheint es gerade ein Aufleben, eine «neue Klassendiskussion», zu geben. Dabei wird denen, die die Effekte von Klassenverhältnissen in ihren Leben mit Klassismus benennen, oft vorgeworfen, sie würden reine Identitätspolitik betreiben, der eigentliche Klassenkampf würde dabei aus dem Blick geraten und die lohnabhängige Klasse würde durch solche Sichtbarkeitsbemühungen gespalten. 

Dieser vermeintliche Gegensatz, den Nancy Fraser als eine Debatte um Umverteilung und Anerkennung beschreibt, wird in den aktuellen Diskussionen immer wieder leidenschaftlich und mit viel Energieaufwand künstlich forciert, statt nach Solidarisierungsmomenten und -möglichkeiten zu suchen. 

Die Frustration über den Unwillen, als diejenigen gehört zu werden, die abseits von akademischem Sprachduktus Ausschluss- und Unterdrückungserfahrungen benennen, lässt sich nicht nur in neueren Publikationen wie Solidarisch gegen KlassismusKlassenfahrt oder Mit geballter Faust in der Tasche nachlesen. Wobei Letzteres ein gutes Beispiel dafür ist, wie langsam Perspektiven von Aktivist*innen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse in die hiesigen Debatten einsickern und wie beharrlich diese Perspektiven wiederholt werden müssen: Schon 2008 erschien das Buch in Schweden und war in einer Teilübersetzung seit 2009 und als dreiteiliger Radiobeitrag zum Sendeschwerpunkt Arbeit, Klasse, Kampf seit 2012 hörbar.

Wer tiefer in die Bewegungsgeschichte eintaucht, wird schnell auf Publikationen aus den 1980er Jahren stoßen, die vornehmlich von Arbeiter*innentöchtern an Hochschulen verfasst wurden. Hannelore Bublitz veröffentlichte Ich gehörte irgendwie so nirgends hin. Arbeitertöchter an der Hochschule und Gabriele Theling Vielleicht wäre ich als Verkäuferin glücklicher geworden: Arbeitertöchter & Hochschule – um nur zwei zu nennen. In beiden werden Entfremdungsbewegungen von Herkunftkontexten, Befremdungserfahrungen in akademischen Kontexten, aber auch Wut über Verhältnisse formuliert und nicht zuletzt immer wieder gefordert, für sich selbst sprechen zu wollen, statt als zu beforschende Objekte oder Projektionsfläche instrumentalisiert zu werden. 

«Dieser vermeintliche Gegensatz, den Nancy Fraser als eine Debatte um Umverteilung und Anerkennung beschreibt, wird in den aktuellen Diskussionen immer wieder leidenschaftlich und mit viel Energieaufwand künstlich forciert, statt nach Solidarisierungsmomenten und -möglichkeiten zu suchen.»

Die Prololesben, eine Selbstbezeichnung von Aktivist*innen in der autonomen Linken, meldeten sich in etwa zeitgleich zu Wort und organisierten sich in verschiedenen Gruppen. Sie bezeichneten die Gruppe der akademisierten und klassenprivilegierten Aktivist*innen als «die Bürgerlichen» und beschrieben den vorherrschenden Habitus; Sprache, Auftreten, Humor, Kleidung – und nicht zuletzt Geld und die damit verbundene Lebenseinstellung. 

Letzteres ist ein Punkt, der auch in englischsprachigen Publikationen der Furies, einem lesbisch-feministischen Kollektiv, das Anfang der 1970er Jahre aktiv war, immer wieder stark gemacht wird: die Ermöglichungsspielräume, die Genoss*innen mit Zugriff auf materielle Ressourcen hatten, zum Beispiel billige Urlaube in den Ferienhäusern ihrer Eltern, Autos und andere teure Geschenke, Erbschaften und Sparkonten, auf die Verwandte einzahlen.

Das Benennen dieser Unterschiede zieht sich durch fast alle Publikationen von Aktivist*innen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse des letzten halben Jahrhunderts, vornehmlich von feministischen Aktivist*innen. Die Kritikpunkte wurden aber nicht als ernst zu nehmende Impulse aufgegriffen, sondern blieben meist kurze Interventionsmomente, die nur so lange dauerten, wie die Aktivist*innen sich den Aktivismus leisten konnten.

Was hier aufgezeigt werden soll, ist, dass die aktuellen Interventionen für die einen vielleicht neu sind – für die anderen ist es ein Aufzeigen der eigenen Lebensrealitäten. Fredric Carlsson-Andersson und Attila Piskin beschreiben in Mit geballter Faust in der Tasche ihre Verwunderung über die Debatte einer «neuen Arbeiter*innenliteratur»: «Die Arbeiter*innenklasse ist zurück! So, als wäre sie verschwunden, nur weil ein paar Fabriken geschlossen wurden. Wir, die Autor*innen dieses Buches, müssen nur Zuhause anrufen, um mit Putzfrauen, Metzgern, Kindermädchen, Rezeptionisten, Briefträgerinnen, Lastwagenfahrern und Krankenpflegerinnen zu sprechen.»

Umkämpfte Sichtbarkeit

Wie eingangs schon beschrieben, wird Theoretiker*innen, die Ungleichheit im Zugriff auf die zur Verfügung gestellten monetären und nicht-monetären Ressourcen im Kapitalismus und die daraus resultierenden Gräben zwischen von Lohn- und Transferleistungen abhängigen Gruppen beschreiben, oft eine «Spaltung» der Arbeiter*innenklasse vorgeworfen. Das ist insofern absurd, dass die Spaltungen bereits existieren. Sie werden von Aktivist*innen immer wieder deutlich beschrieben. Wer bestreiten will, dass es im Kapitalismus lohnarbeitende Personengruppen gibt, die vom kapitalistischen System mehr profitieren als andere, und dass es armutsbetroffene Personengruppen gibt, die in diesem System verlieren, trägt aktiv dazu bei, dass die beschriebenen Interventionen ungehört verpuffen und Solidarisierungsmomente verunmöglicht werden.

Die Frage, warum die Wortmeldungen und Einsprüche von Aktivist*innen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse über kurze Sichtbarkeitsmomente hinaus keine deutlichere Repräsentation und Verstetigung in politischen Debatten gefunden haben, kann nur mit Mutmaßungen beantwortet werden. Eine davon ist, dass eine überwiegende Anzahl der genannten Aktivist*innen sich (queer-)feministischen Bewegungen zurechnete und diese somit nicht nur gegen Klassen-, sondern auch patriarchale Verhältnisse anschrieben. Vielleicht hatten die Genoss*innen auch die Nase voll von den Hauptwiderspruchsdebatten der Genossen(!). Es bleibt zunächst eine Leerstelle in der Bewegungsgeschichte, die gern gefüllt werden darf.

Auffällig ist aber, dass erst mit Didier Eribons Rückkehr nach Reims, also dem Bericht eines Arbeitersohns, eine öffentliche Aufmerksamkeit hergestellt wurde, die nicht cis-männliche Autor*innen in dieser Dimension bis zu diesem Zeitpunkt nicht erfahren durften. Auffällig ist auch, dass Publikationen, die Klischees über Arbeiter*innen und Armutsbetroffene bestätigen und einen voyeuristischen Blick bedienen, mehr Absatz finden, als solche, die ein differenziertes Bild zeichnen und sich gegen die Verhältnisse richten. Hier soll es nicht um eine Publikationsanalyse gehen, sondern um die Verdeutlichung einer doppelten Abwertung, einer klassistischen und sexistischen. «Das Private ist politisch», einer der wohl bis heute bekanntesten feministischen Slogans, wurde von Aktivist*innen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse von patriarchaler Gewalt konsequent auf kapitalistische Gewalt und andere Unterdrückungsverhältnisse übertragen. Mit einem letzten Schwenk in die Veröffentlichungsgeschichte seien hier Scheidelinien – Über Sexismus, Rassismus und Klassismus (1988) von Anja Meulenbelt und Entfernte Verbindungen: Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung (1993) von Ika Hügel-Marschall genannt.

«Die Kritikpunkte wurden aber nicht als ernst zu nehmende Impulse aufgegriffen, sondern blieben meist kurze Interventions¬momente, die nur so lange dauerten, wie die Akti-vist*innen sich den Aktivismus leisten konnten.»

Zwischen Solidarisierungsversuchen, Nabelschau und Karrierepunkten

Es gibt bewegungsgeschichtlich immer wieder Solidarisierungsmomente und Versuche, die «Scheidelinien» und «entfernten Verbindungen» zu überbrücken bzw. Kämpfe unterschiedlicher Gruppen miteinander zu verbinden. So eröffneten die Prololesben ein Umverteilungskonto, um finanzielle Notlagen auszugleichen, es gab und gibt kleinere Interventionsexperimente wie Finanzkoops und Kollektivbetriebe, die aber – wie Friederike Habermann es treffend formuliert – als «Halbinseln gegen den Strom» im kapitalistischen System zu sehen sind und selten eine verlässliche, gesamtgesellschaftliche Alternative bieten.

Größere Bündnisbemühungen, wie die Mayday Paraden, die mit dem Anspruch angetreten waren, auch Aktivist*innen anzusprechen, «die mit den üblichen kulturellen Codes und Ausdrucksformen linksradikaler Demos nicht viel anfangen können» (wie die IL-Vorläufergruppe Für eine linke Strömung 2010 schrieb), mussten sich eingestehen, dass es «nicht gelungen ist, neben den ausdrücklich ‹politischen› Gruppen aus der Berliner Linken auch dauerhaft Menschen zu integrieren, die ihre alltäglichen sozialen Kämpfe fernab der linken Szene der Hauptstadt ausfechten.» 

Dass zwischen den Menschen aus der radikalen Linken und den Menschen, die «alltägliche soziale Kämpfe ausfechten» hier ein sprachlicher Unterschied gemacht wird, als wäre es nicht denkbar, dass «diese» Menschen Teil der radikalen Linken sein könnten, ist Teil eines größeren Problems, das die Entnennung von Selbstorganisationen und das Unsichtbarmachen von kämpfenden Genoss*innen, wie den eingangs genannten, fortsetzt. Anne Seeck, die seit Jahren in Erwerbsloseninitiativen aktiv ist, ergänzt die selbstkritische – aber auch selbstzentrierte – Analyse von FelS um einen wichtigen Punkt: Dass die Aktivist*innen aus der Armutsklasse «mehr oder weniger subtil aus Gesprächsrunden und von Vorbereitungstreffen ausgeschlossen» wurden, da sie sich dem links-akademischen Habitus und den geltenden Codes nicht anpassen (wollten!). 

Seeck zeigt zudem auf, dass viele der akademischen Aktivist*innen die Bündnisarbeit nutzen konnten, um in den entstehenden oder vorhandenen NGOs mit «politischem Engagement den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen», während diese Karriereoption «den meisten Erwerbslosenaktivist*innen verwehrt» blieb. Diese akademische Kommodifizierung von Community-Konzepten, bei der einzelne «linke Akademiker*innen [...] als Expert*innen auf[treten] und [...] sich als Person in Artikeln, Büchern, Veranstaltungen und sozialen Medien» präsentieren und damit zu «Promis» werden, ist nicht unbedingt ein Neben-, sondern ein geplanter Effekt.

Stephen Valocchi analysiert die unterschiedlichen Motivationen von Aktivist*innen basierend auf der Klassenposition als «Activism as a Career, Calling, and Way of Life». Während klassenprivilegierte Aktivist*innen ihren Aktivismus auf eine mehr oder weniger geradlinige Karriere ausrichten, also Lebenslaufpunkte sammeln, trennen Aktivist*innen aus der Armutsklasse ihr aktivistisches Leben wenig von dem nicht-aktivistischen. Weil die Verhältnisse, gegen die sie aktiv werden, sie in ihren Leben auch direkt betreffen. 

«Während klassenprivilegierte Aktivist-*innen ihren Aktivismus auf eine mehr oder weniger geradlinige Karriere ausrichten, also Lebenslaufpunkte sammeln, trennen Aktivist*innen aus der Armutsklasse ihr aktivistisches Leben wenig von dem nicht-aktivistischen.»

Die moralisch aufgeladene Suche nach den «Schuldigen»

Zu der oben beschriebenen Unsichtbarmachung von Aktivist*innen aus der Armutsklasse kommen gesellschaftliche Vorurteile, die auch in linken Kontexten als gegeben gelten. Das Bild des konsumierenden, unkritischen, unpolitischen Pöbels wird immer wieder unhinterfragt auf Menschen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse projiziert. Dabei werden Alltagshandlungen und Gewohnheiten moralisch seziert und beobachtet. Wer kauft was wo und wie viel ein? Wer scheint auf Nachhaltigkeit zu achten? Und wer verpestet die Umwelt noch mehr mit individuellen Gewohnheiten?

Das Beobachten, Verurteilen, Dokumentieren, Veröffentlichen und Eindringen in die privaten Gewohnheiten von materiell armen Menschen hat lange Tradition; vor allem im Transferleistungsbereich werden die zur Verfügung gestellten Ressourcen akribisch und weit unter dem Existenzminimum durchgerechnet. Diese öffentlichen Verhandlungen werden oft mit einem moralischen Imperativ geführt, der eigene Ressourcen – materiell, aber auch Zeit, Raum und Mobilität – zum Maßstab für alle macht. Als Beispiel sei hier ein Fernsehexperiment genannt, bei dem Tim Mälzer mit einer gut situierten Hamburger Familie eine Woche «Hartz-IV-Budget» spielte. Mit viel Zeit wurden auf unterschiedlichen Märkten nachhaltige Produkte aus dem Angebot gekauft. ‹Kann doch jede*r, wenn wir das können›, war das Fazit. 

Solche Experimente begeistern. Können, wenn man nur will. Neoliberal und moralisch. Nicht verwunderlich also, dass als erstes auf materiell arme Menschen geschaut wird, wenn es darum geht, einfache Schuldige für die Misere zu finden.

Dabei ist schon lange bekannt, dass die meisten Ressourcen von denen verbraucht werden, die mehr Geld haben – und von denen, die die Produktionsmittel in der Hand haben. Maria Krautzberger, Präsidentin des Umweltbundsamtes, merkt hierzu an: «Mehr Einkommen fließt allzu oft in schwerere Autos, größere Wohnungen und häufigere Flugreisen – auch wenn die Menschen sich ansonsten im Alltag umweltbewusst verhalten. Aber gerade diese ‹Big Points› beeinflussen die Ökobilanz des Menschen am stärksten. Der Kauf von Bio-Lebensmitteln oder eine gute Mülltrennung wiegen das nicht auf.» Dazu kommt, dass zehn Prozent der Menschheit für rund 47 Prozent aller Kohlenstoffdioxid-Emissionen verantwortlich sind.

Der moralische Impetus, mit dem Nachhaltigkeitsdebatten in Richtung individueller Kauf- und Lifestyle-Entscheidungen geführt werden, scheint angesichts dieser Zahlen nicht nur unangemessen, sondern trägt eine Krise auf dem Rücken derer aus, die am Ende auch am meisten davon betroffen sein werden – wie schon jetzt von steigenden Energie- und Lebensm ittelkosten. Um nicht falsch verstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer dafür, schon vorhandene Awarenessprozesse und Praxen zu kippen, sondern dafür, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die für den Großteil der Misere verantwortlich sind: Superreiche und Konzerne.

Der Klimawandel und die Umweltzerstörung betreffen insbesondere diejenigen, die am wenigsten Zugang zu Ressourcen und Möglichkeiten haben, um sich zu schützen oder sich anzupassen. Um Bündnisse für eine Verbindung von ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit zu schaffen, muss die strukturelle Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft berücksichtigt werden und dafür gesorgt werden, dass alle Menschen Zugang zu Ressourcen und Möglichkeiten haben, die es ihnen ermöglichen, ihr volles Potenzial zu entfalten. 

Eine ernst zu nehmende Linke sollte aus der Geschichte lernen und sich die Mühe machen, die Stimmen von Genoss*innen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse zu hören und sie zu verstärken, statt sie zu verdrängen und unsichtbar zu machen.