Dass Menschen, deren soziale Netze auf der Flucht vor Hitze, Dürren und Überschwemmungen zerrissen werden, die unter Hunger und Krankheit leiden und die von den benötigten Ressourcen ausgeschlossen werden, die Sorge füreinander massiv erschwert wird, ist offenkundig. Doch auch darüber hinaus sind Sorge und gesellschaftliche Naturverhältnisse in zweifacher Hinsicht verknüpft.
Die Qualität von Beziehungen ins Zentrum stellen
Dabei geht es zunächst um einen von Beziehungen angeleiteten Blick auf die Welt. Dass menschliche Beziehungen von zentraler Bedeutung sind, sagt noch nicht viel aus. Denn dies gilt selbst für den homo oeconomicus. Die Beziehungen dieses Wesens, einer Kunstfigur der Wirtschaftswissenschaft, sind jedoch eigener Art: Es entscheidet als isoliertes Individuum, ob und welche Beziehungen es zu anderen Menschen eingeht. Zudem trifft es diese Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt der Maximierung seines individuellen Nutzens und ist auf Sorgebeziehungen nicht existenziell und permanent angewiesen. Schon dieses Bild – von Männern mit Männern vor Augen gemalt – ist eine Fiktion, aber darüber hinaus ist es auch eine schreckliche Vorstellung, so zu leben.
«Die Vorstellung, dass persönliche Beziehungen und Ökonomie getrennten Sphären angehören, ist so absurd, wie sie wirkmächtig ist.»
Das Schreckliche macht die Qualität der Beziehungen aus, die dieser homo oeconomicus herstellt: Sie blenden die eigene Verwundbarkeit aus. Das Subjekt wird als gegeben gesetzt, statt anzuerkennen, dass Menschen in Beziehungen sich selbst und auch die Beziehungen verändern. Sicherheit soll aus der Verfügung über Eigentum, das getauscht werden kann, und nicht aus einem Netz von Kooperationen entstehen. Es wird die Fiktion rein rationaler Tauschbeziehungen in der Ökonomie postuliert, ohne dass sich dort Menschen als Menschen begegnen. Die Vorstellung, dass persönliche Beziehungen und Ökonomie getrennten Sphären angehören, ist so absurd, wie sie wirkmächtig ist. So hat sie zur Folge, dass die unentlohnte Arbeit, die vor allem in der unmittelbaren Sorge für sich und andere anfällt, und mit ihr der Bezug aufeinander als Privatsache und damit als nachrangig eingestuft wird.
Wenn wir demgegenüber im Netzwerk Care Revolution Sorgearbeit und Sorgebeziehungen ins Zentrum unseres Aktivismus stellen, tun wir dies aus einer Position heraus, die der Verwiesenheit von Menschen aufeinander und den Beziehungen, die sie von dort aus eingehen, zentrale Bedeutung gibt. Im Mittelpunkt steht die Feststellung, dass Menschen in jeder Phase ihres Lebens auf die Kooperation mit anderen, den Austausch mit anderen, die Empathie anderer angewiesen sind. Das ist bei der Geburt, bei schwerer Krankheit oder vor dem Tod offensichtlich. Aber auch an allen Tagen zwischen Geburt und Tod können Menschen ihr Leben nur in alltäglichen, allgegenwärtigen Beziehungen zu anderen bewältigen, ob es nun um Trost und Nähe, um Versorgung oder auch, jenseits der Sorgearbeit, allgemeiner um kooperative Arbeitsteilung geht.
Die Anerkennung der Tatsache, dass wir auf Empathie, Kommunikation und Kooperation in sozialen Beziehungen angewiesen sind, und die Sicht auf uns als biologische Lebewesen legen den Gedanken nahe, dass wir uns als Menschen in einer ähnlichen Verwobenheit mit den ökologischen Kreisläufen auf der Erde befinden, auf die wir angewiesen sind. Die Perspektive, unser Leben in diesen Netzen als eine Interaktion mit Lebewesen zu begreifen, die uns nicht als Objekte gegenüberstehen, wäre sicherlich eine große Hilfe beim Schritt, Verbindungen zwischen Care- und ökologischen Bewegungen herzustellen. Im Netzwerk Care Revolution betonen wir, wie wenig hilfreich es ist, von Care-Geber*innen und Care-Nehmer*innen zu sprechen. Stattdessen stellen wir in den Mittelpunkt, dass beide Seiten gemeinsam eine Care-Beziehung konstituieren. Es kommt aus meiner Sicht darauf an, auch die Beziehungen in ökologischen Netzen als artübergreifend konstituiert zu denken, ohne dass die besondere menschliche Handlungsreichweite, die Verantwortung begründet, verschwiegen wird und ohne dass hinter «dem Menschen» der Klassencharakter dieser Gesellschaft verschwindet.
Zerstörerische Logik des Kapitalismus
Zudem stellt die kapitalistische Produktionsweise selbst den Zusammenhang zwischen Care und Ökologie her. Denn sowohl die unentlohnte familiäre und ehrenamtliche Sorgearbeit sowie ökologische Kreisläufe gelten ihr als unentgeltliche und ohne Zutun vorhandene Ressourcen, die unabhängig vom Maß ihrer Nutzung immer verfügbar scheinen. Beide Prozesse sind Voraussetzung der Verwertung von Kapital, aber sie finden nicht als Warenproduktion statt. Das Kapital eignet sich also die Ergebnisse dieser Prozesse an, ohne für die Bedingungen ihres Gelingens Sorge tragen zu müssen.
Dem entspricht, dass ökologische Prozesse und unentlohnte Arbeit aus der Ökonomie herausdefiniert werden und so unentlohnte Sorgearbeit als Arbeit weitgehend unsichtbar wird. Denn Sorgearbeit wird in Familien, in sozialen Netzen und im Ehrenamt noch unter den schlechtesten Bedingungen erledigt, aufgrund der Verantwortung, die diese Arbeit beinhaltet. Dies ermöglicht es, die unentlohnte Arbeit als ein unerschöpfliches Reservoir anzusehen, für dessen Reproduktion scheinbar nichts geleistet werden muss – bis zu dem Punkt, an dem die erschöpften Sorgearbeitenden aufbegehren oder die Reproduktion der Arbeitskraft gefährdet ist.
Dabei kommt die Überlastung offensichtlich aus der Kombination von Lohnarbeit und unentlohnter Sorgearbeit. Die Überbeanspruchung innerhalb der Lohnarbeit hat dabei ihren eigenen, banalen Grund: Unternehmen aufen Nutzungsrechte am Arbeitsvermögen von Menschen und beanspruchen dafür den maximalen Gegenwert.
«In einer Ökonomie, deren Zweck die Kapitalverwertung ist, besteht gegenüber ökologischen Systemen und menschlicher Arbeitskraft also eine systemnotwendige Ignoranz und Rücksichtslosigkeit, die zu deren Überlastung und Zerstörung führt.»
Unter diesen Bedingungen die Reproduktion der Arbeitskraft – Gesundheit und Erholung der arbeitenden Menschen – zu sichern, gilt dann als Aufgabe der Beschäftigten.
Die Parallele zum Umgang mit Naturprozessen ist offensichtlich: Die Funktionsbedingungen von Stoffkreisläufen und ökologischen Netzen werden ebenso ignoriert, solange diese kostenlos nutzbar sind und die Kapitalverwertung nicht beeinträchtigt ist. Auch dort, wo Boden und Ressourcen zum Eigentum werden und die Natur in Wert gesetzt wird, wie in der industrialisierten Landwirtschaft, werden Ökosysteme massiv geschädigt. Verwertung, sowohl der Natur als auch des menschlichen Arbeitsvermögens, bedeutet eben: Ökologische Systeme werden auf ihre Funktion als Nutzfläche oder eine Ressource reduziert, menschliches Leben auf Arbeitskraft. Damit wird die komplexe, eigenlogische – und auf Menschen bezogen: eigenwillige – Logik der Reproduktion des Lebens der ihr äußerlichen, zerstörerischen Logik der Kapitalverwertung unterworfen.
In einer Ökonomie, deren Zweck die Kapitalverwertung ist, besteht gegenüber ökologischen Systemen und menschlicher Arbeitskraft also eine systemnotwendige Ignoranz und Rücksichtslosigkeit, die zu deren Überlastung und Zerstörung führt. Dies gilt, weil Ökonomie im Kapitalismus zwangsläufig mit Wachstum sowie mit Konkurrenz verkoppelt ist: Kapitalverwertung setzt die Erzeugung eines Mehrprodukts voraus, das als Mehrwert vom Kapitalist*innen angeeignet werden kann. Das bedeutet, dass immer mehr Stoffe, immer mehr Lebenszeit und Lebensäußerungen in den Kapitalverwertungsprozess eingesaugt werden. Weil dieser Prozess nicht die Herstellung nützlicher Dinge, sondern allein die Aneignung von mehr Geld zum Zweck hat, ist er grundsätzlich maßlos. Ein ‹Genug› gibt es nicht. Zudem drohen effizientere Konkurrent*innen jederzeit, andere vom Markt zu verdrängen. So begründet die kapitalistische Konkurrenz einen beständigen Zwang, Produktionsprozesse zu modernisieren und die Produktion zu erweitern. Konkurrenz bedeutet aber nicht nur Wachstum, sondern auch Kostendruck: Die Elemente des Produktionsprozesses werden verbilligt, wo immer es geht. Es rechnet sich nicht, Emissionen zu vermeiden, und es rechnet sich nicht, Lohnabhängigen durch Arbeitszeitverkürzung bei Lohnausgleich mehr Zeit für die Reproduktionsarbeit zu geben oder sie durch eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur zu unterstützen. In einer Gesellschaft, in der Kapitalverwertung der zentrale Taktgeber ist, werden daher für die Reproduktion des menschlichen und nicht menschlichen Lebens immer zu wenige Mittel aufgewandt.
Schritte in eine solidarische Gesellschaft
Wenn aber das Problem im Kapitalismus selbst begründet ist, lässt sich eine Lösung nur jenseits dieser Produktionsweise finden. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaftsform, die eine direkte Orientierung an menschlichen Bedürfnissen und den Belastungsgrenzen ökologischer Kreisläufe unterstützt. Diese scheint unendlich weit entfernt, doch ein wenig Anlass zur Hoffnung gibt, dass sowohl hinsichtlich der Klimakatastrophe als auch hinsichtlich der Überlastung und der Verkümmerung sozialer Beziehungen die Zahl der Menschen wächst, die in einer Fortsetzung des Bestehenden eine Bedrohung erkennen. Hinsichtlich der Klimakatastrophe ist dies sicher unstrittig.
Weniger offensichtlich ist die Gegenwehr gegen die Überlastung insbesondere der Menschen, die in hohem Umfang Lohnarbeit und Sorgeaufgaben kombinieren müssen. Hinweise gibt es jedoch: Umfragen belegen immer wieder, dass Vollzeitbeschäftigte sich eine Verringerung ihrer Wochenstunden wünschen; Betriebe müssen auf den Fachkräftemangel mit dem Angebot einer Vier-Tage-Woche reagieren, um Personal zu finden. Die zunehmende Erschöpfung ist im Anstieg von Burnout-Erkrankungen dokumentiert und unstrittig, ebenso wie der Wunsch vieler Menschen, den Druck zu verringern. Hierbei geht es nicht nur um den häufig beschworenen Zeitwohlstand: Mehr Verfügung über die eigene Lebenszeit bedeutet auch mehr Spielraum in der Gestaltung der sozialen Beziehungen. Zudem nimmt die Wut auf eine Politik zu, die grundlegende Bedürfnisse nach materieller Absicherung, Verfügung über die eigene Zeit oder Mitsprache in existenziellen Fragen ignoriert.
Hier ist der Punkt, an dem ein Bündnis sozialer Bewegungen ansetzen kann, das auf eine radikale Orientierung an Bedürfnissen setzt, die in reichhaltigen sozialen Beziehungen und im Wissen darum, Teil ökologischer Netze zu sein, verfolgt wird: An dem Wunsch nach einem Leben in Sorge füreinander, in Solidarität und selbstbestimmter Genügsamkeit. Erforderlich ist eine Politik, die diese Begierde nach reicheren Beziehungen, den Wunsch, Druck und materielle Unsicherheit zu verringern, und die Hoffnung auf gemeinsame Verfügung über die Lebensbedingungen aufgreift und die sich zudem im Rahmen der Belastungsgrenzen der planetaren Ökosysteme bewegt. Hier besteht der Widerspruch, dass unmittelbare Verbesserungen jetzt erforderlich sind und dass wir zugleich wissen, dass eine Lösung der Probleme unter kapitalistischen Bedingungen letztlich nicht möglich ist. Bei den ersten zu gehenden Schritten geht es also sowohl um Schadensbegrenzung als auch um Selbstermächtigung.
«Erforderlich ist eine Politik, die diese Begierde nach reicheren Beziehungen, den Wunsch, Druck und materielle Unsicherheit zu verringern, und die Hoffnung auf gemeinsame Verfügung über die Lebensbedingungen aufgreift und die sich zudem im Rahmen der Belastungsgrenzen der planetaren Ökosysteme bewegt.»
Hier setzt das Konzept der Care Revolution an. Es zielt auf eine Verbindung verschiedener Bereiche der Transformation, die zugleich die Verbesserung der Bedingungen für Sorgebeziehungen als auch die Einhaltung der planetaren Grenzen im Blick haben und uns dem Ziel einer solidarischen Gesellschaft näherbringen: Eine massive Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit schafft mehr Zeit für unentlohnte Sorgearbeit, reiche soziale Beziehungen und politisches Engagement; zudem erzwingt sie eine Verminderung der Produktion von Gütern und eine Konzentration auf das, was zum Leben wichtig ist. Parallel wird durch eine erwerbsunabhängige und sanktionsfreie individuelle Absicherung Menschen ermöglicht, selbst zu entscheiden, wo sie ihre Fähigkeiten einbringen und wie sie diese auf entlohnte und unentlohnte Tätigkeiten verteilen wollen. Ein bedarfs- und bedürfnisgerechter Ausbau der sozialen Infrastruktur baut zugleich kollektive Formen der Absicherung aus. Zusammen mit einer verlässlichen individuellen Absicherung wird so auch die Abhängigkeit vom Erwerb individueller Ersparnisse zur Zukunftssicherung veringert, ein zentrales Motiv zur Ausweitung der Erwerbsarbeit. Schließlich entstehen durch die Vergesellschaftung von Care-Einrichtungen und zentraler Wirtschaftsbereiche wie Energie oder Mobilität Orte der Selbstverwaltung, die es ermöglichen, demokratisch über die Lebensbedingungen zu verfügen.
Soziale Experimente in Commons sind schon jetzt lebendige Beispiele, wie Zusammenarbeit gestaltet werden kann. Gemeinsames Arbeiten, gemeinsam aufgestellte Regeln der Kooperation und gemeinsame Nutzung der Ergebnisse der Zusammenarbeit verweisen auf eine Zukunft, die Solidarität statt Konkurrenz unterstützt und zugleich mit weniger Ressourcen auskommt.
Alle diese Schritte machen eine solidarische Gesellschaft jenseits des Kapitalismus vorstellbar. Zentral ist, dass die Gesellschaft so gestaltet ist, dass sie nicht-instrumentelle Beziehungen und Praxen der Sorge und Solidarität unterstützt. Dies bedeutet aus unserer Sicht insbesonders: Aufhebung der Sphärentrennung zwischen Erwerbs- und Reproduktionsarbeit. Zu diesem Zweck halten wir es letztlich für möglich und erforderlich, ohne Geld als Koordinationsmedium und ohne staatliche Zwangsgewalt auszukommen. Eine so gefasste Gesellschaft würde Praxen der Sorge und Solidarität viel umfangreicher unterstützen. Je weiter wir auf diesem Weg praktisch kommen, desto besser werden wir fassen können, wovon genau wir träumen.