Ein ökofeministisches Klassenverständnis lässt uns die Schnittmengen von kapitalismuskritischen Degrowth- und Klassenkämpfen erkennen. Dabei rückt der Fokus von der Produktion auf die Reproduktion als Quelle für ein gutes Leben. Anti-Bergbau-Proteste auf dem spanischen Land zeigen, was das in der Praxis bedeutet.
Wenn in der deutschsprachigen Debatte über das Verhältnis von Degrowth und Klasse gesprochen wird, geht es meist um Konflikte. Auf der einen Seite die Leiharbeiter*innen bei VW oder die prekären Sicherheitskontrolleur*innen am Flughafen, die als erstes auf ihren Teil vom Kuchen verzichten müssen, wenn fossile Wirtschaftsbereiche schrumpfen sollen – und deren Klasseninteressen augenscheinlich im Widerspruch stehen mit Degrowth-Forderungen. Auf der anderen Seite Menschen aus urbanen Mittelschichten, die von Konsument*innen Verzicht verlangen oder von Politikeliten fordern, dass sie einsehen, dass Wirtschaftswachstum und eine Zukunft auf diesem Planeten nicht in Einklang zu bringen sind. Und dann gibt es die Debattenbeiträge, die hoffnungsvoll die Möglichkeit von Allianzen von Degrowth und industriellen Klasseninteressen starkmachen, zum Beispiel durch Arbeitszeitverkürzung – eine Degrowth-Forderung, aber auch gut für die Stahlarbeiter*innen und ihre Familien. Oder: Durch Industrieumbau statt Autos mehr Züge bauen – das wickelt den fossilen Sektor ab und schafft Arbeitsplätze.
Diese Allianzmomente zu stärken ist strategisch wichtig und die realen Konflikte entscheiden die Hegemoniefähigkeit einer post-kapitalistischen Alternative, die mit dem Wachstumsdogma bricht. Zusätzlich möchte ich in diesem Beitrag aber einen Perspektivwechsel nahelegen: Es gibt viele Menschen, die nur Krümel vom Wohlstandskuchen abbekommen haben und trotzdem sagen: Wir müssen schrumpfen, denn das kapitalistische Kuchenrezept ist vergiftet. Können wir uns inspirieren lassen von den bereits stattfindenden Überschneidungen von Degrowth- und Klasseninteressen und den Versuchen, eine postkapitalistische Degrowth-Perspektive durchzusetzen?
Für ein Beispiel lade ich euch ein, den Blick über den national-industriellen Tellerrand zu heben, und zwar in die Extremadura. Die Extremadura, diese hierzulande wohl eher unbekannte spanische Region zwischen Madrid und Portugal, das sind Eichenhaine soweit das Auge reicht, wenige Städte und Dörfer in die Landschaft gesprenkelt, hier ein Wasserkraftwerk, dort ein Riesensolarpark, vor allem aber weites Land. In der Region leben eine Million Menschen auf einer Fläche so groß wie die Niederlande, dazu etwa doppelt so viele Schweine und viermal so viele Schafe. Die Extremadura ist reich an historischem Erbe1, landwirtschaftlichen Produkten, einzigartiger Flora und Fauna, aber ökonomisch ist sie die ärmste Region des spanischen Festlandes. Die Armutsrisikoquote ist doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Perspektiven? Nicht wirklich. Als ich 2022 in einem Dorf inmitten von leerstehenden Häusern das Graffiti «Querer volver» – «Wiederkommen wollen» lese, frage ich mich, ob hier verzweifelte Hoffnung oder doch wütender Zynismus spricht. Denn Extremadura steht stellvertretend für das, was im soziologischen Diskurs «la España vaciada» genannt wird – das entleerte Spanien. Gemeint sind die ländlichen Regionen, denen trotz modernem Entwicklungsversprechen vieles genommen wurde – Perspektiven, soziale Infrastrukturen und Menschen, die die Regionen verlassen haben, um ihr Glück in den urbanen Zentren, Industrie- und Tourismushochburgen zu suchen. Degrowth gibt es in der Extremadura – doch nicht by design. Wie wird also über Degrowth nachgedacht in einer Region, die so dringend mehr Wohlstand bräuchte?
«Degrowth gibt es in der Extremadura – doch nicht by design. Wie wird also über Degrowth nachgedacht in einer Region, die so dringend mehr Wohlstand bräuchte?»
Wohlstand durch industrielles Wachstum?
Seit ein paar Jahren glitzert ein Entwicklungsversprechen im Boden: Die Extremadura berge einige der größten Lithium-Vorkommen Europas, heißt es. Unternehmen wollen hier, hofiert durch die politischen Eliten von Brüssel bis in die lokalen Rathäuser, Lithium abbauen. Ein äußerst lukratives Geschäft: Der Lithiumbedarf wird Prognosen zufolge enorm steigen. Lithium, das «weiße Gold», ist ein kritischer Rohstoff und wichtig für die sogenannte grüne Transformation und den Umstieg auf E-Mobilität. «Extremadura kam 150 Jahre zu spät zur industriellen Revolution, aber wird nun Pionierin sein für die industrielle Revolution des 21. Jahrhunderts», so das erklärte Ziel des Regionalpräsidenten, der sich durch die Lithiumindustrie einen ökonomischen Aufschwung für die Region erhofft.
Doch die Pläne spalten die lokale Bevölkerung. In der Gegend rund um die 1000-Menschen-Gemeinde Cañaveral will ein undurchsichtiges Konsortium verschiedener spanischer Unternehmer Lithium abbauen und weiterverarbeiten. Während eines Forschungsaufenthalts frage ich einen lokalen Gastwirt, was er von dem Bergbauvorhaben hält: «Alles, was der Region Arbeit verschafft, ist gut. Vielleicht ist es schlecht für die Natur und die Äcker, aber wenn es uns Arbeit verschafft, ist es gut.» Wir kennen diese Perspektive aus den deutschen Kohlerevieren oder Industrieregionen: Wir müssen die industrielle Produktion ausweiten, um verteilen zu können. Nur wenn der Kuchen wächst, können alle satt werden.
Doch was der Gastwirt andeutet, ist ziemlich sicher: Durch die Lithiumindustrie gingen Ökosysteme und landwirtschaftliche Flächen verloren, vom enormen Wasserverbrauch in einer sehr trockenen Region ganz zu schweigen, dazu Lärm- und Luftbelastung. Trotzdem: Ist es das nicht wert, in einer Region, in der verzweifelt Antworten auf Landflucht und Perspektivlosigkeit gesucht werden?
Für die Vertreter*innen von No a la Mina de Cañaveral ist die Antwort klar: Die Bürger*innen-Initiative wehrt sich seit 2021 gegen das Bergbauvorhaben. Ihrer Ansicht nach legt die Lithiumindustrie weder den Grundstein für einen ökologischen Umbau, noch birgt sie eine Chance auf Wohlstand für die Region. Mit den extraktiven Plänen würde einer kurzfristigen Verwertungs- und Profitlogik gefolgt, die sich durch ein falsches Entwicklungsversprechen rechtfertige. So gehe es bei den geplanten Lithium-Projekten nicht darum, gute Arbeit zu schaffen – es entstünden nur wenige Jobs, vornehmlich für Menschen von andernorts. Zusätzlich würde der Bergbau aktuelle Versuche erschweren, die Dörfer lebenswert zu gestalten und Perspektiven aufzubauen.
«Schrumpfen oder Leiden»
Die Initiative kritisiert, dass durch das extraktive Produktionsmodell ökonomische Profite über das Leben gestellt würden – sowohl über die Lebensfähigkeit in den Dörfern, aber auch über einen echten ökologischen Wandel, den es bräuchte, um Leben auf dem Planeten zu bewahren. Der Lithiumbergbau wird legitimiert durch den Rohstoffbedarf für E-Autos. Doch trotz grünem Versprechen handelt es sich beim Lithium-Abbau um eine bloße Fortschreibung kapitalistischer Inwertsetzung. Luis*, Co-Sprecher der Initiative, erklärt mir: «Bei diesem Lithiumprojekt geht es nicht um ökologischen Wandel, sondern darum, dass sich vier Unternehmer bereichern und Subventionen einsacken.» Carmen*, Pflegefachkraft im nächstgelegenen Krankenhaus, hat die Anwohner*innen-Initiative mitgegründet. Für sie ist klar, dass ein Antriebswechsel keine Mobilitätswende bedeuten würde. Für eine echte Transformation brauche es, bezüglich der Fahrzeugflotte aber auch gesamtwirtschaftlich, weniger, also decrecimiento, Degrowth: «Entweder wir schrumpfen, oder wir werden leiden.»
Was also tun? Das Lithium im Boden lassen? Es brauche, so die Vertreter*innen von No a la mina de Cañaveral, eine demokratische Verfügung über die Lithiumreserven. Ein echter Umbau sei nicht zu machen, wenn es privaten Unternehmen überlassen werde, ihn zu gestalten. Stattdessen soll demokratisch entschieden werden: Wollen wir das Lithium überhaupt abbauen? Wenn ja, zu welchem Zweck? Damit E-Autos gebaut werden, die sich eh keine*r leisten kann, und sich Auto-Konzerne bereichern? Oder für Medizin und Kommunikationstechnologien? So oder so dürfe nicht die Wirtschaftlichkeit der Rohstoffextraktion entscheiden, sondern höchster Maßstab müssten Bedürfnisorientierung und sozial-ökologische Verträglichkeit sein. Diese Forderung nach Demokratisierung der Wirtschaft deckt sich mit vielen kapitalismuskritischen Degrowth-Spielarten.
Als Alternative für die Region müsse nachhaltige Arbeit gefördert werden. Statt extraktiven Großvorhaben den Weg zu ebnen, sollen kleinbäuerliche Strukturen wiederbelebt werden. Der Bedarf nach Pflegekräften und Care-Arbeitenden in den Dörfern sei groß. Die soziale Infrastruktur dort müsse verbessert werden, damit Menschen bleiben könnten: kollektive Mobilitätssysteme auf dem Land, Schulen, Versorgung, nachhaltiger Tourismus. Statt falscher Versprechen in Form von wenig arbeitsintensiver extraktiver Produktion fordert die Initiative Perspektiven durch arbeitsintensive Reproduktion. Handelt es sich dabei um postmaterielle Öko-Forderungen?
«Nicht nur braucht es die Arbeit sozialer Reproduktion als Basis für Produktion. Es braucht auch ökologische Reproduktion: Die Arbeit mehr-als-menschlicher Natur in der Re/Produktion von Leben sowie die Arbeit all jener, die sich darum kümmern, dass Natur sich regenerieren kann und geschützt ist vor kapitalistischer Übernutzung.»
Neue ökologische Klasse
Im Gegenteil, im Widerstand gegen die Lithium-Mine entstehen erste Ansätze dessen, was Bruno Latour und Nikolaj Schultz eine «neue ökologische Klasse» nennen. Die materiellen Kämpfe dieser Klasse drehen sich nicht mehr nur um die Reproduktion der materiellen Bedingungen für das eigene (Über-)leben. Vielmehr geht es darum, die materielle Basis für die Bewohnbarkeit des Planeten zu erhalten. Dadurch rückt der Klassen-Fokus weg von der Produktionssphäre – und die Sphäre der Reproduktion gewinnt an Bedeutung. Im Widerstand gegen die extraktive Lithiumindustrie betreiben die Anwohner*innen das, was die Historikerin Stefania Barca in ökofeministischer Tradition «earthcare labour» nennt, holprig übersetzt also «Erdpflege-Arbeit». Gemeint ist die reproduktive Arbeit, die von einer Vielzahl von (menschlichen und nicht-menschlichen) Akteuren weltweit geleistet wird, mit dem Ziel, Leben und Lebensfähigkeit auf diesem Planeten zu wahren und zu schaffen.
Gemeint sind – was den menschlichen Teil dieser Arbeit angeht – sowohl entlohnte und unentlohnte Care-Arbeitende, aber zum Beispiel auch Kleinbäuer*innen und Agrarökolog*innen, und all jene, die mit ihrem Widerstand dagegen arbeiten, dass Menschenleben durch Staat und Kapital angegriffen, natürliche Ressourcen ausgebeutet, dass Wälder und Ökosysteme zerstört werden, dass Commons privatisiert werden. Ein Großteil dieser Arbeit findet in ehemals kolonisierten Ländern statt, geleistet von Frauen und Queers, von BIPoCs, von Menschen in ländlichen Räumen oder prekären Situationen, an den Frontlinien, wo die kapitalistische Verwertungslogik sich ausweitet und sich in Körper, Beziehungen und Landschaften frisst. All diese Menschen eint, dass ihre Arbeit und ihre Existenz zugunsten des kapitalistischen Status Quo unsichtbar gemacht oder negiert werden.
Dieses Klassenverständnis, das die Bedeutung der sogenannten Reproduktivkräfte hervorhebt, gründet sich in einer öko-feministischen Wendung des historischen Materialismus: Nicht nur braucht es die Arbeit sozialer Reproduktion als Basis für Produktion – einfach ausgedrückt: damit Arbeiter*innen satt und gesund zur Arbeit gehen können, muss wer kochen oder sich kümmern. Es braucht auch ökologische Reproduktion: Die Arbeit mehr-als-menschlicher Natur in der Re-/Produktion von Leben sowie die Arbeit all jener, die sich darum kümmern, dass Natur sich regenerieren kann und geschützt ist vor kapitalistischer Übernutzung. Denn: There is no production on a dead planet. Obwohl diese beiden Formen von Arbeit das Leben – und Produzieren – auf diesem Planeten erst ermöglichen, werden sie unsichtbar gemacht, um sie größtmöglich auszubeuten. Diese Unsichtbarmachung zeigt sich auch dann, wenn in den Debatten über Klasse und Degrowth vornehmlich die Konflikte zwischen Arbeiter*innen in den Industrien des Globalen Nordens und Wachstumskritiker*innen beleuchtet werden.
Die Degrowth-Forderungen, die in den Kämpfen der reproduktiven Klasse erklingen, zielen, so Barca, darauf ab, die industrielle Produktion und Arbeit auf ein ökologisch verträgliches Maß herunterzufahren und der reproduktiven Arbeit mehr Wertschätzung zu verschaffen. Ziel ist es, Lebensfähigkeit auf diesem Planeten sicherzustellen und die industriellen Arbeiter*innen aus dem Zwang zu Lebenszerstörung und Produktivität zu entlassen. In einem akademischen Kontext begegnen mir Einwände zu Barcas Idee: Bei den Earthcarers handele es sich um keine Klasse. Denn es fehle erstens das, was Klassen ausmacht: Ihre politische Macht durch potenzielle Arbeitsniederlegung. Zweitens fehle das gemeinsame Bewusstsein, Teil einer Klasse zu sein. Es stimmt, die Macht der Earthcares äußert sich anders als im klassischen Produktionsstreik. Stellen wir uns vor, all jene, die heute gegen die Vernichtung von Leben und die Übernutzung der natürlichen Mitwelt kämpfen, und all jenes, was Leben und Lebensfähigkeit auf diesem Planeten reproduziert, würden die Arbeit niederlegen. Die Folgen würden sich dramatisch zeigen – jedoch ungleich verteilt und mit erheblicher zeitlicher Verzögerung. Das kurzfristige politische Störpotenzial dieser Klasse liegt woanders, nämlich darin, dass sie die Grundfeste des kapitalistischen Produktionssystems ins Wanken bringen und in ihren Praxen zurückdrängen kann. Dass dies eine enorme Bedrohung für politische und ökonomische Eliten darstellt, zeigt sich, wie Latour und Schultz feststellen, dramatisch daran, dass heute Umweltschützer*innen Opfer massiver politischer Repression sind, so wie früher vornehmlich Gewerkschafter*innen.
«In der Extremadura zeigt sich, dass sich die Earthcarers in einer proletarischen Tradition und Solidarität verstehen. Immer wieder nehmen die Lithium-Proteste rund um Cañaveral Bezug auf den Aufstand der Landarbeiter vom 25. März 1936.»
Barca und auch Latour und Schultz beschreiben außerdem, dass wir es mit einer neu entstehenden Klasse zu tun haben, deren verbindendes Klassenbewusstsein noch nicht ausgeprägt sei. In der Extremadura zeigt sich, dass sich die Earthcarers in einer proletarischen Tradition und Solidarität verstehen. Immer wieder nehmen die Lithium-Proteste rund um Cañaveral Bezug auf den Aufstand der Landarbeiter vom 25. März 1936. Um die 70 000 Landarbeitende besetzten damals Ländereien, um würdige Arbeits- und Lebensbedingungen und eine Landreform zu erzwingen. Auch wenn dieser erfolgreiche Aufstand im kurz darauf beginnenden Bürgerkrieg blutig gerächt wurde, ging er als proletarischer Erfolg in die kollektive Erinnerung der Extremadura ein. In dieser Tradition macht sich die Anwohner*innen-Initiative gemeinsam mit unabhängigen Gewerkschaften oder feministischen Kollektiven stark für ein würdiges Leben ohne Prekarität und Armut in der Extremadura.
Inwiefern halten uns diese Kämpfe also einen Spiegel vor, in dem wir ein verstaubtes Klassenverständnis erkennen? Was können wir stattdessen von diesen Kämpfen für die Hegemoniefähigkeit von post-kapitalistischen Alternativen und Degrowth-Forderungen lernen? Inwiefern sind diese Kämpfe erfolgreich darin, Systemwandelforderungen an die (in linken Strategiedebatten gern beschworenen) Alltagsprobleme der Menschen anzuknüpfen – und was davon kann unsere Strategien inspirieren? Vielleicht ist auch diese Deutung des Verhältnisses von Klasse und Degrowth geboren aus drängender Hoffnung auf erfolgreiche Konvergenzen. Aber vielleicht inspiriert dieser Perspektivwechsel die eine oder andere, diesen Fragen weiter auf den Grund zu gehen.