Der Matrose Heinrich Bading, so erfahren wir, fiel am 27. Juni 1900 bei der Erstürmung des Forts Shiku. Rudolf Jobst, Reiter der Schutztruppe, starb am 16. Mai 1904 in einem Ort namens Otjihaenena. Die kaiserlichen Helden waren zur Bekämpfung antikolonialer Aufstände über See geschickt worden. 1900 war das Jahr des Boxeraufstands in China, und vier Jahre später schlug die Schutztruppe in „Deutsch-Südwestafrika“ (Namibia) die Erhebung der Herero nieder – ein deutscher Krieg, der zum Völkermord wurde.
Aufstand in „Südwest“
Am 11. Januar 1904 eröffneten die Herero im Norden von Deutsch-Südwestafrika den Krieg gegen die Deutschen. Für die Schutztruppe, die gerade im Süden der Kolonie damit beschäftigt war, den Aufstand der Bondelzwarts niederzuschlagen, kam der Angriff völlig überraschend. Der Schock war vollkommen, in der Presse des Deutschen Reiches überschlugen sich die Meldungen über die Ereignisse in der Kolonie. In den ersten Kriegstagen kamen bei Überfällen der Herero auf Militärstationen und Farmen über 100 deutsche Soldaten und Farmer ums Leben. In der Folge dehnte sich der Befreiungskampf auf das ganze Land aus.
Die Gründe für die Erhebung waren komplex. Ende der 1890er Jahre hatte mit dem Bau der Bahnlinie Windhuk-Swakopmund der Ansturm weißer Siedler auf das Land der Herero eingesetzt. Viele dieser Siedler betätigten sich als Händler, die den Herero Waren auf Kredit lieferten. Als Kompensation forderten sie Vieh, wobei sie die Preise willkürlich festsetzten und nicht davor zurückschreckten, ihre Forderungen gewaltsam durchzusetzen. Auf diese Weise verloren die Herero zwischen 1898 und 1902 die Hälfte ihres Viehbestandes. Zum Verlust des Viehs kam der Raub des Landes. Im Unterschied zu Kamerun und Togo, die reine Handels- und Plantagenkolonien waren, sollte „Südwest“ durch die planmäßige Ansiedlung deutscher Farmer erschlossen werden. In der Nähe der Bahnlinie stand schon bald kein Land mehr zur Verfügung.
Die Situation verschärfte sich weiter, als die „Otavi-Minen-und Eisenbahn-Gesellschaft“ (OMEG) auf den Plan trat. Diese Gesellschaft war 1900 gegründet worden, um große Kupfervorkommen abzubauen, die man in Otavi/Tsumeb am Nordrand des Hererogebietes entdeckt hatte. Hinter der OMEG steckte ein britisch-deutsches Konsortium. Zu den Großaktionären zählten die Disconto-Gesellschaft, die Deutsche Bank und die Norddeutsche Bank, in deren Aufsichtsrat der Hamburger Reeder und Afrikahändler Adolph Woermann saß.
Für den Transport der Kupfererze zur Küste war der Bau einer Eisenbahnverbindung zum Hafen nach Swakopmund geplant – mitten durch das Gebiet der Herero. Diese mußten der OMEG den Grund und Boden beiderseits der Bahnlinie in Blöcken von je 20 km Breite und 10 km Tiefe einschließlich der Wasserrechte unentgeltlich überlassen. „Die Herero konnten sich jedenfalls ausrechnen“, schreibt der Historiker Horst Drechsler, „daß mit dem Bau der Otavibahn ein Ansturm deutscher Siedler auf das Hereroland einsetzen würde, der alles bisher Dagewesene bei weitem übertreffen würde.“
Ein deutscher Völkermord
Gerade 9 km der Otavibahn waren fertiggestellt, als der Hereroaufstand ausbrach. Die etwa 800 Mann starke Schutztruppe war in einer ausweglosen Situation. Eilig wurde Truppenverstärkung aus Deutschland in die Kolonie geholt. Doch trotz der zahlenmäßigen und technischen Überlegenheit der deutschen Marine- und Schutztruppensoldaten, die mit modernsten Maschinengewehren und Schnellfeuerkanonen ausgerüstet waren, bekamen sie die Situation nicht unter Kontrolle. Immer wieder gerieten Patrouillen in Hinterhalte und hatten hohe Verluste. Mehr noch als die Gewehrkugeln der Herero machten Krankheiten und Auszehrung der Truppe zu schaffen. Der Reiter Rudolf Jobst, dessen Name sich auf der Gedanktafel im Michel wiederfindet, starb laut amtlichem Bericht in einem improvisierten Militärhospital an „Herzversagen“ – Folge einer Typhusepidemie, die fast die gesamte Ostabteilung des Expeditionskorps außer Gefecht setzte.
Das Kommando wurde schließlich im Juni 1904 auf einen Offizier übertragen, dessen Konzept mehr Erfolg versprach als das vorsichtige Taktieren des amtierenden Gouverneurs Leutwein: General von Trotha, der über Erfahrungen aus dem Aufstand der Wahehe in Ostafrika und aus dem Boxeraufstand verfügte, trug nicht ohne Grund den Beinamen „der Schlächter“. Unter v. Trotha entwickelte sich der Krieg gegen die Herero zum Vernichtungsfeldzug. Seine Truppen kesselten die Herero in der Wüste Omaheke ein. „Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten“, berichtete das deutsche Generalstabswerk, „die Vernichtung des Hererovolkes“. Der Gegner wurde „wie ein halb zu Tode gehetztes Wild … von Wasserstelle zu Wasserstelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur seines eigenen Landes wurde“. Zu Zehntausenden verhungerten und verdursteten Frauen, Männer und Kinder. „Als unsere Patrouillen bis zur Grenze des Betschuanalandes vorstießen, da enthüllte sich ihrem Auge das grauenhafte Bild verdursteter Heereszüge. Das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeschrei des Wahnsinns … sie verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit! Das Strafgericht hatte sein Ende gefunden! Die Herero hatten aufgehört, ein selbständiger Volksstamm zu sein.“1
Mitte August 1904 war für die Deutschen der Hererokrieg mit der „Schlacht am Waterberg“ siegreich beendet. Doch die Menschen, die sich ergaben, fanden keine Gnade. „Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen“, erklärte v. Trotha am 2. Oktober 1904 in einer Proklamation an die Herero.2 Erst auf massiven Druck von oben ließ der General die Massaker einstellen. Der amtierende Gouverneur Leutwein wollte die totale Vernichtung der Herero vermeiden, denn schließlich brauche man sie noch als „notwendiges Arbeitsmaterial“. Die Überlebenden wurden in Konzentrationslagern an der kalten und feuchten Atlantikküste interniert, wo sie zu Tausenden im ungewohnten Klima starben. 1906 lebten von den in früheren Jahren auf 60000 bis 80000 geschätzten Herero noch 16000. Etwa 70% der Hererobevölkerung waren vernichtet worden. Dies ist eine Bilanz des ersten deutschen Vernichtungskrieges.
Verlierer und Gewinner
„Die Vernichtung des Hererovolkes … ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Deutschen in Südwest. Freilich, erst nach dieser Klärung der Machtverhältnisse, erst nachdem die Namas und Hereros auf ein fast identitätsloses Arbeiterproletariat reduziert waren und ihr Land den neuen Siedlern zur Verfügung stand, konnte die Kolonialisierung – im guten wie im schlechten Sinn des Wortes – richtig beginnen … Die Karakulschafzucht kam in Schwung, die Landwirtschaft prosperierte, die Kupferminen von Tsumeb und Otavi wurden erschlossen, die Eisenbahnen feriggestellt. Deutsch-Südwest, bis vor wenigen Jahren Zuschußkolonie, trug sich selbst. Ob es den Preis wert war?“
Auch so läßt sich der Vernichtungskrieg bilanzieren. Der menschenverachtende Kommentar stammt nicht etwa aus der deutschen Kolonialzeit, sondern von 1979. Mit Blick auf die bevorstehende Unabhängigkeit Namibias vom südafrikanischen Apartheidssystem bemühte sich eine Broschüre der „Deutschen Afrika-Stiftung Bonn“, die der CSU und dem Hamburger Afrika-Verein nahesteht, das Bild der Deutschen in „Südwest“ schönzufärben. Bei allem Zynismus, der dem Text zugrunde liegt, trifft er allerdings den Nagel auf den Kopf, wenn er Verlierer und Gewinner des Hererokrieges benennt. Die Hereros – und die Namas, die im Süden der Kolonie noch bis 1907 Widerstand leisteten und die Hälfte ihrer Bevölkerung verloren – wurden durch ein totalitäres Kontroll- und Verwaltungssystem in der Tat zum „Arbeiterproletariat“ degradiert. Ihren gesamten Land- und Viehbesitz übertrugen sich die weißen Herren durch eine im August 1907 erlassene Enteignungsverordnung. Der afrikanischen Bevölkerung wurden Reservate aufgrund ihrer „Stammeszugehörigkeit“ zugewiesen – gerade einmal 60000 qkm von 835000 qkm Landesfläche. Jeder Afrikaner über acht Jahre mußte stets eine Paßmarke und ein Dienstbuch bei sich tragen. Mit diesen Verordnungen wurde das nächste Kapitel deutscher Kolonialpolitik eröffnet: die totale Erfassung der überlebenden Bevölkerung, um das Netz der lückenlosen Ausbeutung afrikanischer ArbeiterInnen enger zu knüpfen.
Auf deutscher Seite hatte der Krieg insbesondere dem Handelskapital schon Gewinn gebracht, bevor er entschieden war. Zu den Kriegsgewinnlern der ersten Stunde gehörte die Hamburger Handelsfirma Carl Bödiker & Co, deren Tätigkeit „im Betriebe von Geschäften aller Art, insbesondere in der Ausrüstung von Schiffen und in der Lieferung von Armee- und Marinebedarf“ bestand. Als am 25. Oktober 1903 mit dem Gefecht in Warmbad der Aufstand der Bondelzwarts in Namibia ausbrach, schickte die Firma gleich mit den ersten Marinetruppen einen Vertreter nach Swakopmund, um dort eine Niederlassung zu errichten. Weitere Filialen entstanden überall dort, wo der Kriegsverlauf gute Geschäfte versprach.
Ein weiterer Großverdiener am Krieg war Adolph Woermann, dessen Hamburger Reederei faktisch ein Monopol für alle Militärtransporte nach Südwestafrika besaß. 15.000 Soldaten und mehr als 11000 Pferde wurden im Laufe des Krieges nach Südwest verschifft. Der Reichstagsabgeordnete Erzberger wies im März 1906 darauf hin, daß die Woermann-Linie rund 3 Mio. Mark für überhöhte Frachtraten und noch einmal soviel für Liegegelder unrechtmäßig eingestrichen habe. Nicht der Völkermord an den Herero wurde zum öffentlichen Skandal, sondern der Betrug am deutschen Steuerzahler. „Dem deutschen Volke kann nicht zugemutet werden, nach den großen Opfern, die es für Südwestafrika bringt, auch noch solche Opfer für eine potente Firma in Deutschland zu bringen“, entsetzte sich Erzberger.3
Kupfer für die Norddeutsche Affinerie
Sehr zufrieden mit dem Kriegsverlauf war man in der Vorstandsetage der OMEG. 1901 hatte ein Vertreter der Gesellschaft noch vergeblich gefordert, das Gebiet, durch das die Bahntrasse führen sollte, „erst zu unterjochen“. Als bei Kriegsausbruch im Januar 1904 der Bau der Otavibahn stockte, fühlte man sich in seiner Einschätzung bestätigt, und Chefingenieur Solioz schrieb an die Firmenleitung, „daß dieser Aufstand ganz energisch niedergeschlagen werden muß und daß mit den Schuldigen tabula rasa gemacht werden muß, steht hier bei jedermann in der Kolonie fest.“4 Da die Regierung die Bahn dringend für den Nachschub der kämpfenden Truppe benötigte, schloß man noch im August 1904 einen „Bahnbeschleunigungsvertrag“ über die vorrangige Herstellung einer Teilstrecke zwischen Swakopmund und Omaruru. Der OMEG bescherte dieses Abkommen militärischen Schutz für die Gleisbauarbeiten sowie eine Subvention von 1 Million Mark. Bei der Zuweisung von kriegsgefangenen Herero wurde sie gegenüber anderen Unternehmen bevorzugt. Anfang April 1906 standen 900 Männer, 700 Frauen und 620 Kinder als Zwangsarbeiter im Dienst der OMEG.
Mit Hilfe dieser billigen Arbeitskräfte ging der Bau der Otavibahn zügig voran und erreichte 1906 Tsumeb, so daß im Geschäftsjahr 1906/07 mit dem Abbau der Kupfererze begonnen werden konnte. Hauptabnehmer des Otavi-Kupfers war die Norddeutsche Affinerie in Hamburg, die sich, wie die Otavi Minen- und Eisenbahn-Gesellschaft, im Besitz der Norddeutschen Bank befand.
Zwischen 1907 und 1913 vermehrte sich die Ausbeute von Kupfer um das Sechsfache. Die Expansion fand ihre Grenzen jedoch im Mangel an Arbeitskräften. Die Ausbeutung der besiegten Herero und Nama wurde so weit intensiviert, daß 1914 nur noch 200 Männer nicht in europäischen Lohnverhältnissen standen. Mit den Landenteignungen und den Paßgesetzen war aber auch die Vorausetzung geschaffen, andere Bevölkerungsgruppen, die von den Kriegsereignissen relativ „verschont“ geblieben waren, in die Kolonialwirtschaft einzubeziehen. Die katastrophalen Arbeitsbedingungen auf den Diamantfeldern bei Lüderitzbucht führten zu einer jährlichen Sterberate von durchschnittlich 15 Prozent, in einzelnen Fällen sogar bis zu 50 und 70 Prozent. Im Ovamboland bewirkte das System der Kontraktarbeit, daß „infolge der Abwanderung der jungen Männer ein gut Teil des bebauungsfähigen und früher bereits bebauten Landes brach liegen … Männer, welche 6 Monate im Süden arbeiten, … kommen nur mit wertlosem Tand zurück und vermehren dann nur die Not der Mangel leidenden Familie.“5
Deutsches Blut und deutscher Boden
Mit dem deutschen Sieg gegen die Herero triumphierte auch eine rassistische Ideologie, die das Recht der Deutschen, andere Völker zu unterwerfen, aus ihrer angeblichen Überlegenheit ableitete und den Kolonialismus zur Kulturmission stilisierte. Der Roman „Peter Moors Fahrt nach Südwest“ des völkischen Heimatschriftstellers Gustav Frenssen erschien 1905, erreichte seine Höchstauflagen, die in die Hunderttausende gingen, aber erst in den dreißiger Jahren. Gustav Frenssen läßt seinen jungen Helden Peter Moor kurz nach Ausbruch des Herero-Aufstands nach Südwest gehen, um an einem wilden Heidenvolk vergossenes deutsches Blut zu rächen“.
Einmal wird Peter Moor Zeuge, wie einer seiner Kameraden einen kriegsgefangenen Herero hinterrücks erschießt. Moor ist zunächst betroffen, wird aber von seinem Oberleutnant belehrt:
„Sicher ist sicher. Der kann kein Gewehr mehr gegen uns heben und keine Kinder mehr zeugen, die gegen uns kämpfen; der Streit um Südafrika, ob es den Germanen gehören soll oder den Schwarzen, wird noch hart werden … Diese Schwarzen haben vor Gott und Menschen den Tod verdient, nicht weil sie die zweihundert Farmer ermordet haben und gegen uns aufgestanden sind, sondern weil sie keine Häuser gebaut und keine Brunnen gegraben haben … Was wir vorgestern vorm Gottesdienst gesungen haben: ,Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten‘, das verstehe ich so: Gott hat uns hier siegen lassen, weil wir die Edleren und Vorwärtsstrebenden sind. Das will aber nicht viel sagen gegenüber diesem schwarzen Volk; sondern wir müssen sorgen, daß wir vor allen Völkern der Erde die Besseren und Wacheren werden. Den Tüchtigeren, den Frischeren gehört die Welt. Das ist Gottes Gerechtigkeit.“6
Im Nationalsozialismus wurden die „Südwester“ zu Helden stilisiert, die deutsches Blut und deutschen Boden verteidigten. Doch der Mythos vom deutschen Volk, das sich seinen Lebensraum erobern muß, ist keine Erfindung der Nazis.
Deutsche Erinnerungskultur
Die Proletarisierung der Bevölkerung, die Trennung von Schwarzen und Weißen, die Zuweisung von Reservaten aufgrund der „Stammeszugehörigkeit“ – das war die Hinterlassenschaft der Deutschen, als die Verwaltung Namibias nach dem Ersten Weltkrieg an Südafrika übertragen wurde. Die Buren vom Kap brauchten das System der Apartheid nur weiterzuentwickeln, die „Südwester“ hatten gründliche Vorarbeit geleistet.
An der Gedenktafel im Michel fehlt bis heute jeder Hinweis auf die Opfer der deutschen Kolonialkriege. Das Unabhängigkeitsjahr 1989 hätte das Jahr werden können, in dem den Herero wenigstens etwas nachträgliche Gerechtigkeit widerfahren wäre. Das Oberhaupt der Herero, Paramount Chief Kuiama Riruako, forderte von der Bundesregierung als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs Wiedergutmachung. Eine Antwort bekam er nie.