Hier soll es keinesfalls darum gehen, den plumpen Vorwurf zu wiederholen, dass Fleischessen natürlich sei, und der Verzicht auf tierische Produkte deshalb automatisch einer Essstörung im Sinne einer ‚nicht-natürlichen‘ Lebensweise gleichkomme. Und es geht hier auch nicht darum, eine inhaltliche Position zum Thema Anti-Speziesismus einzunehmen. Vielmehr soll Nachdenken darüber ermöglicht werden, wie ein problematischer Umgang mit Essen aus privater Verschwiegenheit herausgeholt und in politische Diskurse integriert werden kann. Was sind die Risiken und Nebenwirkungen einer politischen Praxis für Frauen*, die so wesentlich über die Reglementierung von Nahrung funktioniert?

Der Fokus liegt hier auf Frauen* und ihren Umgang mit veganer Ernährung. Wie immer, wenn nur Frauen in den Blick genommen werden, birgt dies das Risiko, dass Männer daneben als unkomplizierter oder selbstbestimmter erscheinen. Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, wäre eine männlichkeitskritische Debatte zu Veganismus und anderen Politikformen notwendig. Frauen* und Mädchen* erlernen aber in „typisch weiblicher“ Sozialisation einen spezifischen und tendenziell selbstzerstörerischen Umgang mit dem eigenen Körper – und der Zusammenhang zwischen diesem und veganer Ernährung soll hier betrachtet werden. Es geht nicht darum, Frauen*, die sich mit Tierrechten befassen und beschlossen haben, sich vegan zu ernähren, ihre politische Entscheidung abzusprechen. Aber es soll danach gefragt werden, was diese Entscheidung noch mit sich bringen kann.

Hunger hat Geschichte

Für die meisten Frauen* ist Essen ein Thema. Kaum eine, die nie eine Diät gehalten hat, sich nicht schon mal gefragt hat, ob sie sich noch ein Stück Torte nehmen soll, sich beobachtet gefühlt hat beim Pommes essen. Kaum eine, die nie auf Kummer mit nichts mehr essen oder mit umso mehr essen reagiert hat. Kaum eine, die nicht phasenweise gehungert, gekotzt, geschlungen oder zumindest daran gedacht hat. Kaum eine, deren Verhältnis zu Essen vollkommen frei von Schuldgefühlen und ausschließlich von Lust und Kalorienaufnahme bestimmt ist. Kaum eine Frau, deren Hunger keine Geschichte hat.

Essstörungen sind nicht auf herrschende Schönheitsideale zu reduzieren. Dünn oder dick zu sein ist weniger eine Frage der Attraktivität als der, wie viel Raum eine Frau einnimmt – und dass Raum für Frauen* begrenzt ist, ist kein Geheimnis. Hunger handelt von Begehren, davon, was ich will von der Welt – und davon, wie viel mir zusteht. Wie hungrig darf ich sein, wie viel kann ich erwarten, was darf ich verlangen? Das sind bittere Fragen, vor allem für Frauen*, denen dabei ganz besonders oft der Appetit vergeht.

Distinktionsgewinn

Auch wenn Menschen, die sich vegan ernähren, oft auf Unverständnis oder Widerstand stoßen, so lässt sich doch behaupten, dass Vegansein innerhalb einer queer-fem-linksradikalen Szene als politisch korrektes Verhalten gewertet wird. Allerdings weist schon die Formulierung ‚vegan sein‘ – im Gegensatz zu ‚vegan essen‘ – darauf hin, dass der dadurch mögliche Distinktionsgewinn nicht zu unterschätzen ist. Diät zu halten ist da schon weniger cool. In einer Szene, in der von jeder Frau erwartet wird, das Patriarchat zumindest im Kopf bereits überwunden zu haben, ist es kaum möglich, zuzugeben, dass das eigene Wohlbefinden auch vom Gewicht abhängig gemacht wird.

Essstörungen sind immer auch ein Versuch, System in die eigene Ernährung zu bringen. Wenn das Gefühl für sich selbst so wenig vorhanden ist, dass ein simples „ich habe Hunger – ich esse“ nicht mehr funktionieren kann, dann bietet eine Essstörung eine alternative Orientierung. Das können gezählte Kalorien sein, das Herauskotzen der Nahrung oder der Versuch einfach jeden Tag das gleiche zu essen. Vegane Ernährung erfüllt dieselben Kriterien, auch sie bietet Halt und Orientierung, weil klar ist, welche Nahrungsmittel gegessen werden dürfen und welche nicht.

Vegane Diät

Es geht hier weder darum, Veganismus und Essstörungen gleichzusetzen, noch darum, eine Kausalität zwischen beiden herzustellen. Es geht darum, feministische Auseinandersetzungen mit Körperbildern und Ernährung auch in vegane Diskussionen einfließen zu lassen.

Veganismus kann die Funktion einer Essstörung einnehmen. Dabei entstehen Dynamiken, die viel mit Diät halten, abnehmen oder exzessiver Auseinandersetzung mit Nahrung zu tun haben – und die nicht mit Tierrechten schöngeredet werden sollten. Wer in veganen Foren unter ‚vegan + Essstörung‘ sucht, findet viele Einträge in denen Frauen* von ihrer persönlichen Geschichte berichten: von der 15jährigen, die denkt, dass sie sich, wenn sie vegan essen würde, vielleicht auch ohne Erbrechen ‚rein‘ fühlen könnte, bis hin zu anderen Frauen*, die davon erzählen, wie Veganismus zur Ersatzdroge für ihre Essstörung wurde. Auch in sogenannten Pro-Ana-Foren – die sich positiv auf Essstörungen beziehen – wird Veganismus als Methode zum Abnehmen empfohlen. Auffallend ist auch, dass Veganismus immer wieder mit offen sexistischen Bildern beworben wird, in denen das Versprechen auf patriarchale Körpernormen von veganer Ernährung überzeugen soll1.

Die Reinheit, der Ekel und der Stolz darauf

Der Grad zwischen selbstzerstörerischem und verantwortungsvollem Umgang bei Fragen der Ernährung ist oft sehr schmal. Gerade Frauen*, die Erfahrung mit Essstörungen haben, können bei der Umstellung auf vegane Ernährung 'getriggert' werden und wieder in alte Muster rutschen.

‚Rein‘ zu bleiben ist ein wiederkehrendes Motiv nachdem sehr viele Frauen*leben. In einer Welt, die oft nicht freundlich ist, in der selbstbestimmtes Leben auch bedeutet, gegen die Mauern im eigenen Kopf anzurennen, scheint die Kontrolle über den eigenen Körper oft der einzige Weg auf sich selbst aufzupassen. Wenn ich mich vor sexualisierter Gewalt, Zukunftsängsten oder Einsamkeit nicht schützen kann, dann kann ich mich doch immerhin davor schützen, die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren, kann darauf achten, mir nur gesunde gute Produkte zuzuführen, kann aufpassen, dass nichts schlechtes in mich eindringt.

Vegane, die bis auf die letzte E-Nummer kontrollieren, dass ihnen nur ja kein tierisches Spurenelement zu nahe kommt, erinnern manchmal an diese Vorsicht. Der Körper muss vor schlechten tierischen Produkten beschützt werden.

„Aber ich finde Fleisch und Milch einfach eklig“: auch hier lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen essgestörtem Verhalten und mancher veganer Lebensweise finden: Auch anorektische Frauen* finden Fett grausig. Sie ekeln sich vor dicken Kuchenglasuren, Fettaugen auf der Suppe und cremigen Desserts und sind gleichzeitig fasziniert davon. Niemand kennt so viele tierische Produkte wie Vegane, niemand kann so gut Kalorientabellen erstellen wie essgestörte Frauen*. Es ist nicht ungesund, manche Lebensmittel nicht essen zu wollen – aber es ist problematisch, viele Lebensmittel nicht essen zu dürfen. Wenn aus einem „das mag ich nicht essen“ ein „das kann ich nicht essen“ wird, dann wird aus einer selbst gewählten Entscheidung ein Zwang.

Mit dem Ekel und der Faszination kalorienreichen Nahrungsmitteln gegenüber kommt auch der Stolz, diese nicht zu essen, stärker zu sein, sich unter Kontrolle zu haben. Missgünstige Kommentare und kontrollierenden Blicke, welche wie viel isst, verstärken diesen. Für eine dicke Frau gehört viel Mut dazu öffentlich Eis zu essen. Kleine, leichte, dünne Frauen* haben es leichter: ihnen wird ihr Hunger aufs Leben eher verziehen. Frauen*, die sich 'zu viel' nehmen, werden dafür bestraft – egal ob es ums Essen, um Sex, Aufmerksamkeit oder Erfolg geht. Viele Frauen* kennen den Stolz des Verzichts. Kein sehr gesunder Stolz allerdings, weil er nicht stark und groß, sondern bloß bescheiden und unbefleckt zurück lässt.

Kontrolle

Frauen*, die Erfahrungen mit Essstörungen haben, wissen, wie es ist, wenn die ganze Aufmerksamkeit nur mehr ums Essen kreist; wenn die erste und die letzte Frage an jedem Tag die ist, was heute zu sich genommen werden darf; wenn in all dem Nebel kein Platz ist für größere Fragen. Die, die diesem Nebel entkommen sind, haben oft ein feines Gespür dafür, wenn die Frage nach dem Essen in ihrem Leben wieder zu viel Platz einnimmt. Frauen*, die Erfahrungen mit Essstörungen gemacht haben und jetzt vegan essen, gehen ein hohes Risiko ein, Essen wieder zum Zentrum ihres Selbst zu machen – wenn auch unter anderen, politisch höher bewerteten Spielregeln. Manchmal kann vegane Ernährung auch dazu beitragen, eine Essstörung unter Kontrolle zu halten: etwa wenn durch den Verzicht auf tierische Produkte die Grenzen klar genug abgesteckt sind und es dadurch wieder möglich wird, sich darum zu kümmern, dass der Körper genug Nahrung bekommt. Daran ist nichts auszusetzen. Im Gegenteil: jede Praxis, die Frauen* hilft, besser für sich zu sorgen, ist begrüßenswert. Schwierig wird es, wenn wieder der Stolz ins Spiel kommt, wenn Frauen*, die sich zutrauen, alles und noch viel mehr zu essen, mit scheelen Blicken angeschaut werden. „Du bist aber hungrig heute?!“ lautet ein Imperativ, der in fast jeder Mädchen-Sozialisation eine Rolle gespielt hat. Zwar kann vegane Ernährung helfen, die Essstörung in den Griff zu bekommen,
gleichzeitig macht sie es aber komplizierter, diese zu thematisieren. Frauen* mit Essstörungen werden mit ihrer Krankheit oft allein gelassen und Verwandte oder Freund_innen spielen beim Versteckspiel mit. Als Veganismus ausgelebte Essstörungen machen es für betroffene Frauen* noch schwieriger, Hilfe zu bekommen: Jedes Gespräch über den Schmerz der betroffenen Frau muss erst den Umweg über den Schmerz der Tiere nehmen, der offenbar leichter als politisch erfahren werden kann als die eigene Depression.

Yes, it's fucking political

Essen ist ein politisches Thema – darauf haben sowohl Feministinnen, als auch Tierrechtler_innen aufmerksam gemacht, wenn auch aus verschiedenen Richtungen. Möglicherweise ist vegan essen eine Praxis, die sich häufig an feministischen Grundsätzen stößt: nämlich denen, die sagen, dass Politik Frauen* stärker, größer und hungriger – im Sinne von neugieriger auf sich selbst, auf das Leben, auf die Welt und alles was sie zu bieten hat – machen soll. Feministische Politik muss über den Hunger und über den Verzicht von Frauen* sprechen. Es ist schwierig, die ganze Bäckerei zu wollen, wenn schon das kleinste Stück vom Kuchen zu viele Kalorien hat. Wenn wir uns zu viel damit befassen, was wir essen, verlieren wir zu leicht aus den Augen, was wir wollen, was wir brauchen, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Essstörungen sind in eine Antwort auf eine Frauen*verachtende Gesellschaft. Sie können als Widerstand gegen Sexismus gelesen werden, in dem Frauen* Normierung ad absurdum führen. „Ich soll abnehmen? Dann nehme ich so viel ab, dass ich verhungere!“ oder „frau kann gar nicht so viel essen wie sie kotzen möchte“ oder sie können als Krankheiten interpretiert werden, die Frauen* in lebensgefährliche Sackgassen drängen. Vermutlich sind sie beides – sowohl ein Widerstand als auch ein Brechen unter der Norm.

Vegane Ernährung und feministische Forderungen stehen häufig in einem Widerspruch zueinander – ein Widerspruch der nicht unbedingt aufgelöst werden muss, der aber auch nicht ignoriert werden darf. Eine politische Praxis, die Nahrung so sehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt, muss sich auch fragen, ob hier Frauen* auf sich selbst und die Frage „was darf ich heute essen“ reduziert werden.