Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Geschlechterverhältnisse zwar häufig als 'Querschnittsthema' mitgedacht werden sollten, in der konkreten Auseinandersetzung jedoch allzu oft hinten runter fallen. Deshalb begreifen wir Queerfeminismus als ein Politikfeld mit eigenen Praxen – und diese wollen wir kennenlernen, weiterentwickeln, neu erfinden. Wir stehen damit ganz am Anfang, aber nicht im luftleeren Raum.
Diese Collage ist der Versuch, uns diesen Raum zu erschließen: Mit queeren und feministischen Gruppen aus verschiedenen Teilen der Welt in Kontakt zu treten, um etwas über ihre Kämpfe und politischen Praktiken zu erfahren und diese mit unseren eigenen Kämpfen sowie untereinander zu vernetzen. Dazu haben wir einen Fragebogen an Gruppen in Istanbul, St. Petersburg, Jakarta, Belgrad, Paris und Berlin verschickt. Die Antworten könnt ihr hier in voller Länge lesen! Die gekürzte Druck-Version sowie eine englische Übersetzung sind ebenfalls online zugänglich.
Was sind eure Wurzeln? An welche sozialen Kämpfe knüpft ihr an?
Amargi: In meinen Wurzeln gibt es keinen Kampf. In meiner Familie und in meiner Vergangenheit gab es weder eine Opposition noch einen sozialen Kampf. Mit 27 bin ich zum ersten Mal aus eigenem Willen einer feministischen Organisation beigetreten. Ich befinde mich heute immer noch in derselben Organisation, hinterfrage das Patriarchat und versuche, mir meine Freiheit aufzubauen.
Les Panthères Roses: Die Panthères Roses sind 2002 gegründet worden. Le Pen ist damals in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gelangt. Eine neue Rechte tauchte auf, die uns bis heute regiert – hart, mit Sicherheitspolitik und Populismus auf dem Programm und sehr offensiv gegen persönliche Freiheiten und soziale Errungenschaften agierend. Zu diesem Zeitpunkt sahen wir die Notwendigkeit, eine Gruppe zu gründen, die sich an der Schnittstelle von LGBT1-Bewegung und sozialen Bewegungen befindet. Auch wenn wir keine Wurzeln einfordern (Wurzeln hören sich ein bisschen zu biologistisch und monokausal an): Wir kommen nicht von nirgendwo her, unsere Aktionen schreiben sich in die Kämpfe von LGBT ein, wir beziehen uns auf radikalen Lesbianismus (Monique Wittig), feministischen Materialismus, Antirassismus und Antikapitalismus.
QueerBeograd: In erster Linie sind wir eine radikale Queer-Gruppe, die für ein Zusammenleben auf Grundlage von Selbstdefinition und Einschluss kämpft. Wir richten uns gegen die traditionellen heteronormativen und patriarchalen Normen, was voraussetzt, dass auch andere Unterdrückungsformen und Strukturen der Gesellschaft thematisiert werden.
Die Mitglieder von QueerBeograd haben unterschiedliche (politische/kulturelle/Klassen-) Hintergründe, aber wir sind alle tief in der feministischen antiautoritären antikapitalistischen Bewegung verwurzelt; dass wir queer sind, bestimmt/beeinflusst die Weise, wie wir Politik machen. Einige von uns sind Künstler_innen oder kulturell tätig, einige sind seit langem in antifaschistischen oder antirassistischen Strukturen aktiv und andere sind in lokalen feministischen und LBGT-Gruppen organisiert.
Dadurch sind wir mit verschiedenen anderen Kämpfen verbunden und arbeiten mit LGBT-Gruppen, feministischen Gruppen, No-Border-Gruppen, antirassistischen, antifaschistischen und antikapitalistischen Gruppen zusammen.
Unsere Zusammenarbeit reicht vom Solidarisieren über gemeinsame Kampagnen oder Projekte bis zum Austausch über unsere politischen Ansichten und finanzielle Unterstützung.
FNO: Ich bin in der UdSSR aufgewachsen und habe meine Jugend während der Zeit der Perestroika verbracht. Ich habe erlebt, wie meine Eltern kämpfen mussten, ihre Jobs, Identität, Freunde und gesellschaftliche Stellung verloren.
La Barbe: La Barbe hat sich für ihren Ansatz inspirieren lassen durch die Texte von Delphy und Wittig, durch Bewegungen wie das MLF (Mouvement de libération des femmes, 'Befreiungsbewegung der Frauen'), natürlich durch lesbische Gruppen wie die Lesbian Avengers, politische wie die Billionaires for Bush, künstlerische wie die Guerilla Girls und vor allem aktivistische - die Gründerinnen stammen aus der Gruppe Act Up Paris. Wir berufen uns auf ein dreifaches Erbe: feministisch, lesbisch und künstlerisch. Wir verorten uns in der Mitte des Schießplatzes, auf dem sich mitunter die 'klassischen' Feministinnen des Collectif National pour les Droits des Femmes und Gruppen aus der Queer-Bewegung gegenüber stehen. Im Übrigen legen wir Wert darauf, dass wir symbolisch dem Schoß von Eric Zemmour – homophob, sexistisch, rassistisch und stolz darauf – entsprungen sind.
bok o bok: Wir knüpfen an den Kampf für die Anerkennung der Unantastbarkeit des Menschen an: Der Staat darf nicht das Private reglementieren, dem Menschen diktieren, was er machen darf und soll und was nicht, solange sein Handeln die Rechte der anderen nicht verletzt.
Lambda Istanbul: Bei Lambda definieren wir uns als Feminist_innen und Antimilitarist_innen. Die LGBT-Bewegung und die feministische Bewegung hatten von Anfang an sehr enge Verbindungen. Im Sinne des Antimilitarismus ist Lambda in engem Kontakt mit dem Conscientious Objection Movement (Bewegung von Kriegsdienstverweigerern): Wir haben selbst ein sehr aktives Mitglied, das Kriegsdienstverweigerer war und schwul ist. Er war ein Jahr im Knast und wurde gefoltert. Außerdem definiert sich Lambda als gewaltlose Gruppe, das bedeutet Gewaltlosigkeit in der Praxis. Wir unterstützen zum Beispiel die kurdische Bewegung, aber nicht die Guerilla. Die kurdische Bewegung ist die einzige – wie auch die kurdische Partei im Parlament die einzige Partei ist –, die die Politik und Positionen der LGBT unterstützt.
f.a.q.: Wir knüpfen an einige (nicht-differenz-)feministische, queere, anti-sexistische, anti-rassistische, post-koloniale, anti-kapitalistische Kämpfe an.
Institut Pelangi Perempuan: Wir sind Teil der queer-feministischen Bewegung.
Unter welchen strukturellen Bedingungen arbeitet ihr? Und wie haben sich Neoliberalismus und die globalen Krisen auf diese ausgewirkt?
La Barbe: Häh? Verstehe die Frage nicht.
Institut Pelangi Perempuan: Die Bedingungen, unter denen wir arbeiten, sind aktuell von den aufstrebenden islamisch-fundamentalistischen Bewegungen in Indonesien geprägt, wobei es diesbezüglich starke regionale Unterschiede gibt. Seit einiger Zeit gibt es immer wieder offene Aggressionen und Angriffe auf LGBT-Gruppen, zum Beispiel auf einer Konferenz, die wir im März 2010 organisiert haben. Diese Vorfälle haben uns und unsere Arbeit sehr beeinflusst, weil wir uns nicht mehr sicher fühlen. Homosexualität gilt als sexuelle Störung und wird in vielen Regionen Indonesiens zunehmend kriminalisiert – und nicht nur von islamistischen Organisationen. Auch die indonesische Regierung erkennt queere Lebensformen und LGBT-Gruppen nicht offiziell an und diskriminiert sie in der Gesetzgebung. Im Jahr 2008 hat die indonesische Regierung ein Anti-Pornografie-Gesetz verabschiedet, das unter anderem die strafrechtliche Verfolgung jeglicher Veröffentlichungen zu queeren Themen und Homosexualität vorsieht.
Gleichzeitig ist es uns wichtig, uns gegen Islamfeindlichkeit zu engagieren und entsprechende Kampagnen zu unterstützen, weil wir meinen, dass nicht „der“ Islam für die zunehmende Aggression gegen queere Menschen verantwortlich ist.
Amargi: Der Neoliberalismus beeinflusst uns negativ, indem er die Begriffe inflationiert. Globale Krise und Neoliberalismus führen dazu, dass wir unsere Projekte nicht verwirklichen, dass wir sehr langsam vorankommen und dass wir mit sehr wenigen Menschen viel mehr Arbeit leisten müssten, so dass wir noch mehr ermüden.
Les Panthères Roses: Die Panthères Roses sind ein eingetragener Verein, dadurch können wir Demonstrationen anmelden. Wir versuchen, so horizontal wie möglich zu funktionieren, wir haben keine Vorsitzende oder keinen Vorstand, sondern entscheiden kollektiv in unseren öffentlichen wöchentlich stattfindenden Vollversammlungen. Wir sind unabhängig und erhalten keine Subventionen, wir beschaffen uns selbst die Kohle, die wir brauchen, indem wir Sticker oder T-Shirts verkaufen oder Soli-Events organisieren.
Was die Effekte des Neoliberalismus betrifft: Viele von uns müssen immer mehr arbeiten und verdienen immer weniger, die Mieten sind völlig überteuert, es ist schwierig, die Zeit und den Willen für politischen Aktivismus zu finden. Der Kontext ist ein französischer Neoliberalismus, der von einer ziemlich extremen Rechten geführt wird, die uns ihre politische Agenda vorschreibt. In Paris sind wir nicht viele, die organisiert sind, und es gibt sehr wenige selbstbestimmte Orte. Homophobie, Lesbophobie und Transphobie sind ausgeprägt (momentan sind die Katholiken besonders aggressiv).
QueerBeograd: Die Gruppe wurde 2005 gegründet, als sich Serbien infolge der 1990er Jahre immer noch in einer schwierigen ökonomischen Situation befand. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in prekären Verhältnissen, und das gilt auch für die meisten unserer Gruppenmitglieder. Das ist wichtig, weil von der finanziellen Situation abhängt, wer es sich überhaupt leisten kann, politisch aktiv zu sein. Das ist eine fortlaufende Diskussion. Von einem feministischen Standpunkt aus versuchen wir, Strukturen zu schaffen, in denen Arbeit bezahlt wird und Teilnehmer_innen unserer Festivals bei den Reisekosten und der Unterbringung unterstützt werden, weil sie sich die Teilnahme ohne finanzielle Unterstützung kaum leisten können.
Ein großer Teil der feministischen und LGBT-Gruppen in Serbien wird von internationalen Geldgebern finanziert. Ohne diese Unterstützung wäre ein großer Teil der politischen Arbeit auf dem Balkan nicht möglich. Die Krise hat die sowieso schon prekäre soziale Situation im Land noch verschärft.
Wir selbst beantragen Unterstützung nur bei Geldgebern, die wir als ethisch einschätzen. In gleichem Maße erhalten wir dankenswerte Unterstützung durch solidarische Graswurzel-Spendenaktionen. Unsere Mitglieder arbeiten seit Jahren ohne Bezahlung, was Auswirkungen auf unser alltägliches Leben mit der prekären Arbeits- und Wohnsituation hat. Wir bemühen uns, eine beständigere Praxis zu finden, aus persönlichen Gründen, aber auch, damit unsere Politik langfristig aufrecht erhalten werden kann.
Dennoch sind wir durch unsere ziemlich unabhängige Praxis in der Lage gewesen, unsere eigene Aktivität und Politik zu entwickeln, den Einfluss von Geldgebern abzuwehren und eine autonome Perspektive zu bewahren.
bok o bok: Wir leben in einer Gesellschaft, die stark von der Willkür unserer Regierung abhängig ist. Die administrativen Entscheidungen der Regierung sind unberechenbar und intransparent. So ist der Versuch oft müßig, Beamte in Verhandlungen und Gesprächen über das Filmfestival zu informieren und einen offenen Dialog zu schaffen. Zum Beispiel wurde uns in Archangelsk von der Stadtverwaltung versichert, dass das Festival ok sei und die Regierung nichts dagegen unternehmen werde. Eine halbe Stunde nach diesem Gespräch haben uns Spielorte abgesagt – weil Polizisten in die Clubs gekommen waren und ihnen mit administrativen Sanktionen gedroht haben. Die Medien werden kontrolliert und zensiert, besonders das Fernsehen. Es gibt eine passive, konsumierende eingeschüchterte Mehrheit in der Gesellschaft, die nicht an die Möglichkeit positiver Veränderungen glaubt und nicht über die reale Situation und die Missachtung der Menschenrechte im Land informiert ist. Auch die zunehmenden Versuche der orthodoxen Kirche, Einfluss zu nehmen, tragen dazu bei, dass es nicht einfach für uns ist, unsere Arbeit zu machen.
Lambda Istanbul: Vieles hängt mit der ökonomischen Situation eines Landes zusammen. Jedes Land muss die eigene Wirtschaft am Laufen halten. Ein Beispiel in der Türkei ist die Armee. Die Türkei ist der größte Abnehmer deutscher Waffen. Das ist ein Grund, weshalb der Krieg zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Minderheit weitergehen muss. Wir müssen einsehen, dass es das System ist, das gewalttätig ist. Und unter dem Neoliberalismus ist es nicht gerade besser geworden.
f.a.q.: Wir arbeiten unter folgenden strukturellen Bedingungen: Kapitalismus, Rassismus, Sexismus, Geschlechterverhältnis und Heteronormativität, Homophobie, Transphobie, Nationalstaatlichkeit und Nationalismus, Post-Kolonialismus, post-faschistisches Deutschland, Antisemitismus, Ableism, und andere Machtstrukturen, die unserer Ansicht nach eng miteinander verwoben sind. Für die Erhaltung des Infoladens müssen wir ständig finanzielle Mittel auftreiben. Als Individuen sind wir zwar in der privilegierten Position, selbstorganisierte Politik machen zu können, diese Position ist allerdings ständig durch den Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, etc. bedroht.
FNO: Zur Beantwortung dieser Frage wäre ein ganzer Artikel nötig …
Wie benutzt ihr das ‚Wir‘, wenn ihr sprecht? Für wen sprecht ihr?
Institut Pelangi Perempuan: „Wir“ sind junge queere und lesbische feministische Frauen.
Amargi: Das Wort „Wir“ steht für mich für alle Unterdrückten. Ich sehe nicht nur die Frauen als ein Subjekt des Feminismus. „Wir“, das sind alle Unterdrückten, die Diskriminierten, die Gewaltopfer. Wer gegen die Macht ist, wird durch das „Wir“ symbolisiert … Identitäten sind veränderbar, wir haben multiplexe Identitäten. Einige von diesen Identitäten können auch die Macht symbolisieren und zugleich können wir mit einer anderen Identität aber auch unterdrückt werden. Feminismus und die verschiedenen Feminismen können in vieler Hinsicht eine Bereicherung darstellen.
Lambda Istanbul: Identitätspolitik ist ein komplexes Feld. Ich bin gegen jegliche Viktimisierung von Identität: Beispielsweise werden wir oft von Leuten aus so genannten westlichen Ländern gefragt, wie es ist, in einem muslimischen Land schwul zu sein. Ich frage dann zurück: „Hm, wie ist es denn, in einem katholischen Land schwul zu sein?“ Versuche, unsere Identität zu viktimisieren und die Hierarchie zwischen 'westlichen' und muslimischen Ländern zu stabilisieren, sind koloniale Verhaltensweisen. Aber manchmal kann Identität sehr wichtig sein, besonders wenn jemand dir erzählt, dass deine Identität gar nicht existiert oder krank ist. Da gehe ich natürlich hin und sage „ich bin trans“, und ich stehe zu dieser Identität. Gleichzeitig sagen wir „wir sind kurdisch“, „wir sind armenisch“. Viele kurdische LGBT-Menschen geben ihre LGBT-Identität auf, weil sie für ihre kurdische Identität kämpfen. Ein anderes Beispiel ist die häusliche Gewalt, die viele kurdische Frauen in ihren Familien erleben. Sie sprechen nicht darüber – sie betrachten sie nicht als Gewalt angesichts der Gewalt, die sie durch den türkischen Staat erfahren. Es ist für sie wichtiger, für die kurdische Unabhängigkeit zu kämpfen und für ihre Rechte als kurdische Menschen. Daher kann es, wenn Identitäten nicht gesehen oder ignoriert werden, wichtig sein, Identitäten sichtbar zu machen und zu verteidigen. Aber es ist sehr wichtig, gleichzeitig keine anderen Identitäten auszuschließen.
QueerBeograd: Es gibt eine queere Theoretiker_in in Sydney, Linnell Secomb, die 'queer' folgendermaßen definiert: „Queer ist keine Identitätskategorie, sondern das kontinuierliche Stören jeglicher Form von Normativität“. In diesem Sinne schließt unser 'Wir' nicht nur LGBTIQ1 ein, sondern alle Menschen, die die hegemonialen Strukturen unserer Gesellschaft sowie die auf Hierarchien basierende Kategorisierung und Diskriminierung von Menschen in Frage stellen.
bok o bok: Die LGBT-Community, Vertreter_innen der russischen Zivilgesellschaft und Bürger_innen.
f.a.q.: Wir benutzen das 'Wir' nur für uns als Orga-Gruppe des Infoladens. Ein kategoriales 'Wir' zu konstruieren finden wir problematisch, weil dadurch manche Menschen, ohne gefragt zu werden, in ein kollektives 'Wir' (wie beispielsweise 'Wir Frauen') eingeschlossen werden, andere wiederum daraus ausgeschlossen werden. Ein paternalistisches Sprechen für andere lehnen wir ab, jedoch zielen unsere Forderungen selbstverständlich auf die Veränderung gesamtgesellschaftlicher Zustände. Dabei versuchen wir, undogmatisch und reflektiert zu bleiben.
Les Panthères Roses: Wir sind eine nicht-gemischte Lesben-, Trans- und Schwulen-Gruppe, und wir wollen nicht „im Namen von … sprechen“. Wir gehen von unseren Identitäten als Lesben, Trans und Schwule aus, aber nicht nur. Wir fühlen uns nicht berufen, alle LGBT zu repräsentieren. Wir sind mit einem Teil der LGBT-Community und feministischen Gruppen in Frankreich uneins, und unsere Positionen sind in diesen Zusammenhängen Minderheitenpositionen. Wir wenden uns gegen eine Instrumentalisierung des Feminismus für rassistische Ziele. Das hat sich bei den Debatten um die Gesetze zum Kopftuch und zur Burka gezeigt, bei der Diskussion über die Intervention der französischen Armee zur „Befreiung“ der afghanischen Frauen und bei der generalisierenden Stigmatisierung der Vororte und der dort lebenden Migrant_innen als diejenigen, die in erster Linie für Sexismus und Homophobie in Frankreich verantwortlich seien. Ein anderer Punkt, der uns von anderen Gruppen unterscheidet, ist unsere Position zu den Kämpfen von Huren. Einige 'Mainstream'-Feminist_innen vertreten eine abolitionistische Position, die dazu führt, dass feministische Huren aus Demos ausgeschlossen werden. Die essentialistischen Feminist_innen erkennen außerdem die Forderungen von Trans nicht an.
FNO: Manchmal sind „wir“ meine Freund_innen und ich, manchmal alle, die auf unserer Seite der Barrikade kämpfen.
La Barbe: Wir sprechen für die Frauen. Die Frauen als eine Kategorie, die der Unterdrückung durch die Männer entsprungen ist, eine Kategorie, die so lange fortbestehen wird wie ihre Unterdrückung und deren Verschwinden wir also anstreben … bis dahin sprechen wir durchaus für die Frauen … mit Bart. 'Wir' sind jene Frauen, die bereit sind, für das 'Volk der Frauen' zu kämpfen und sich zugleich über die Lage der Frauen (la condition féminine) lustig zu machen, so wie über die Attribute der – männlichen – Macht.
Wo wollt ihr die Grenzen des Politischen verschieben? Welche Kämpfe wollt ihr sichtbar machen?
FNO: Ich finde die Debatten über Identitätspolitik spannend.
Les Panthères Roses: Den heterosexuellen Geschmack abschaffen? Dieses Jahr haben wir auf unsere Art an der Debatte zur „nationalen Identität“ teilgenommen, indem wir vor Eric Besson, Minister für „Immigration, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung“, gekotzt haben. Wir haben eine Diskussionsveranstaltung mit Christine Botin (homophobe Katholikin, die seit Jahren wütet) gestört und sie aufgefordert zu schweigen und nicht mehr an unserer Stelle zu sprechen, wir waren bei Existrans dabei, der Demo der Trans und derer, die sie unterstützen. Wir waren zum 8. März auf der Straße, am 1. Mai und am 1. Dezember, dem Welt-Aids-Tag, und bei Sans-Papiers-Demos. Wir gehen oft als Pink Block, was uns als Trans, Lesben und Schwule innerhalb großer Demos der sozialen Bewegungen sichtbar macht, die momentan besonders aktiv gegen die Angriffe auf das Sozialsystem (Renten, Gesundheitssystem, Bildung etc.) sind. Wir wollen es uns auch gut gehen lassen bei diesen Demos, in denen es oft zu viel heterosexistisches Verhalten gibt.
Amargi: Ganz klar ist mir die Frage nicht. Politik beinhaltet für mich jedenfalls den privaten und den öffentlichen, den lokalen und den globalen Bereich, also alles. Daher hat die Politik, die ich mache, keine Grenzen. Ich führe einen kollektiven Kampf auf mehreren Plattformen: Ich solidarisiere und vereinige mich mit denjenigen, die gegen Kapitalismus, Sexismus, Gewalt, Krieg, Heterosexismus sind.
bok o bok: Die Sexualität wird politisch, wenn es in der Gesellschaft einerseits „richtige“ und „geschützte“ Sexualität gibt und andererseits „falsche“, „verbrecherische“, „perverse“ Sexualität. Solange Homo- und Bisexualität nicht „normal“ sind und vom Staat nicht geschützt werden, bleibt das Thema der Sexualität und der Gender-Identität politisch und ein Teil des Kampfes für gleiche Rechte und für den Schutz vor Diskriminierung.
Institut Pelangi Perempuan: Unsere Arbeit orientiert sich an queer-feministischen Ideen und hat das Empowerment junger lesbischer Frauen zum Ziel. Der erste Schritt unserer Politik bestand darin, einen sicheren Raum für junge lesbische Frauen in Jakarta zu gründen, denn nach den geltenden Normen und auf Grund von Kultur und Religion werden Lesben als Sünderinnen stigmatisiert. Diese Bedingungen hindern sie an ihrem Coming Out und daran, über ihre Gefühle und Probleme zu sprechen. Unsere Initiative startete mit einer Mailingliste, die jungen lesbischen Frauen Zugang zu wichtigen Informationen verschaffte, zum Beispiel über ihre sexuellen, sozialen und politischen Rechte sowie über psychologische Unterstützung.
Die grundlegende Annahme für unsere Arbeit lautet, dass junge Lesben aktiv in die Kämpfe um die Rechte sexueller Minderheiten involviert sein können und sollten. Und wir meinen, dass die jungen Leute die Menschen der Zukunft sind und es deshalb sehr wichtig ist, sie zu befähigen, politisch aktiv zu werden. Unser Ansatz ist EduFunTainment (Education, fun and entertainment): Wir organisieren Sport wie zum Beispiel Boxen, Tanzclubs und andere Veranstaltungen. Die Mitglieder des Instituts müssen vorher nicht politische aktiv gewesen sein, daher benutzen wir eine für Jugendliche zugängliche Sprache. Wir meinen, Politik muss cool sein, wenn junge Leute damit etwas anfangen können sollen.
Eine besondere Aktivität ist die lez skul an den Wochenenden. Dabei erfahren junge lesbische Frauen einiges über Feminismus und Gender- und LGBT-Themen. In diesem Zusammenhang arbeiten wir mit der Fakultät Gender und Sexualität der Universität von Indonesien, einigen feministischen Aktivistinnen und verschiedenen Transgender-Gruppen in Jakarta zusammen.
La Barbe: Unser Hauptziel lautet, ganz einfach die Herrschaft der Männer über die Frauen in allen Bereichen des Handelns anzuprangern.
Das zweite Ziel besteht darin, nebenbei einen Teil der politischen, künstlerischen, medialen, finanziellen etc. Macht einzufordern – im Namen eines albernen Gerechtigkeitsprinzip, und weil die Macht so lange klarkommt, wie man sie nicht ergreift.
Das dritte besteht darin, die Geschlechterkategorien und ihren grundlegend repressiven Charakter in Frage zu stellen. Ein paar Haare am Kinn und – hopp! – machst Du die anderen alle? Wenn das so aussieht, dann wollen wir uns gerne Bärte wachsen lassen und Teil des Clubs werden.
Das vierte Ziel besteht darin, über all dies zu lachen, über die Kategorien, über die mächtigen Männer und über die Welten, die sie unter sich erschaffen haben. Die Kategorie 'Mann' sichtbar zu machen mit ihren Clubs und ihrer Kultur des Prestiges etc.
Wir kämpfen für die Frauen, aber die Frauen und ihre Lage sind nicht unser Thema. Wir wollen den feministischen Blick auf die Männer lenken, auf ihre Privilegien, ihre Vorliebe für die Kooptation, ihr Unter-sich-Bleiben, ihre Fähigkeit sich selbst zu gratulieren, ihre Verachtung für den Rest der Welt und ihre Macht, die ihnen entrissen werden muss. Wenn die Menschen sich im Zuge dessen darüber klar werden, dass es Männer – weiße – reiche – gesunde – sind, die ihre Welt lenken, und daraus die Überwindung der entgegengesetzten Kategorien resultiert – um so besser.
f.a.q.: Everything is political!!!!
QueerBeograd: Überall auf der Welt sehen wir, dass meist die Armen, Frauen und ebenso queere Menschen am stärksten von Konflikten und Krisen (der Umwelt, Ressourcen, Bildung...) betroffen sind. Die Kämpfe der Minderheiten, der nicht Gehörten und Unerwünschten sind immer Kämpfe für eine solidarische und einschließende Gesellschaft. Auch wir gehören dazu und unterstützen diese Kämpfe.
Lambda Istanbul: Wir haben ein sehr umfassendes Verständnis der Menschenrechte, wir versuchen alle Menschenrechte zu berücksichtigen und sie nicht unterschiedlich zu gewichten. Was wir in der Politik häufig beobachten können – ich finde das wirklich verstörend –, ist, dass Leute eine Liste erstellen und sich als antirassistisch, antisexistisch, antikapitalistisch und viele andere 'Anti's beschreiben, aber in Wirklichkeit keine Idee davon haben, was all diese 'Anti's bedeuten. Es ist eine Art Dresscode. Wir versuchen, diese Themen wirklich auf unsere Agenda zu setzen, in unserer täglichen politischen Arbeit.
Welche Netzwerke nutzt ihr?
Bok o bok: Wir nutzen lokale und internationale Netzwerke der LGBT-Community, von Menschenrechtsorganisationen und von Filmfestivals.
La Barbe: Feministische, queere, politische Netzwerke sowie diejenigen, die um uns herum durch unsere wiederholten Angriffe auf den gleichen Sektor entstehen. Heute müssen wir uns unsere Ziele nicht mehr selber suchen – die Frauen kommen selbst zu uns, um uns zu bitten, in ihrem Bereich zu intervenieren.
Amargi: Wir haben Kontakt zu organisierten Feministinnen, autonomen Feministinnen, organisierten LGBTT1, autonomen lesbischen Gruppen, Anti-Militarist_innen, pro-feministischen Männern, queeren Gruppen, der kurdischen Frauenbewegung, der Umwelt-Bewegung, Menschenrechtsvertreter_innen, Kriegsdienstverweigerern und ähnlichen Netzwerken.
f.a.q.: Wir verstehen den Infoladen als Ort der Vernetzung. Wir sind hauptsächlich mit queeren, feministischen, antisexistischen Einzelpersonen, Initiativen und Beratungsstellen vernetzt und in Bündnissen organisiert. Darüber hinaus arbeiten wir mit kollektiven und nicht-kommerziellen Gruppen zusammen.
Institut Pelangi Perempuan: Lokal arbeiten wir mit verschiedenen anderen feministischen Gruppen zusammen, außerdem sind wir Teil des Indonesischen Netzwerks junger Feministinnen und des Indonesischen LGBT-Forums. Sie stehen in engem Kontakt mit verschiedenen Menschenrechtsgruppen und feministischen Gruppen in anderen muslimischen Ländern. Institut Pelangi Perempuan ist auch Mitglied in der IGLYO (Internationale LGBTIQ-Jugendorganisation) und der ILGA (Internationale LGBTIQ-Vereinigung), und unser Institutsdirektor sitzt im Gremium der asiatischen Sektion der ILGA.
FNO: Chto Delat, Street University, Blue Spot Amsterdam.
Les Panthères Roses: Feminist_innen, soziale Bewegungen, die Linke der Linken, die anarchistische Bewegung, die UEEH (euro-mediterrane Sommeruni der Homosexualitäten, die jeden Sommer in Marseille stattfindet) – wir arbeiten nicht gerne allein! Wir tun uns oft in Netzwerken oder Kollektiven mit anderen Gruppen zusammen. Momentan sind wir Teil des Netzwerks Égalité des Droits für Rechtsgleichheit von Lesben, Trans und Schwulen, darin organisieren sich etwa 40 Gruppen in Frankreich.
Lambda Istanbul: Wir haben enge Verbindungen zu anderen sozialen Bewegungen. Unsere Mitglieder sind meist auch noch in anderen politischen Gruppen aktiv, in anarchistischen Gruppen, in Frauenkollektiven, in der Umweltbewegung… Andere Gruppen nutzen unser Kulturzentrum für ihre Treffen.
QueerBeograd: Wir arbeiten mit verschiedenen regionalen und internationalen feministischen Netzwerken, LGBT-Netzwerken, antifaschistischen und No-Border-Netzwerken sowie antirassistischen und Künstler-Netzwerken zusammen. Wir sehen Bündnisse und Kooperation als wesentlich für emanzipatorische Arbeit an. Um nicht in unseren Problemen verhaftet zu bleiben, versuchen wir, uns Offenheit für andere Gruppen und Themen zu bewahren.
Was sind eure Hoffnungen? Was wird sich in den nächsten zehn Jahren verändert haben?
Amargi: Ich wünsche mir, dass man sich in den kommenden 10 Jahren in meinem Land dem Frieden noch etwas nähert und sich von Gewalt entfernt, dass die Frauenmorde, Hassmorde abnehmen, dass die Frauen und LGBTT ihre Rechte erlangen. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der ich nicht mehr daran erinnert werde, dass ich Frau-Lesbe-Trans-Kurd_in-behindert etc. bin.
La Barbe: Dass die Bezeichnung 'Feministin' wieder Anlass für Stolz wird, dass es wieder hip wird, Haare an den Beinen zu haben, 'frustrierte Lesbe' zu sein und BHs zu verbrennen, und dass der ganz normale Sexismus zurückgeht, um Platz zu machen für die Lesben, die Schwulen und all die BTI1. Dass Frauen selbstsicher werden und ihre eigenen Ziele verfolgen, dass die Gesellschaft sie respektiert und ihnen Raum lässt. Dass die Männer ihre Privilegien in Frage stellen und dass die Geschlechtsattribute ihren Heiligenstatus verlieren. Dass überall Bewegungen entstehen, die gegen die rechtlichen und faktischen Ungleichheiten protestieren sowie gegen die Geschlechterkategorien, die diese fortbestehen lassen. Dass sich die Zusammensetzung der Institutionen, der sozialen und beruflichen Strukturen massiv verändert und damit für Frauen, für Trans-Menschen, für Persons of Color und für alle, die nicht in die Norm passen, neue Möglichkeiten entstehen, neue Weisen des Seins und des Miteinander-Umgehens.
Lambda Istanbul: Ich denke, wir werden nicht in der Lage sein, Homophobie innerhalb der nächsten zehn oder fünfzehn Jahren zu stoppen. Aber es ist sehr wichtig, sich zusammen zu schließen und sich gegenseitig zu unterstützen.
f.a.q.: Make love - make riots!
QueerBeograd: Das ist eine schwierige Frage. Communities und Netzwerke aufzubauen dauert lange. Gendernormen und -hierarchien zu verschieben – die heterosexuelle Matrix zu verändern – dauert noch länger.
Doch der Diskurs in der serbischen Gesellschaft über queere Menschen und ihre Rechte hat sich deutlich gewandelt, seit wir die Gruppe vor fünf Jahren gegründet haben. Dies zeigt, wie wirkungsvoll Graswurzelarbeit sein kann. Es ist vielversprechend und macht Mut, dass Gruppen oder communities sehr machtvoll sein können, wenn sie ihre radikale Politik und direkten Aktionen (in aller Vielfalt) weiterverfolgen.
Wenn in zehn Jahren queere Kinder auf dem Balkan ohne Angst ihr Coming-out haben können, ohne von der Mehrheit der Bevölkerung als krank angesehen zu werden, dann ist es das wert, dafür zu kämpfen und darauf zu hoffen.
In diesem Jahr findet die erste Pride-Parade in Belgrad seit 2001 statt, ohne dass sie wegen faschistischer Drohungen abgesagt werden muss. Vielleicht können wir 2020 den zehnten Geburtstag feiern.
bok o bok: Unsere Hoffnungen sind, dass Homophobie und Transphobie nachlassen oder gar verschwinden – in Russland und international. Dass Frauen die gleichen Möglichkeiten und Rechte genießen können. Dass Menschen ihre Identitäten frei ausleben können und alle Identitäten akzeptiert werden. Dass in Russland und international der Wert des menschlichen Lebens größer wird. Dass es weniger Gewalt gibt und Menschen es schaffen, sich durch Worte zu verständigen. Dass der Staat der Gesellschaft dient und nicht andersherum.
FNO: Ich hoffe, dass Frauen mehr wie Schwestern zueinander sind. Ich hoffe, dass sie in meinem Land aufhören, schwule und lesbische Menschen umzubringen. Ich hoffe, dass Queers, Migrant_innen, Frauen, Menschen mit Behinderungen und Angestellte, die ihren Job verloren haben, zusammenkommen, um eine Revolution gegen den neoliberalen, postindustriellen, postfordistischen Kapitalismus zu erschaffen. Stoppt die künstliche Entfremdung voneinander!
Institut Pelangi Perempuan: Schwer zu sagen, was sich in zehn Jahren verändern haben wird. Die Situation in Indonesien ändert sich in der letzten Zeit immer sehr schnell. Es hängt davon ab, wie die indonesische Regierung dann aussehen wird. In erster Linie hoffen und kämpfen wir für besseren Schutz von LGBT-Menschen. Wir hoffen auf eine Regierung, die sich klar zum Schutz und zur Legalisierung von Queer- und LGBT-Minderheiten bekennt. Unser Ziel ist ein vielfältiges und pluralistischen Land, das alle Formen der Kriminalisierung und Diskriminierung von LGBT- und anderer Minderheiten in Indonesien verurteilt.
Les Panthères Roses: Wir würden gerne sagen können, dass bis 2020 Gender und männliche Dominanz abgeschafft sind, aber … die panthère attackiert, sie träumt nicht!