Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Geschlechterverhältnisse zwar häufig als 'Querschnittsthema' mitgedacht werden sollten, in der konkreten Auseinandersetzung jedoch allzu oft hinten runter fallen. Deshalb begreifen wir Queerfeminismus als ein Politikfeld mit eigenen Praxen – und diese wollen wir kennenlernen, weiterentwickeln, neu erfinden. Wir stehen damit ganz am Anfang, aber nicht im luftleeren Raum.
Diese Collage ist der Versuch, uns diesen Raum zu erschließen: Mit queeren und feministischen Gruppen aus verschiedenen Teilen der Welt in Kontakt zu treten, um etwas über ihre Kämpfe und politischen Praktiken zu erfahren und diese mit unseren eigenen Kämpfen sowie untereinander zu vernetzen. Dazu haben wir einen Fragebogen an Gruppen in Istanbul, St. Petersburg, Jakarta, Belgrad, Paris und Berlin verschickt und servieren euch an dieser Stelle eine Kostprobe der Antworten. Eine ausführlichere Version und deren englische Übersetzung sind ebenfalls online zugänglich.
Was sind eure Wurzeln? An welche sozialen Kämpfe knüpft ihr an?
Amargi: In meinen Wurzeln gibt es keinen Kampf. In meiner Familie und in meiner Vergangenheit gab es weder eine Opposition noch einen sozialen Kampf. Mit 27 bin ich zum ersten Mal aus eigenem Willen einer feministischen Organisation beigetreten. Ich befinde mich heute immer noch in derselben Organisation, hinterfrage das Patriarchat und versuche, mir meine Freiheit aufzubauen.
Les Panthères Roses: Die Panthères Roses sind 2002 gegründet worden. Le Pen ist damals in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gelangt. Eine neue Rechte tauchte auf, die uns bis heute regiert – hart, mit Sicherheitspolitik und Populismus auf dem Programm und sehr offensiv gegen persönliche Freiheiten und soziale Errungenschaften agierend. Zu diesem Zeitpunkt sahen wir die Notwendigkeit, eine Gruppe zu gründen, die sich an der Schnittstelle von LGBT1-Bewegung und sozialen Bewegungen befindet. Auch wenn wir keine Wurzeln einfordern (Wurzeln hören sich ein bisschen zu biologistisch und monokausal an): Wir kommen nicht von nirgendwo her, unsere Aktionen schreiben sich in die Kämpfe von LGBT ein, wir beziehen uns auf radikalen Lesbianismus (Monique Wittig), feministischen Materialismus, Antirassismus und Antikapitalismus.
La Barbe: Wir berufen uns auf ein dreifaches Erbe: feministisch, lesbisch und künstlerisch. Wir verorten uns in der Mitte des Schießplatzes, auf dem sich mitunter die 'klassischen' Feministinnen des Collectif National pour les Droits des Femmes und Gruppen aus der Queer-Bewegung gegenüber stehen.
bok o bok: Wir knüpfen an den Kampf für die Anerkennung der Unantastbarkeit des Menschen an: Der Staat darf nicht das Private reglementieren, dem Menschen diktieren, was er machen darf und soll und was nicht, solange sein Handeln die Rechte der anderen nicht verletzt.
Lambda Istanbul: Bei Lambda definieren wir uns als Feminist_innen und Antimilitarist_innen. Die LGBT-Bewegung und die feministische Bewegung hatten von Anfang an sehr nahe Verbindungen. Im Sinne des Antimilitarismus ist Lambda in engem Kontakt mit dem Conscientious Objection Movement (Bewegung von Kriegsdienstverweigerern): Wir haben selbst ein sehr aktives Mitglied, das Kriegsdienstverweigerer war und schwul ist. Er war ein Jahr im Knast und wurde gefoltert. Außerdem definiert sich Lambda als gewaltlose Gruppe, das bedeutet Gewaltlosigkeit in der Praxis. Wir unterstützen zum Beispiel die kurdische Bewegung, aber nicht die Guerilla. Die kurdische Bewegung ist die einzige – wie auch die kurdische Partei im Parlament die einzige Partei ist –, die die Politik und Positionen der LGBT unterstützt.
f.a.q.: Wir knüpfen an einige (nicht-differenz-)feministische, queere, anti-sexistische, anti-rassistische, post-koloniale, anti-kapitalistische Kämpfe an
Unter welchen strukturellen Bedingungen arbeitet ihr? Und wie haben sich Neoliberalismus und die globalen Krisen auf diese ausgewirkt?
Institut Pelangi Perempuan: Die Bedingungen, unter denen wir arbeiten, sind aktuell von den aufstrebenden islamisch-fundamentalistischen Bewegungen in Indonesien beeinflusst, wobei es diesbezüglich starke regionale Unterschiede gibt. Seit einiger Zeit gibt es immer wieder offene Aggressionen und Angriffe auf LGBT-Gruppen, zum Beispiel auf einer Konferenz im Frühjahr 2010. Diese Vorfälle haben uns und unsere Arbeit sehr beeinflusst, weil wir uns nicht mehr sicher fühlen. Homosexualität gilt als sexuelle Störung und wird in vielen Regionen Indonesiens zunehmend kriminalisiert – und nicht nur von islamistischen Organisationen. Auch die indonesische Regierung erkennt queere Lebensformen und LGBT-Gruppen nicht offiziell an und diskriminiert diese in der Gesetzgebung. Im Jahr 2008 hat die indonesische Regierung ein Anti-Pornografie-Gesetz verabschiedet, das unter anderem die strafrechtliche Verfolgung jeglicher Veröffentlichungen zu queeren Themen und Homosexualität vorsieht.
Les Panthères Roses: Die Panthères Roses sind ein eingetragener Verein, dadurch können wir Demonstrationen anmelden. Wir versuchen, so horizontal wie möglich zu funktionieren, wir haben keine Vorsitzende oder keinen Vorstand, sondern entscheiden kollektiv in unseren öffentlichen wöchentlich stattfindenden Vollversammlungen. Wir sind unabhängig und erhalten keine Subventionen, wir beschaffen uns selbst die Kohle, die wir brauchen, indem wir Sticker oder T-Shirts verkaufen oder Soli-Events organisieren.
Was die Effekte des Neoliberalismus betrifft: Viele von uns müssen immer mehr arbeiten und verdienen immer weniger, die Mieten sind völlig überteuert, es ist schwierig, die Zeit und den Willen für politischen Aktivismus zu finden. Der Kontext ist ein französischer Neoliberalismus, der von einer ziemlich extremen Rechten geführt wird, die uns ihre politische Agenda vorschreibt. In Paris sind wir nicht viele, die organisiert sind, und es gibt sehr wenige selbstbestimmte Orte. Homophobie, Lesbophobie und Transphobie sind ausgeprägt (momentan sind die Katholiken besonders aggressiv).
QueerBeograd: Die Mehrheit der serbischen Bevölkerung lebt in ökonomisch prekären Verhältnissen, so wie auch die meisten unserer Gruppenmitglieder. Dieser Umstand ist wichtig, weil er sich darauf auswirkt, wer es sich überhaupt leisten kann, politisch aktiv zu sein. Das ist eine andauernde Diskussion. Aus einer feministischen Perspektive versuchen wir, Bedingungen zu schaffen, in denen Personen für ihre Arbeit bezahlt werden, und durch finanzielle Unterstützung (Reisekosten, Unterkunft) der Teilnehmer_innen unserer Festivals dem Ausschluss aufgrund ökonomischer Verhältnisse entgegenzuwirken.
Wie benutzt ihr das 'Wir', wenn ihr sprecht? Für wen sprecht ihr?
Lambda Istanbul: Identitätspolitik ist ein komplexes Feld. Ich bin gegen jegliche Viktimisierung von Identität: Beispielsweise werden wir oft von Leuten aus so genannten westlichen Ländern gefragt, wie es ist, in einem muslimischen Land schwul zu sein. Ich frage dann zurück: „Hm, wie ist es denn, in einem katholischen Land schwul zu sein?“ Versuche, unsere Identität zu viktimisieren und die Hierarchie zwischen 'westlichen' und muslimischen Ländern zu stabilisieren, ist eine koloniale Verhaltensweise. Aber manchmal kann Identität sehr wichtig sein, besonders wenn jemand dir erzählt, dass deine Identität gar nicht existiert oder krank ist oder etwas anderes. Da gehe ich natürlich hin und sage „ich bin trans“, und ich stehe zu dieser Identität. Gleichzeitig sagen wir „wir sind kurdisch“, „wir sind armenisch“. Viele kurdische LGBT-Menschen geben ihre LGBT-Identität auf, weil sie für ihre kurdische Identität kämpfen. Ein anderes Beispiel ist die häusliche Gewalt, die viele kurdische Frauen zu Hause erleben. Sie sprechen nicht darüber – sie betrachten sie nicht als Gewalt angesichts der Gewalt, die sie durch den türkischen Staat erfahren. Es ist für sie wichtiger, für die kurdische Unabhängigkeit zu kämpfen und für ihre Rechte als kurdische Menschen. Daher kann es, wenn Identitäten nicht gesehen oder ignoriert werden, wichtig sein, Identitäten sichtbar zu machen und zu verteidigen. Aber es ist sehr wichtig, gleichzeitig keine anderen Identitäten auszuschließen.
QueerBeograd: Es gibt eine queere Theoretiker_in in Sydney, Linnell Secomb, die 'queer' folgendermaßen definiert: Queer ist keine Identitätskategorie, sondern das kontinuierliche Stören jeglicher Form von Normativität“. In diesem Sinne schließt unser 'Wir' nicht nur LGBTIQ1 ein, sondern alle Menschen, die die hegemonialen Strukturen unserer Gesellschaft sowie die auf Hierarchien basierenden Kategorisierungen und Diskriminierung von Minderheiten in Frage stellen.
f.a.q.: Wir benutzen das 'Wir' nur für uns als Orga-Gruppe des Infoladens. Ein kategoriales 'Wir' zu konstruieren finden wir problematisch, weil dadurch manche Menschen, ohne gefragt zu werden, in ein kollektives 'Wir' (wie beispielsweise 'Wir Frauen') eingeschlossen werden, andere wiederum daraus ausgeschlossen werden. Ein paternalistisches Sprechen für andere lehnen wir ab, jedoch zielen unsere Forderungen selbstverständlich auf die Veränderung gesamtgesellschaftlicher Zustände. Dabei versuchen wir, undogmatisch und reflektiert zu bleiben.
Les Panthères Roses: Wir sind eine nicht-gemischte Lesben-, Trans- und Schwulen-Gruppe und wir wollen nicht „im Namen von … sprechen“. Wir gehen von unseren Identitäten als Lesben, Trans und Schwule aus, aber nicht nur. Wir fühlen uns nicht berufen, alle LGBT zu repräsentieren. Wir sind mit einem Teil der LGBT-Community und feministischen Gruppen in Frankreich uneins, und unsere Positionen sind in diesen Zusammenhängen Minderheitenpositionen. Wir wenden uns gegen eine Instrumentalisierung des Feminismus für rassistische Ziele. Das hat sich bei den Debatten um die Gesetze zum Kopftuch und zur Burka gezeigt, bei der Diskussion über die Intervention der französischen Armee zur „Befreiung“ der afghanischen Frauen und bei der generalisierenden Stigmatisierung der Vororte und der dort lebenden Migrant_innen als diejenigen, die in erster Linie für Sexismus und Homophobie in Frankreich verantwortlich seien. Ein anderer Punkt, der uns von anderen Gruppen unterscheidet, ist unsere Position zu den Kämpfen von Huren. Einige 'Mainstream'-Feminist_innen vertreten eine abolitionistische Position, die dazu führt, dass feministische Huren aus Demos ausgeschlossen werden. Die essentialistischen Feminist_innen erkennen außerdem die Forderungen von Trans nicht an.
La Barbe: Wir sprechen für die Frauen. Die Frauen als eine Kategorie, die der Unterdrückung durch die Männer entsprungen ist, eine Kategorie, die so lange fortbestehen wird wie ihre Unterdrückung und deren Verschwinden wir also anstreben … bis dahin sprechen wir durchaus für die Frauen … mit Bart.
Wo wollt ihr die Grenzen des Politischen verschieben? Welche Kämpfe wollt ihr sichtbar machen?
Les Panthères Roses: Den heterosexuellen Geschmack abschaffen? Dieses Jahr haben wir auf unsere Art an der Debatte zur „nationalen Identität“ teilgenommen, indem wir vor Eric Besson, Minister für „Immigration, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung“, gekotzt haben. Wir haben eine Diskussionsveranstaltung mit Christine Botin (homophobe Katholikin, die seit Jahren wütet) gestört und sie aufgefordert zu schweigen und nicht mehr an unserer Stelle zu sprechen, wir waren bei Existrans dabei, der Demo der Trans und derer, die sie unterstützen. Wir waren zum 8. März auf der Straße, am 1. Mai und am 1. Dezember, dem Welt-Aids-Tag, und bei Sans-Papiers-Demos. Wir gehen oft als Pink Block, was uns als Trans, Lesben und Schwule innerhalb großer Demos der sozialen Bewegungen sichtbar macht, die momentan besonders aktiv gegen die Angriffe auf das Sozialsystem (Renten, Gesundheitssystem, Bildung etc.) sind. Wir wollen es uns auch gut gehen lassen bei diesen Demos, in denen es oft zu viel heterosexistisches Verhalten gibt.
La Barbe: Wir wollen den feministischen Blick auf die Männer lenken, auf ihre Privilegien, ihre Vorliebe für die Kooptation, ihr Unter-sich-Bleiben, ihre Fähigkeit sich selbst zu gratulieren, ihre Verachtung für den Rest der Welt und ihre Macht, die ihnen entrissen werden muss.
bok o bok: Die Sexualität wird politisch, wenn es in der Gesellschaft „richtige“ und „geschützte“ Sexualität gibt und „falsche“, „verbrecherische“ „perverse“ Sexualität. Solange Homo- und Bisexualität nicht „normal“ sind und vom Staat nicht geschützt werden, bleibt das Thema der Sexualität und der Gender-Identität politisch und ein Teil des Kampfes für die gleichen Rechte und den Schutz vor Diskriminierung.
Institut Pelangi Perempuan: Der erste Schritt unserer Politik bestand darin, einen sicheren Raum für junge lesbische Frauen in Jakarta zu gründen, denn nach den geltenden Normen und auf Grund von Kultur und Religion werden Lesben als Sünderinnen stigmatisiert. Diese Bedingungen hindern sie an ihrem coming out und daran, ihre Gefühle und Probleme zu teilen. Unserer Initiative startete mit einer Mailingliste, die jungen lesbischen Frauen Zugang zu wichtigen Informationen verschaffte wie über reproduktive und politische Rechte sowie über psychologische Unterstützung. Die grundlegende Annahme für unsere Arbeit lautet, dass junge Lesben aktiv in die Kämpfe um die Rechte sexueller Minderheiten involviert sein können und sollten. Unser Ansatz ist EduFunTainment (Education, fun and entertainment): Sport wie zum Beispiel Boxen, Tanzclubs und andere Veranstaltungen organisieren.
Was sind eure Hoffnungen? Was wird sich in den nächsten zehn Jahren verändert haben?
Lambda Istanbul: Ich denke, wir werden nicht in der Lage sein, Homophobie innerhalb der nächsten 10 oder 15 Jahre zu stoppen. Aber es ist sehr wichtig, sich zusammen zu schließen und sich gegenseitig zu unterstützen.
Amargi: Ich wünsche mir, dass man sich in den kommenden 10 Jahren in meinem Land dem Frieden noch etwas nähert und sich von Gewalt entfernt, dass die Frauenmorde, Hassmorde abnehmen, dass die Frauen und LGBTT1 ihre Rechte erlangen. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der ich nicht mehr daran erinnert werde, dass ich Frau-Lesbe-Trans-Kurd_in-behindert etc. bin.
La Barbe: Dass die Bezeichnung 'Feministin' wieder Anlass für Stolz wird, dass es wieder hip wird, Haare an den Beinen zu haben, 'frustrierte Lesbe' zu sein und BHs zu verbrennen, und dass der ganz normale Sexismus zurückgeht, um Platz zu machen für die Lesben, die Schwulen und all die BTI1. Dass Frauen selbstsicher werden und ihre eigenen Ziele verfolgen, dass die Gesellschaft sie respektiert und ihnen Raum lässt. Dass die Männer ihre Privilegien in Frage stellen und dass die Geschlechtsattribute ihren Heiligenstatus verlieren. Dass überall Bewegungen entstehen, die gegen die rechtlichen und faktischen Ungleichheiten protestieren sowie gegen die Geschlechterkategorien, die diese fortbestehen lassen. Dass sich die Zusammensetzung der Institutionen, der sozialen und beruflichen Strukturen massiv verändert und damit für Frauen, für Trans-Menschen, für Persons of Color und für alle, die nicht in die Norm passen, neue Möglichkeiten entstehen, neue Weisen des Seins und des Miteinander-Umgehens.
QueerBeograd: Der Diskurs in der serbischen Gesellschaft über queere Menschen und ihre Rechte hat sich deutlich gewandelt, seitdem wir die Gruppe vor fünf Jahren gegründet haben. Dies zeigt, wie wirkungsvoll Graswurzelarbeit sein kann. Es ist vielversprechend und macht Mut, dass Gruppen oder communities sehr machtvoll sein können, wenn sie ihre radikale Politik und direkten Aktionen (in aller Vielfalt) weiterverfolgen.
Les Panthères Roses: Wir würden gerne sagen können, dass bis 2020 Gender und männliche Dominanz abgeschafft sind, aber … die panthère attackiert, sie träumt nicht!