arranca!: Ein autoritäres Russland greift eine überwiegend demokratische Ukraine an. Die EU und die NATO unterstützen die Ukraine mit Waffen und belegen Russland mit Sanktionen. Nicht alles, aber einiges in diesem Krieg und seinen Stellvertreterkonstellationen erinnert an Syrien, wo Russland an der Seite Assads den brutalen Krieg und den brutalen Machthaber unterstützt hat. Was kommt euch bekannt vor? Was unterscheidet sich?

Müslüm: Tatsächlich könnten einige Parallelen gezogen werden. Nachdem im Zuge des Arabischen Frühlings in Nordafrika und im Mittleren Osten die Menschen für mehr Freiheiten, Selbstbestimmung und Demokratie auf die Straßen gingen, haben sich ab einem bestimmten Stadium auch die globalen Mächte in die sich abzeichnenden Veränderungsprozesse eingeschaltet. Ihnen ging es allerdings nicht um Freiheit oder Demokratie, sie verfolgten knallharte Interessenspolitiken, indem sie entweder alte Herrscher stützten oder neue Machthaber an die Spitze der Staaten befördern wollten. In Syrien hat sich anfangs interessanterweise ein gegenteiliges Bild zur jetzigen Situation in der Ukraine ergeben. Die westlichen Akteure, aber auch die Türkei und die arabischen Golfstaaten, hatten ein Interesse das Assad-Regime zu stürzen. Sie haben dazu beigetragen, dass aus den gesellschaftlichen Protesten schnell bewaffnete Kämpfe wurden. Die Freie Syrische Armee und eine vermeintlich syrische Opposition, die von der Türkei hofiert wurde, waren die Folgen. Russland hingegen hatte kein Interesse daran, dass in Syrien eine neue pro-westlich ausgerichtete Regierung an die Macht kommt und setzte alles daran, das Baath-Regime zu stützen. Im Ergebnis ist es Russland, aber auch dem Iran, gelungen, die Machthaber in Damaskus auf den Beinen zu halten, während die westlich unterstützte Opposition zunehmend zersplittert ist und von islamistischen Strukturen gekarpert wurde. Eine Entwicklung, die allerdings keiner der Akteure auf dem Schirm hatte, war die Revolution von Rojava, die von Beginn an einen dritten Weg propagierte, sich also weder auf die Seite des Regimeblocks noch auf die Seite der vermeintlichen Opposition stellte.

«Eine Entwicklung, die allerdings keiner der Akteure auf dem Schirm hatte, war die Revolution von Rojava, die von Beginn an einen dritten Weg propagierte, sich also weder auf die Seite des Regimeblocks noch auf die Seite der vermeintlichen Opposition stellte.»

Fabian: Der letzte Punkt, der gerade in Form des ‹dritten Weges› angeschnitten wurde, ist aber auch der entscheidende Unterschied zu der Situation, die wir gerade in der Ukraine vorfinden können. Denn in Syrien gab es bereits in den Jahrzehnten zuvor gesellschaftliche Strömungen und progressive Positionen, die sich auf der Suche nach alternativen Gesellschaftsmodellen unabhängig von den regionalen und imperialen Staaten entwickelten. Der arabische Frühling an sich war das Ergebnis jahrzehntelanger sozialer Auseinandersetzung und trug damals nach außen, was in den in Syrien lebenden Gesellschaften bereits seit langem brodelte. Dies ermöglichte von vorne herein ein viel breiteres Handlungsfeld hin zu einer positiven Entwicklung, die schließlich auch zur Revolution in Rojava führte.

Innerhalb der Linken in Deutschland herrscht einige Verwirrung über antiimperialistische Positionen, die lange als gesetzt gelten konnten. Immer gegen die USA als Hauptimperialisten, ist eine davon. Immer gegen die eigene herrschende Klasse, eine zweite. Irgendwie scheint das in der multipolaren Welt nicht mehr aufzugehen. Joe Biden postuliert die globale Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie. Ist der Westen jetzt gut? Wie ist die Debatte innerhalb der kurdischen Linken? Wie positioniert ihr euch in der multipolaren Weltordnung?

Müslüm: Gerade in der multipolaren Welt ist es für die kurdische Freiheitsbewegung wichtig, eine klare eigene Agenda zu setzen. Es geht also nicht darum, zu schauen, ob der Westen jetzt gut ist oder nicht. Im Fokus steht zunächst, was für die eigene Gesellschaft und die Menschen in der Region gut ist. Die kurdische Bewegung hat ein Projekt entwickelt, von dem sie glaubt, dass sie damit Lösungen auf die gesellschaftlichen Krisen der Region finden kann. Sie setzt auf den Aufbau einer basisdemokratischen und antistaatlichen Gesellschaftsordnung. Sofern Klarheit über die eigene Haltung besteht, stellt es auch kein Problem dar, mit den ‹großen› Akteuren am Tisch zu sitzen, Verhandlungen zu führen oder bei punktuellen Interessensüberschneidungen auch Mal gemeinsam zu arbeiten.

Dieser Ansatz der kurdischen Freiheitsbewegung ist gewissermaßen auch als Lehre aus den Kämpfen zu verstehen, die verschiedenste kurdische Akteure in den letzten 100 Jahren geführt haben. Die meisten dieser Kämpfe setzten in der ehemals bipolaren Weltordnung auf die Unterstützung einer Großmacht. Diese einseitige Abhängigkeit führte letztlich oftmals auch dazu, dass Aufstände, die zum Teil über eine starke gesellschaftliche Verankerung verfügten, daran scheiterten, dass die Großmächte aufgrund von Interessensverschiebungen ihre Unterstützung für die Kurd*innen einstellten. Eine Lehre, welche die jetzige kurdische Freiheitsbewegung daraus gezogen hat, ist, dass sie erstens klar ihre eigene Zielsetzung benennt und zweitens ihre Kraft aus der eigenen Gesellschaft bezieht.

Wie habt ihr als kurdische Linke eure antiimperialistischen Grundsätze und eure praktischen Entscheidungen diskutiert? Welche Positionen gab es dabei? Welche Risiken wurden diskutiert? Welche Kompromisse gemacht?

Fabian: Eine Besonderheit der kurdischen Freiheitsbewegung ist, dass sie viel Wert auf Reflexion und Selbstreflexion setzt. Der Kampf, die Errungenschaften, aber auch die Probleme innerhalb der Bewegung werden einer schonungslosen Kritik und Selbstkritik ausgesetzt. Ähnlich (selbst-)kritisch ist die Bewegung und insbesondere Abdullah Öcalan als ihr Vorsitzender mit der Entwicklung des real existierenden Sozialismus umgegangen. Gerade nach dem Zusammenbruch des bipolaren Weltsystems hat sich die kurdische Freiheitsbewegung auch erneut grundlegende Fragen gestellt: Was bedeutet Sozialismus? Welche Rolle kommt der Demokratie im Sozialismus zu? Und wie ist die Rolle der Staatlichkeit und der Macht darin zu werten? Die Antworten, welche die kurdische Freiheitsbewegung darauf gefunden hat, waren sicherlich nicht für alle leicht zu verkraften.

Der absolute Großteil der kurdischen Freiheitsbewegung verabschiedete sich von der Zielsetzung eines eigenen kurdischen Nationalstaates und nahm sich die neuen Grundsätze von Frauenbefreiung, Basisdemokratie und Sozialer Ökologie vor. Dies stellte einen langen Prozess dar, der bereits in den 1990er Jahren begann und dessen momentane Vollendung die Formulierung der Verteidigungsschriften Abdullah Öcalans in den frühen 2000er Jahren darstellte. Als ein Ergebnis davon spaltete sich der Teil an Menschen aus der kurdischen Freiheitsbewegung ab, der weiterhin auf einen eigenen Staat setzte. Das stellte einen Prozess dar, der sich ins besondere zwischen der Entführung Öcalans 1999 bis zum Irak-Krieg 2003 hinzog. Mit dem Einmarsch der Amerikaner*innen im Irak, war für die am Staat festhaltenden Kräfte der Weg geebnet, sich den kontroversen Diskussionen zu entziehen und den staatlichen Weg, angegliedert an die USA, einzuschlagen.

Die Kräfte die damals diesen Weg eingeschlagen haben, deklarierten mit dem Ende des bipolaren Weltsystems den Kampf für den Sozialismus im Allgemeinen als einen verlorenen und gliederten sich in das Kräftezerren der Regionalmächte ein. Das Ergebnis davon sieht man heute in der Kurdischen Autonomieverwaltung im Nordirak. Dort wurde ein Gebiet unter staatlicher Herrschaft einer kurdischen Elite geschaffen, das heute ökonomisch und politisch abhängig von der Türkei und den NATO-Mächten ist.

In die jetzige Kriegssituation in der Ukraine übersetzt: Wie kann die Linke ihren (sinnvollen) Grundsätzen treu bleiben (z.B. Selbstbestimmungsrecht, Antiimperialismus, Demokratie, emanzipative Politik), ohne mit ihrer Positionierung in das Fahrwasser dubioser Allianzen und Verwicklungen zu geraten (NATO, Putin-Russland, Asov, ukrainischer Nationalismus etc.)? Welche Suchbewegungen, Strategien und Instrumente würdet ihr vorschlagen?

Müslüm: Etwas, das wir aus unserer Perspektive an linken Kräften kritisieren, ist, dass zu häufig auf ein vereinfachtes Schwarz-Weiß-Bild zurückgegriffen wird. Also entweder ist die NATO der Aggressor und Russland ist im Recht oder Russland agiert imperialistisch und deshalb muss die NATO der Ukraine zur Seite stehen. Das sind beides Positionen, die sich auf die Herrschenden stützen. Für die kurdische Bewegung ist es essentiell, sich die Situation der Gesellschaft vor Augen zu führen und anhand dessen Analysen zu fällen. So ist aktuell in diesem Krieg die ukrainische Zivilbevölkerung am schlimmsten betroffen. Ihnen gebührt unsere Solidarität, wir alle müssen uns fragen, wie wir ihr Leid mindern können und ihren Widerstand unterstützen können. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns unkritisch hinter alles stellen müssen, was vermeintlich im Namen der ukrainischen Bevölkerung passiert. Es wäre beispielsweise verkürzt, den sich verstärkenden ukrainischen Nationalismus blindlings zu feiern, nur weil er im Moment einen Kampf gegen eine imperiale Macht führt. Ein Extrembeispiel hierfür wäre das Asov-Regiment.

«Es ist wichtig, dass wir bei unserer eigenen Einschätzung stets die Stimmen und Meinungen der gesellschaftlichen und demokratischen Kräfte in der Ukraine, aber auch in Russland vor Augen haben. Sie sind im Gegensatz zu uns in diesem Konflikt direkt involviert. Somit können auch nur sie eine Lösungsperspektive schaffen, die alle gesellschaftlichen Ebenen, welche wir hier häufig gar nicht greifen können, mitdenkt.»

Fabian: Wenn wir uns mit der aktuellen Situation in der Ukraine beschäftigen, müssen wir meiner Meinung nach auf zwei Punkte Acht geben: Zum Einen sollten wir unsere Analysen nicht auf der Grundlage tagespolitischer Entwicklungen machen. Es ist essentiell, die Konfliktlinien und die unterschiedlichen Interessen in der Region im historischen Zusammenhang zu analysieren. Viele bilden sich gegenwärtig emotionalisiert auf Grundlage der Bilder, die wir abends in Nachrichten oder auf Social Media zu sehen bekommen, politische Meinungen, die wenig hilfreich für eine Lösung der aktuellen Krise sind. In der kurdischen Bewegung nimmt deshalb die historische Analyse von Konflikten eine wichtige Rolle ein. Zum Anderen ist es wichtig, dass wir bei unserer eigenen Einschätzung stets die Stimmen und Meinungen der gesellschaftlichen und demokratischen Kräfte in der Ukraine, aber auch in Russland vor Augen haben. Sie sind im Gegensatz zu uns in diesem Konflikt direkt involviert. Somit können auch nur sie eine Lösungsperspektive schaffen, die alle gesellschaftlichen Ebenen, welche wir hier häufig gar nicht greifen können, mitdenkt.

Inwieweit könnten die Erfahrungen der kurdisch-arabischen multiethnischen Selbstverwaltung und die politische Strategie jenseits des Ziels eines Nationalstaates eine Perspektive für eine Ukraine jenseits des imperialistischen Konflikts darstellen, der die Ukraine über die Orangene Revolution 2004, den Maidan 2013, den Krieg 2014 und nun 2022 zunehmend zu zerreißen droht?

Fabian: An dieser Stelle könnte es sinnvoller sein, statt auf die Situation in Syrien, auf die Erfahrungen in Nordkurdistan (Türkei) zu schauen. Denn die Autonome Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien konnte nur geschaffen werden, weil gesellschaftliche Kräfte da waren, die sich in den Jahren zuvor geformt und weitergebildet haben. Ihnen gelang es, das im arabischen Frühling entstandene Machtvakuum durch die Selbstverwaltung zu füllen.

Der Aufbau von selbstverwalteten Strukturen in Nordkurdistan (Türkei) jedoch gestaltet sich wesentlich anders und ist besser mit der aktuellen Situation in der Ukraine vergleichbar. Nordkurdistan befindet sich auf türkischem Staatsgebiet und wird von einem immens repressiven Regime beherrscht. Die Selbstverwaltungsstrukturen entstehen jeweils an den Stellen, an denen der Staat der Gesellschaft keine Antwort bieten kann. So entstehen langsam vom Staat unabhängige Gesellschaftszentren, Frauenhäuser, Bildungsorte u.v.m. Wenn auch sie keine Lösungen bieten können, werden sie von der Gesellschaft zurück gebaut und neue Alternativen gesucht. So gestaltet sich in Nordkurdistan ein Widerstand, der versucht, Stück für Stück den Staat in dem Gebiet überflüssig zu machen. Gleichzeitig wird durch die Form der Organisierung, die auf den oben benannten Werten von Frauenbefreiung, Basisdemokratie und Sozialer Ökologie basiert, vielen Problemen vorgebeugt. Faschistischen Kräften, die vereinfachte Lösungen präsentieren, wird somit das Wasser abgegraben. Parallel zum Aufbau der lokalen Selbstverwaltungsstrukturen verfolgt die kurdische Bewegung in Nordkurdistan eine zweite Strategie: Sie sucht das Bündnis mit verschiedenen ethnischen Gruppen und Religionsgemeinschaften, mit linken und sozialistischen Kräften, mit feministischen und ökologischen Bewegungen. In Form der Demokratischen Partei der Völker (HDP) hat die kurdische Bewegung eine Dachpartei für verschiedensten antisystemische Kräfte geschaffen, die alle ein gemeinsames Interesse an mehr Freiheit, mehr Demokratie und mehr Gleichberechtigung haben. Während die lokalen Selbstverwaltungsstrukturen den Nationalstaat durch ihre Selbstorganisierung zurückdrängen, versucht die HDP durch die Unterstützung ihrer Wähler*innen den Staat von oben zu transformieren und zu demokratisieren. Eine solche Transformation hätte auch zur Folge, dass die lokalen Selbstverwaltungsstrukturen mehr Raum und mehr Freiheiten, also mehr Schutz vor dem Eingreifen des Nationalstaates hätten.

Müslüm: Wir sind uns bewusst, dass unser Beispiel vom Kampf in Nordkurdistan keine direkte Lösung für die akute Kriegssituation in der Ukraine darstellt, obendrein hat es ja trotz jahrelangen Kampfes auch in der Türkei und in Nordkurdistan noch keinen abschließenden Erfolg gegeben. Auch befindet sich dieser Kampf selbst noch in einem Transformationsprozess. Aber es handelt sich um eine Strategie, die langfristig darauf abzielt, den Nationalstaat mit all seinen negativen Begleiterscheinungen zu überwinden und eine Demokratie aufzubauen. Diese von der kurdischen Freiheitsbewegung formulierte Perspektive ist aus der nationalstaatlichen Krise des Mittleren Ostens heraus entstanden. Sie kann aber global gedacht werden. Die Besonderheit dieser Perspektive ist, dass sie von progressiven Kräften weltweit angeeignet und auf die konkret eigene gesellschaftliche Situation angewandt werden kann. Durch die Zurückdrängung des Nationalstaates aus der politischen und sozialen Sphäre, wird es der Gesellschaft ermöglicht, diesen Raum für sich anzueignen und Lösungen für die eigenen alltäglichen Probleme zu finden. In diesem Rahmen lässt sich aus unserem Blickwinkel lediglich die Empfehlung an alle progressiven gesellschaftlichen Kräfte in der Ukraine aussprechen, sich auf die Suche nach einem demokratischen Potential zu begeben, einheitliche Plattformen zu schaffen, die Menschen der verschiedenen politischen/ethnischen/religiösen Bereiche mit einbeziehen, statt vereinzelte Kämpfe gegen die faschistischen, nationalistischen und imperialen Kräfte zu führen. Unserer Meinung nach kann erst dieses Zusammenkommen eine Kraft aufbringen, der es möglich ist, Alternativen zu schaffen, statt in einer alleinigen Verteidigungsposition zu verharren.

«Die Erfahrung in Kurdistan zeigt uns, dass es nur dann zu einem nachhaltigen Frieden kommen kann, wenn die Gesellschaft selbst zu einer Kraft wird und dabei die Grenzen der Nationen verlässt.»

Diese Empfehlung auszusprechen, während in der Region gerade ein heißer Krieg herrscht, mag irrsinnig klingen. Jedoch hat die Erfahrung in Kurdistan, mit einer Geschichte des Krieges, von Massakern und Verfolgung, gezeigt, dass der Moment des Friedens und der ruhige Moment, indem man als Gesellschaft zusammenkommen kann, um an Alternativen zu arbeiten, nicht kommen wird, wenn man auf eine staatliche Lösung oder auf eine Beendigung eines Krieges durch Waffen hofft. Die Erfahrung in Kurdistan zeigt uns, dass es nur dann zu einem nachhaltigen Frieden kommen kann, wenn die Gesellschaft selbst zu einer Kraft wird und dabei die Grenzen der Nationen verlässt.