«Die gegenwärtig vorherrschende Ontologie bestreitet die Möglichkeit, dass mentale Krankheiten soziale Ursachen haben. Die chemisch-biologisierte mentale Krankheit geht einher mit ihrer Depolitisierung. Mentale Krankheit als chemisch-biologisiertes Problem aufzufassen, hat enorme Vorteile für den Kapitalismus. Erstens stärkt es den Drang des Kapitals hin zu atomisierter Individualisierung (du bist krank wegen der chemischen Zusammensetzung deines Gehirns) und zweitens bietet es einen äußerst lukrativen Markt, in dem multinationale Pharmaunternehmen mit ihren Medikamenten hausieren gehen.

Ohne Frage sind mentale Krankheiten neurologisch feststellbar, das sagt jedoch nichts über deren Ursachen aus. Wenn zum Beispiel angenommen wird, dass Depression durch niedrige Serotoninlevel bedingt ist, muss immer noch erklärt werden, warum bestimmte Individuen niedrige Level von Serotonin haben. Das verlangt nach einer sozialen und politischen Erklärung; die Repolitisierung von mentaler Krankheit ist eine dringende Aufgabe für die Linke, wenn sie den Kapitalistischen Realismus herausfordern will.»

Mark Fisher
Kapitalistischer Realismus (2009)

arranca!: ¿Wo fange ich an? Ich trauere um meine Freunde, die krank und müde sind. Ärzt*innen mögen heute schneller eine mentale Krankheit diagnostizieren als früher. Dennoch bleibt die Frage: Woher wissen wir, was eine Krankheit ist und was nur eine Reaktion auf die uns umgebende Welt in der wir leben?

Ahmed S.: Ich bin sicher, dass moderner Kapitalismus seinen Teil dazu beiträgt, Menschen dahin zu treiben, was dann als sogenannte mentale Krankheit aufgefasst wird, während er gleichzeitig ausschließlich den Privilegierteren Behandlung anbietet. Wie viel Sinn macht es außerdem, jemanden mit einem mentalen Problem in die gleiche Gesellschaft zurückzuschicken, die das Problem ausgelöst hat? Der ägyptische Kontext illustriert das im Extremen: In Kairo gibt es eine wichtige Gesundheitsinstitution, das Nadeem Center. Dies wurde von fünf Psychiaterinnen gegründet, die sich darauf fokussieren wollten, Opfern von Folter und Gewalt – meist Staatsgewalt – zu helfen. Sie behandeln Patient*innen, die gefoltert und mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert wurden, nur damit sie im Anschluss erneut entführt und gefoltert wurden.

«Wie viel Sinn macht es außerdem, jemanden mit einem mentalen Problem in die gleiche Gesellschaft zurückzuschicken, die das Problem ausgelöst hat?»

Die meisten von uns leben nicht wirklich mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung, weil wir keine Chance hatten, das Trauma zu überwinden. Wir leben in dem Zustand eines konstanten, fortwährenden Traumas. Auch ich, der es geschafft hat, aus dem Gefängnis und nach Deutschland zu kommen, habe jeden Tag eine*n Freund*in, eine*n Kolleg*in, jemanden, den ich kenne, der verhaftet wird, gefoltert, ins Gefängnis gesperrt, verurteilt wird; und jeden Tag erhalte ich schlechte Nachrichten, Schocks – es ist ein konstantes Trauma, es hört nicht auf. Uns wird nicht das Privileg zuteil, das Trauma hinter uns zu lassen.

¿Der Philosoph Frantz Fanon schrieb, dass es, als er algerische Folteropfer der französischen Besetzung behandelte, keinen Sinn ergab, ihren Zustand zu verbessern, wenn das Hauptproblem in ihren Leben der Fakt war, dass Frankreich sie weiterhin folterte und ihr Land besetzte. Er schloss sich den Revolutionär*innen an. Wird Widerstand in solchen Szenarien Teil der Therapie?

Ich habe oft versucht, mir selbst durch Schauspielern, Sport, Schreiben, durch so viele Dinge zu helfen. Und auch wenn ich skeptisch gegenüber dem hiesigen psychiatrischen Gesundheitssystem bin, habe ich auch hier versucht, Hilfe zu bekommen. Allerdings ist es schwer, therapeutische Hilfe zu erhalten, wenn du ägyptischer Aktivist in Europa bist. Es gibt die Sprachbarriere, viele leben in einer prekären Job- und/oder Visasituation. Die Therapierenden sind nicht mit den jeweiligen Kontexten vertraut. Wenn ich beispielsweise von ‹Gefängnis› spreche, haben sie keine Vorstellung davon, was das in Ägypten bedeutet. Auch die Familienbeziehungen sind anders. Hilfe ist also schwer zu bekommen. Ich habe es oft versucht, bis ich bei meinen Therapeut*innen auf eine Wand gestoßen bin und sie die Behandlung aufgaben.

Sie alle gaben mir den Ratschlag, mich von den Ereignissen in Ägypten zu distanzieren und eine Auszeit vom Aktivismus zu nehmen. Ich habe es versucht, und bei jedem Versuch hat sich mein Zustand verschlechtert. Tatsächlich hat mir der anhaltende Widerstand und Aktivismus die Kraft gegeben, mich lebendig zu fühlen. Ich bin mit Ägypten weiterhin über die sozialen Medien verbunden. Der Aktivismus ermöglicht es mir, etwas zu verändern und mich dem ägyptischen Regime entgegen zu stellen. Aktivismus gibt mir die Hoffnung, dass meine Existenz eine Bedeutung hat – etwas tun, an das ich glaube. Ich wollte darüber mit den Therapeut*innen sprechen, aber ich hatte keine Chance bei ihnen.

«In den letzten zehn Jahren habe ich deutlich schlimmere Erfahrungen gemacht als im Gefängnis. Aber sie ließen mich das nicht erklären.»

Deswegen bin ich kritisch gegenüber dem weißen, westlichen Psychiatriesystem und all seinen Definitionen und psychiatrischen Diagnosen. Zum Beispiel diagnostizierten sie sofort PTBS, sobald ich erzählte, dass ich im Gefängnis war. Aber sie wissen nicht, welche anderen Dinge ich erleben musste. In den letzten zehn Jahren habe ich deutlich schlimmere Erfahrungen gemacht als im Gefängnis. Aber sie ließen mich das nicht erklären. Und sie geben mir keine Chance, zu erklären, warum ich immer noch jeden Morgen im Internet nach einem neuen Trauma suche.

Jeden Tag verliere ich einen Freund, warte darauf, dass ein Freund verurteilt wird, und meine Familie in Ägypten wird verfolgt und bedroht. Ich habe Nachrichten bekommen, dass sie hinter meinem Sohn her sind: Also nein, das Trauma ist nicht vorbei, und das Gefängnis ist nicht das größte Trauma.

Aber die Therapeut*innen haben nach diesem einen Schlüsselereignis in meiner Vergangenheit gesucht. Wenn sie es fanden, war es das: Sie hatten ihr Rezept bereit, tu dies, tu das, und sie hörten auf, Fragen zu stellen. Menschen sind jedoch komplexer als das. Ich brauche möglicherweise etwas anderes als eine Person mit ähnlichen Erfahrungen. Nicht alle Traumatisierten oder in Haft gewesenen brauchen das gleiche. Manche müssen eventuell aufhören, aktiv zu sein, aber das funktioniert nicht für mich, und auch nicht für viele Leute aus meinem Umfeld. Für mich ist das aktiv sein die einzige Möglichkeit, um mich am Leben zu fühlen.

Jedes Mal, wenn ich aufhörte, versuchte ich mich nach einer Weile umzubringen – auch wenn ich auf Antidepressiva war. Um nicht den Sinn im Leben, Wertschätzung und das Gefühl, etwas mit Bedeutung zu machen, zu verlieren, muss ich aktiv bleiben.

¿Deine Erfahrungen erinnern an jene, die Frantz Fanon beschreibt. Er behandelte Patient*innen, die staatlicher Repression ausgesetzt waren. Als Psychiater plädierte er für einen persönlichen und institutionellen Heilungskontext, der das Reden ermöglichte und Fragmente erlittener, zum Schweigen gebrachter und vor allem zensierter Geschichten wieder hervorbringen konnte. Er bestand darauf, dass Psycholog*innen die sozialen Bedingungen und Unterdrückungsstrukturen der Gesellschaft, in der sie praktizieren, kennen müssen.

Im kolonialen Algerien war das definitiv nicht zu erreichen; er beendete also seinen Job und trat der Unabhängigkeitsbewegung FLN bei. In seinem Buch Die Verdammten der Erde beschreibt er den revolutionären Kampf als einen Weg zur Entgiftung des kolonisierten Geistes der Unterdrückten. Wie denkst du über das therapeutische Potential aktivistischer Handlungen, das aber oft Hand in Hand geht mit Wut und Hoffnungslosigkeit?

Ich glaube, dass Wut ein sehr wichtiges Gefühl für Menschen ist, die Widerstand leisten und die Welt verändern wollen. Es ist der Anfang. Wut und Angst sind sich ähnlich, sogar auf einer physiologischen Ebene. Aber Wut lässt dich handeln, Angst blockiert dich. Unterdrückungssysteme benutzen Angst, um Menschen zu kontrollieren. Aber dieselben Handlungen, die zu Angst führen, können auch Wut hervorbringen. Wenn sie größer wird als die Angst, beginnen Menschen aktiv zu werden. Wut ist also ein sehr nützliches und mächtiges Gefühl, vielleicht sogar das einzige, das einen zur Veränderung drängt. Aber auch ich verfalle der Hoffnungslosigkeit und denke, dass nichts, was ich tue, etwas verändern wird. Dennoch kann ich nicht aufhören zu kämpfen. Wir haben ein paar Leute aus dem Gefängnis bekommen, wir können sie zählen und sie sind privilegiert. Aber am Ende hast du das Gefühl, etwas getan zu haben. Und auch wenn es nicht viel ist, was wir als ägyptische Aktivist*innen im Exil machen können, beängstigt es die Regierung; es bringt sie dazu, Fehler zu machen oder Dinge zu versuchen, um zum Beispiel vor ihren europäischen Partnern besser dazustehen.

Aber sicherlich empfindet jede*r ägyptische Aktivist*in in der Diaspora von Zeit zu Zeit ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit: Viele haben alles hinter sich gelassen und versuchen sich jetzt selbst zu heilen. Ich fühle diese Hoffnungslosigkeit die ganze Zeit. Ich drehe mich im Kreis. Aber ich bin immer wieder dahin zurückgegangen, etwas zu tun. Und selbst, wenn ich nichts tue, denke ich darüber nach oder schreibe. So tricksen wir uns aus, um zu überleben.

¿Lass uns über Sorge reden. Audre Lorde ist berühmt für ihren Ausspruch: «Für mich selber sorgen ist keine Selbstgefälligkeit. Es ist Selbsterhalt. Und das ist ein Akt der politischen Kriegsführung.» Heute scheint das Konzept der Selbstsorge komplett im Neoliberalismus aufgegangen zu sein. Welche Formen der Sorge kommen für Aktivist*innen also in Frage?

Ich habe mich zuerst auch gegen diese Idee der Selbstsorge gewehrt, eben wegen der Art von Individualisierung, die der Kern unserer neoliberalen, kapitalistischen Ordnung ist, in der jede*r nur an sich selbst denken soll und wir alle im Wettbewerb miteinander stehen. Aber dann erinnerte ich mich an Alain Badiou, der einmal sagte, dass Zufriedenheit ein sehr wichtiges Instrument im Kampf ist. Das erscheint mir sehr interessant. Aus kapitalistischer, neoliberaler oder westlicher Sicht mag Selbstsorge und (oberflächliche) Zufriedenheit das Ziel sein. Aus radikal linker Perspektive ist es jedoch ein Werkzeug, das genutzt werden kann, um mehr zu kämpfen.

«Leute sagen mir ständig, kümmere dich um dich selbst, was bedeutet: Hör auf zu kämpfen!»

Das war die Lösung für mich: die Idee der Selbst­sorge annehmen, um kämpfen zu können. Wenn du nicht okay bist, kannst du deinen Kampf gegen das System nicht weiterführen. Du musst also soweit Sorge um dich tragen, dass du deinen Aktivismus nicht beerdigst. Leute sagen mir ständig, kümmere dich um dich selbst, was bedeutet: Hör auf zu kämpfen! Ich antworte dann, dass ich dies oder jenes tue, oder ich bin einfach ehrlich und sage: Ja, ich habe ein Problem damit, mich um mich selbst zu kümmern. Wenn ich Sorge aber als Werkzeug betrachte, kann ich mich selbst davon überzeugen, dass Selbstsorge eben nicht kapitalistisch oder individualistisch oder egoistisch ist. Es ist ein sehr schmaler Grat.

¿Fanons psychiatrische Schriften implizieren, dass die wirkliche Trauma-Heilungsarbeit nur das Resultat davon sein kann, wenn Individuen basierend auf Selbstreflexion beginnen, politisch zu handeln, und damit die strukturelle Gewalt beenden. Jede Frage musste für ihn im ‹revolutionären Kontext› erörtert werden. Gleichzeitig forderte er, dass Psychiatrie, die kulturell passt und radikal sozial und menschlich ist, einen praktischen und kritischen Platz in jeder Befreiungsbewegung haben müsse. Wäre also die ideale Lösung eine aktivistische Gemeinschaft, die den gemeinsamen Kampf wie auch die gemeinsame Sorge bieten kann?

Ja, manchmal mache ich Witze darüber, weil Leute mir ständig raten, ich sollte zur Therapie oder in psychiatrische Behandlung gehen. Ich sage ihnen dann, dass sie mir das nur erzählen, weil sie in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, in der es keine Freund*innen gibt, die sich um einen kümmern ohne nach Geld zu fragen. Die kapitalistische Gesellschaft hat diesen Job erschaffen – jemanden zu haben, der sich für Geld um dich kümmert.

Was wäre aber, wenn eine kollektive Unterstützungsstruktur da ist? Ich habe zum Beispiel in einem Kollektiv in Frankfurt gelebt, dort hatte ich eine richtige Familie, die sich wirklich um mich kümmerte und ich tat das Gleiche für sie. Als ich dort war, hatte ich nicht das Gefühl, dass ich irgendeine Art der Sorge von außerhalb brauchte. Ich habe mich nie fremd oder nicht zu Hause gefühlt. Manchmal brauchst du vielleicht einfach jemanden, der deinen Papierkram erledigt, weil du es gerade selbst nicht schaffst. Selbst ein*e Therapeut*in macht das nicht für dich. Also ja, ich glaube, dass es einen Unterschied machen würde, wenn jede*r diese starken sozialen Verbindungen hätte.

Unser Verständnis von Psychiatrie und Psychologie muss sich verändern. Das Ganze ist auf der Idee aufgebaut, dass es eine ideale, normale Person gebe. Aber was ist normal? Es gibt nichts Normales. Therapien drehen sich nur darum, zu dieser normalen Person zurückzukehren, die fähig ist, im Kapitalismus zu funktionieren.

Die Art der sozialen Verbindungen im Kapitalismus verursachen das, was wir dann mentale Krankheit nennen. Menschen an den Rand zu treiben, sie auszuschließen, weil an ihnen etwas anders ist, um sie am Ende für psychisch krank zu erklären. Homosexualität wurde bis vor 30 Jahren als eine Krankheit behandelt.

Wie können wir also Unterschiedlichkeit normalisieren statt sie zu heilen? Wenn wir zum Beispiel über eine Person sprechen, die nicht arbeiten, aber vielleicht dasitzen möchte und liest oder schreibt. Wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen geben würde, könnte sie das tun und würde nicht als depressiv oder unproduktiv betrachtet werden. Sie wäre produktiv, nur auf andere Art und Weise.