Einer der grundlegenden Faktoren, der unsere Gesellschaft organisiert und hierarchisiert ist, wie wir Differenz, Andersartigkeit produzieren, wahrnehmen und behandeln. Dabei hat das Produzieren, das Erschaffen des ‹Anderen› mehr mit uns selbst zu tun als mit dem vermeintlich differenten. So beschreibt zum Beispiel einer der Mitbegründer der Kulturwissenschaften Edward W. Said in seinem Buch Orientalismus, wie Europa den ‹Orient› erfand, um sich selbst einen Sinn zu geben (Said 2009).

Hier spielen die binären Oppositionen eine wichtige Rolle: In dem Augenblick, in dem der Westen den ‹Orient› und somit auch häufig den Islam und muslimische Personen als unzivilisiert las, verstand er sich selbst als zivilisiert; wo er den Orient als traditionell sah, verstand er sich selbst als modern; wo er den Orient als religiös/fanatisch wahrnahm, verstand er sich selbst als aufgeklärt; wo er den Orient als gewalttätig/terroristisch verstand, verstand er sich selbst als friedfertig; wo er den Orient als cis-/hetero-sexistisch las, verstand es sich selbst als emanzipiert und liberal. Diese Selbstwahrnehmung hatte und hat natürlich eine wichtige Funktion. Sie war eine Rechtfertigung für den Kolonialismus, der als «zivilisatorische Mission» verkauft wurde. Auch heute rechtfertigt dieses Denken die strukturelle Benachteiligung von bestimmten Gruppen in der Gesellschaft, wie zum Beispiel von Schwarzen Menschen/Personen of Color und/oder von Muslim*innen. Dass diese Selbstwahrnehmung mit der Realität reichlich wenig zu tun hat, beweist, wie barbarisch der europäische Kolonial­ismus in der Welt vorgegangen ist, wie endemisch Cis-/Hetero-Sexismus in unserer Gesellschaft ist. Aber der Mechanismus ist recht simpel: ich werte den rassifizierten Anderen ab, um mich in seinem Spiegelbild aufzuwerten.

Soziale Konstrukte wie Rasse, Nation, Ethnizität, Religion, Kultur, aber auch Klasse, (Cis-)Gender, Sexualität, Alter, Disability etc. dienen der Normierung und der Differenzierung – und diese der Privilegierung der einen, meist der Norm/Dominanten und der Benachteiligung der Ge-Anderten, derjenigen, die als ‹anders› konstruiert werden. Diese Differenzierungsprozesse in Gesellschaften begannen bereits vor vielen Jahren, meist Jahrzehnten und Jahrhunderten, individuell beginnen sie bereits von klein auf. Sie schreiben sich so früh in unsere Köpfe und Körper ein, dass wir sie im alltäglichen Erwachsenenbewusstsein nur selten wahrnehmen.

«Was ging durch den Kopf des Polizisten, der nicht auf den weiß gelesenen Mann schoss, der auf Marwa Al-Sharbiri einstach, sondern auf ihren muslimisch gelesenen Mann, der versuchte sie zu retten?»

Was ging durch den Kopf des Polizisten, der nicht auf den weiß gelesenen Mann­ schoss, der auf Marwa Al-Sharbiri einstach, sondern auf ihren muslimisch gelesenen Mann, der versuchte sie zu retten? Dies lässt sich auch an den Begriffen der Rasse und Ethnizität, aber auch Nation und Kultur gut veranschaulichen. Wir haben meist nur diffuse Vorstellungen darüber, was diese Begriffe eigentlich bedeuten. Wenn wir uns aber etwas näher mit ihnen beschäftigen, so stellt sich heraus, dass es sich bei ihnen um soziale Konstrukte handelt. Den Begriff der ‹Rasse› gibt es bereits seit dem 12. Jahrhundert, aber die modernen biologistischen Rasselehren, welche von den drei oder vier «Großrassen» sprachen (weiß, Gelb/Rot/Schwarz) kamen mit dem Kolonialismus auf und recht­fertigten für die europäischen Expansionsmächte Völkermorde und Ausbeutung. Nazideutschland trieb den biologisch erklärten Rassismus in Europa zum mörderischen Exzess.

Faszinierend ist, wie sich heute Diskurse über Muslim*innen mit Diskursen über Jüd*innen zum Ende des 19. Jahr­hunderts ähneln. Zwar wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt, es gäbe keine Rassen, dafür aber verschiedene Ethnien. Diskursiv wird die Ethnisierung von Muslim*innen immer sichtbarer, wenn von «den Deutschen» und «den Muslimen» die Rede ist. Ethnien sollen zwar kulturell und nicht biologisch definiert sein, dienen aber meist nur als Euphemismus für biologistische Rassevorstellungen.

Heute wissen wir, dass es keine genetischen Rassen gibt, aber es gibt Rassismus. Das heißt, Menschen wird auf­grund ihres Aussehens (einer angenommenen Rasse, Ethnie oder Kultur) eine bestimmte Position in der Gesellschaft zugeteilt, «Rasse» ist also nicht biologisch, sondern sozial konstruiert. Auch zeigte die Leitkulturdebatte vor einigen Jahren, wie schwierig es ist, den schwammigen Begriff der (deutschen) Kultur zu definieren. Hier wurde der Begriff der (Leit-)­Kultur dazu funktionalisiert, ein «Wir» und ein «Ihr» zu konstruieren. Das alteingesessene Wir sagt dem (post)-migrantischen, oft muslimischen Ihr, es solle sich modernen Werten anpassen, wo doch viele davon hier geboren und von der Kultur in Deutschland geprägt sind. Uns zwei oder drei Stunden kritisch mit diesem Thema auseinanderzusetzen, wird diese frühkindliche Prägung nicht ändern. Aber es gibt Trainingsformen, welche sich für ein ganzes Wochenende damit auseinandersetzen, wie zum Beispiel Weiße lernen, was es bedeutet als weiß sozialisiert zu werden. Oder SPoC (Schwarze/Personen of Color)1 sich damit auseinandersetzen, dass sie teilweise auch das Weiß-Sein internalisiert haben. Sie können einen Reflexionsprozess anstoßen, der uns unser ganzes Leben lang begleiten kann.

Empowerment ist ein Prozess und nicht unbedingt eine statische, essentielle Sache, die automatisch all unsere Probleme lösen wird. Empowerment für SPoC in Bezug auf Rassismus kann viele verschiedene Aspekte haben, genauso wie Rassismus auch viele verschiedene Aspekte hat. Da sind einmal die rassistischen Strukturen und dann ist da natürlich auch die persönliche Ebene. Auf der strukturellen Ebene gibt es viele verschiedene Dimensionen, da geht es um politische Entscheidungsprozesse, darum, wie SPoC in den Medien dargestellt werden oder sich selbst repräsentieren können oder um die Position im Bildungsbereich. Doch es geht auch um Fragen wie Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt, aber auch Bleiberecht, um nur einige zu nennen. Hier bedeutet Empowerment für mich den Prozess (wie auch immer dieser Prozess aussehen mag), der das Ungleichgewicht beim Zugang zu diesen gesellschaftlichen Ressourcen behebt.

Auch auf der persönlichen Ebene gibt es viele verschiedene Dimensionen des Empowerments für SPoC. Hier, denke ich, kann Empowerment auch Selbstbestimmung heißen. Selbstrepräsentation spielt auch eine wichtige Rolle im medialen und künstlerischen Empowerment-Prozess.

«Unterschiede gibt es, die Frage ist nur, wie gehen wir mit ihnen um? Sollen wir Unterschiede feiern? Ich glaube nicht, dass dies eine Lösung ist.»

Eine echte Selbst­repräsentation von Muslim*innen und SPoC in den Medien würde bedeuten, dass der (mindestens) 15 bis 25 Prozent betragende SPoC-Anteil an der deutschen Gesellschaft in all seiner Differenziertheit auch in den Medien widergespiegelt wird – das ist momentan überhaupt nicht der Fall. Im Augenblick sind die Medien von stereotypen Darstellungen von SPoC und Muslim*innen geprägt, die das Dominanzverhältnis zwischen SPoC und weiß rechtfertigen sollen. Da entdecken wir meist nur die üblichen Klischees von Drogendealer*innen, Terrorist*innen, Ehrenmördern, Kriminellen etc. Ein differenziertes Bild von SPoC ist in den Medien unsichtbar, muss es auch bleiben, wenn der jetzige rassifizierte Macht-Status-Quo aufrechterhalten bleiben soll. Denn wenn die Mehrheit der Menschen auf einmal verstehen würde, dass SPoC Menschen wie du und ich sind, dann müssten sie sich auch die Frage stellen, warum SPoC strukturell benachteiligt werden – oder warum es okay ist, Kriege gegen sie zu tolerieren.

Der Krieg in Afghanistan ist zum Beispiel das Hauptthema in Judith Butlers Essay Precarious Life. Mit Émmanuel Levinas’ philosophischem Konzept des Gesichts untersucht Butler, wie der Staat durch die Medien die US-amerikanische Öffentlichkeit durch selektive Darstellung US-militärischer «Erfolge» und eine selektive Bericht­erstattung vor und während des Krieges manipulierte. Sie fasst zusammen, wie Bilder der jungen afghanischen Frauen, die ihre Schleier wegwerfen, als ein Triumph der kolonialen «mission civilisatrice» gefeiert wurden. Butler beschreibt, wie die Gesichter von Osama bin Laden und Saddam Hussein zu Ikonographien des unmenschlichen Bösen stilisiert wurden. Und wie jene Bilder, die die verheerenden Auswirkungen dieser «mission civilisatrice» auf die Zivilbevölkerung bewiesen, einbehalten und zensiert wurden, um zu vermeiden, dass die öffentliche Empörung in den USA Widerstand gegen den Krieg in Afghanistan auslöst. Weiße Leute repräsentieren sich selbst in Medien, daher nehmen wir sie auch als volle Menschen wahr. Wenn sie sterben oder getötet werden, dann berührt uns ihr Tod, wir fühlen, wir leiden mit, wir trauern. Mit Muslim*innen und SPoC ist das anders, sie sind unliebsame Fremde, die unwillig oder unfähig sind, sich dem modernen, aufgeklärten, liberalen westlichen Lebensstil anzupassen, so werden sie zumindest in den Medien häufig dargestellt.

SPoC werden als weniger Mensch dargestellt, daher verdienen sie auch weniger Menschlichkeit und ihr Tod, ihr Sterben, ihre physische Auslöschung berühren uns weniger, wenn überhaupt. Butler argumentiert daher: Diejenigen, die die Macht der Selbstdarstellung haben, sind auch diejenigen, die als Menschen anerkannt werden. Es hat das Gesicht von George Floyd gebraucht, der von einem weißen, US-amerkanischen Polizisten ermordet und dabei gefilmt wurde, um auch in Deutschland eine Debatte über All­tagsrassismus hierzulande zu führen. Doch ich frage mich auch, wie lange dieser Trend anhalten wird. In Rostock-Lichtenhagen waren auch Kameras dabei. Das führte aber nur zu strikteren Asylgesetzen, nicht zu einem öffentlichen Diskurs über Rassismus in Deutschland – jedenfalls nicht in der weißen Mehrheitsgesellschaft. Und was ist mit Oury Jalloh, Christy Schwundeck, Burak Bektas¸, oder den NSU-Morden, Halle, Hanau …, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Sie haben bis jetzt nicht einmal halb so viel Interesse und Empörung ausgelöst wie der Mord an George Floyd. Woran mag das liegen? Und wie fühlen sich zum Beispiel die Communities of Color in Hanau, die mit ihrem entmenschlichenden Trauma alleingelassen werden trotz all des Interesses, dass gerade an Rassismus in Deutschland zu herrschen scheint? Selektive Empathie ist immer ein Signal dafür, dass es immer noch sehr viele Menschen gibt, denen Rassismus ihre Menschlichkeit aberkennt.

Ich könnte noch viele weitere Beispiele anführen, die veranschaulichen, dass Prozesse der Differenzherstellung häufig dazu dienen, Machtverhältnisse und Entmenschlichung herzustellen, zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten. Dabei geht es mir gar nicht darum zu sagen, dass es eigentlich keine Unterschiede zwischen den Menschen gibt, ganz im Gegenteil. Unterschiede gibt es, die Frage ist nur, wie gehen wir mit ihnen um? Sollen wir Unterschiede feiern? Ich glaube nicht, dass dies eine Lösung ist. Viel wichtiger ist, dass sich jede*r einzelne die Frage stellt: Wie habe ich eigentlich gelernt Unterschiede wahrzunehmen und was sagen diese Unterschiede nicht über den ‹Anderen›, sondern über mich aus? Wie kann ich Menschlichkeit aus mir heraus generieren? Wichtig ist, Differenz anzuerkennen, wobei ich aber auch glaube, dass liberal oder tolerant zu sein, durchaus auch Grenzen haben kann. Ich muss nicht jemandem gegenüber offen sein, wenn diese Person gewollt rassistisch oder cis-/hetero-sexistisch, also unmenschlich ist. Was Menschlichkeit bedeutet, müssen wir aushandeln. Zum Aushandeln brauchen wir Dialog. Der funktioniert aber nicht innerhalb eines Machtgefälles, sondern nur auf Augenhöhe. Da müssen wir aber erst noch hinkommen.

«Selektive Empathie ist immer ein Signal dafür, dass es immer noch sehr viele Menschen gibt, denen Rassismus ihre Menschlichkeit aberkennt.»

Oft fragen mich Weiße, wie sie gute Verbündete in dem Kampf gegen Rassismus sein können. Ein Schritt könnte sein, sich als Weiße zu fragen, wo macht das System der weißen Vorherrschaft mich unfrei? Wie abhängig ist meine (weiße) Identität eigentlich von der Entmenschlichung des rassifizierten Anderen? Inwiefern nimmt mir diese Abhängig­keit die Fähigkeit der menschlichen Wahrnehmung und Begegnung? Dekolonisierung ist nicht nur relevant für die Koloni­sierten, sondern auch für die Kolonisator*innen. Denn erst die Kolonisation der Köpfe, Herzen und Seelen der Menschen hier hat es möglich gemacht, dass sie Kolonisator*innen anderswo werden konnten. Ich glaube aber auch, dass ein Schritt zur Menschlichkeit auch ein Schritt aus dem entmenschlichenden Weiß-Sein werden kann.