Daniel: Kann die Linke darauf verzichten, nach der Macht zu greifen? Ich bin als Anarchist politisiert worden, Macht war für mich stets etwas Negatives. Macht über Institutionen und gesellschaftliche Prozesse haben zu wollen, wurde praktisch direkt mit Gulags gleichgesetzt. Jetzt bin ich älter, habe ein Kind und sehe eine dringende Notwendigkeit, Kontrolle über gesellschaftliche Prozesse zu gewinnen, um eine ökologische Katastrophe abzuwenden. Ist es möglich, den Begriff der Macht so zu fassen, dass sich das vereinen lässt?

Rodrigo: Die Frage hat zwei Aspekte: einen zeitlichen, der die gegenwärtige Konjunktur betrifft und einen allgemeinen, der mit dem Begriff der Macht selbst zu tun hat. Der zeitliche Aspekt bezieht sich natürlich auf das riesige Problem, das durch den Klimawandel hervorgerufen wird, dazu komme ich später. Aber er bezieht sich auch auf den Kontext, in dem wir das geerbt haben, was man die antisystemische Tradition nennen könnte, also Marxismus, Anarchismus, und so weiter. Denn diejenigen von uns, die im Schatten der neoliberalen Hegemonie aufgewachsen sind, haben zwar eine Tradition antisystemischer Kämpfe geerbt, aber unter den Bedingungen ihrer Niederlage. Und zwar einer bitteren und schmerzhaften Niederlage, die uns nicht bloß durch eine stärkere, tödlichere Form des Kapitalismus beigebracht wurde. Denn die Versuche im 20. Jahrhundert,eine Alternative zum Kapitalismus aufzubauen, sind ganz von sich aus gescheitert. Sie sind angetreten, endlich für die Befreiung der Menschen zu sorgen, haben es aber nicht geschafft, den Kapitalismus als globales System hinter sich zu lassen. Und sie haben sogar neue Formen der Unterdrückung geschaffen.

Wie hat diese Niederlage unseren Umgang mit dem historischen und intellektuellen Vermächtnis der antisystemischen Kämpfe beeinflusst?

Nun, zunächst hat es uns gegenüber dem Staat, den Parteien und allem, was mit organisierter kollektiver Macht zu tun hat, sehr misstrauisch gemacht. In meinem Buch nenne ich dieses Phänomen das «Trauma der Organisierung»: Wir wussten nun, in welchem Ausmaß uns organisierte, kollektive Macht verderben kann, und deshalb haben wir diese Form der Macht abgelehnt oder versucht, sie klein zu halten. Zu diesem Misstrauen gegenüber der organisierten Macht gesellte sich seit den 1960er Jahren eine Entwicklung, die sich in dem Maße verstärkte, wie die Grenzen des real existierenden Sozialismus sichtbar wurden. Der Poststrukturalismus und andere Nach-1968er-Trends wollten der Versuchung widerstehen, sich am«Ende der Geschichte» zu orientieren – eine Idee, die eine bestimmte Form des Marxismus von Hegel übernommen hatte und in deren Folge alles richtig war, was als notwendiger Schritt zur zukünftigen Gesellschaft erschien. Die sogenannten Philosophien der Differenz machten demgegenüber die radikale Offenheit der Zukunft stark, sie orientierten sich am «Anderen», an den molekularen Veränderungen, an den Möglichkeiten des Neuen – die Zukunft war für sie,was Derrida das «Kommende» (l’avenir) genannt hat.

«Diese tollen neuen Formen, die sowohl das Problem der Machtlosigkeit als auch das Problem exzessiver Macht lösen sollten, waren ständig das ‹Kommende›. Nur ist ihre Zeit niemals gekommen.»

Nun hat uns diese Offenheit gegenüber der Zukunft zweifellos durch den «harten Winter» gebracht, der in den späten 1970er Jahren einbrach. Zugleich aber hat sich dieses neue Denken mit dem Trauma der Organisierung verbunden. Denn auch wenn die Linke der organisierten, kollektiven Macht misstraute, begriff sie, dass sie– mal abgesehen von gelegentlichen Ausbrüchen sozialer Mobilisierung – kaum imstande war, das umzusetzen, was in ihren Augen zu tun war. Sie hatte also Angst vor der Macht und erfuhr zugleich eine enorme Machtlosigkeit, die sie nun auch zur Tugend erklären konnte: «Wir verlieren zwar gerade, aber zumindest sind wir nicht die Bösen!»
Die Offenheit gegenüber der Zukunft kompensierte so ein Gefühl von Machtlosigkeit mit dem Versprechen, dass neue Formender politischen Organisierung schon noch entstehen würden, mit den Vorteilen der alten Formen, aber ohne ihre Nachteile. Oder dass all die Anstrengungen, die Menschen überall auf der Welt unternahmen, irgendwie zusammentreffen und einen «spontanen» Wandel hervorbringen würden. Zentral für diesen Diskurs war eine äußerst selektive Lektüre wissenschaftlicher Studien zur Selbstorganisierung, die ich in meinem Buch kritisiere. So wurden über Jahrzehnte hinweg unzählige Texte geschrieben, die mit dem Aufruf endeten, neue Formender politischen Organisierung zu erfinden, aber kaum konkrete Vorschläge formulierten. Diese tollen neuen Formen, die sowohl das Problem der Machtlosigkeit als auch das Problem exzessiver Macht lösen sollten, waren ständig das «Kommende». Nur ist ihre Zeit niemals gekommen.

Das ist so eindeutig wie traurig.

Absolut. Eine besondere Eigenschaft der Klimakrise ist nun, dass sie eine sehr klare zeitliche Dimension hat. Nicht nur macht es einen riesigen Unterschied, ob bestimmte Ziele in fünf, 15 oder 50 Jahren erreicht werden. Es geht auch darum: Bislang hatten wir guten Grund zu glauben, dass die Befreiung der Gesellschaft, wenn nicht von dieser, dann von einer zukünftigen Generation erkämpft werden würde.Nun heißt es: Was auch immer wir tun, wir tun es besser gleich. Wir haben keine Zeit, auf die magischen Lösungen zu warten, die sich irgendwann schon einstellen.

Müssen wir also zu den alten Formen der Organisierung zurückkehren?

Nein. Denn dass die nicht funktionieren, wissen wir. Wir müssen tatsächlich so einfallsreich und flexibel wie möglich werden. Wir sollten aber eine Hoffnung aufgeben, die mit der Idee des erlösenden Kommenden einhergeht: dass wir jemals ein wirksames Gegengift gegen die Macht als solche finden, dass wir dieser Macht, ihren Problemen und ihren Risiken, jemals ganz entkommen können.
In Neither Vertical Nor Horizontal schlage ich also kein neues Machtkonzept vor, sondern frage mich, ob wir es überhaupt brauchen. Ich frage, ob das Mysterium der Macht vielleicht darin begründet liegt, dass es kein Mysterium gibt, dass die magischen Formender politischen Organisierung, die jede Machtausübung vollständig gegen Missbrauch immunisieren, schlichtweg nicht existieren. Die Elemente meiner Argumentation sind dabei nicht neu: Spinoza, Gabriel Tarde, die Kybernetik, Foucault … Leider wurden diese Denker im Kontext der Niederlagen antisystemischer Kämpfe auch für die Vorstellung einer Position jenseits der Macht vereinnahmt, entgegen des Kerns ihres eigenen Denkens.

«Deshalb schlage ich Derrida folgend vor, dass wir Macht und Organisation als pharmakoi verstehen, als Medizin und Gift zugleich: Das, was wir brauchen, ist auch das,vor dem wir uns in Acht nehmen müssen.»

Wie also definieren wir Macht dann?

Macht ist die Fähigkeit, Dinge zu tun. Spinoza hat das potentia genannt. Warum kommen Menschen zusammen, warum handeln sie gemeinsam? Um ihre potentia zu steigern, um sich zu befähigen, mehr zu tun, als sie es als Einzelne tun könnten.

Wie kann uns diese Einsicht dabei helfen, politische Organisierung neu zu denken?

Politische Organisierung besteht aus allen Prozessen, die dazu führen, eine gemeinsame Handlungsfähigkeit herzustellen, zu versammeln,zu gestalten, zu kanalisieren, zu speichern, zu fokussieren. Diese Prozesse können geplant oder spontan sein, formell oder informell; aber sie sind überall, sie können nicht auf «die Macht» und den Staat reduziert werden. Sobald Menschen Gewohnheiten und Muster entwickeln,sobald sie Institutionen und Strukturen schaffen, um handlungsfähig zu werden, kann das die potentia steigern oder sich gegen sie wenden und zum Instrument von Herrschaft und Unterdrückung werden. Sie werden dann, um mit Spinoza zu sprechen, zur potestas.
Das heißt aber nicht, dass man aus der Organisierung einfach aussteigen kann: Sie ist nicht nur überall, man ist ohne sie auch vollkommen machtlos – abgesehen von flüchtigen Momenten des Umbruchs. Und es gibt auch keine «gute» Form der Macht, die wir hervorbringen, und eine «schlechte» Form, die unser Feind ist. Im Grunde genommen ist alles Macht, potentia, «auf Handlung gerichtetes Handeln», wie Foucault es ausgedrückt hat, und diese Macht stattet sich mit bestimmten Werkzeugen aus.Deshalb schlage ich Derrida folgend vor, dass wir Macht und Organisation als pharmakoi verstehen, als Medizin und Gift zugleich: Das, was wir brauchen, ist auch das, vor dem wir uns in Acht nehmen müssen. Da gibt es keinen Ausweg, keine magische «neue Form»,die nur Medizin ist. Wenn man etwas verändern will, dann braucht man die Menge an Handlungsfähigkeit, die dem Wunsch nach Veränderung entspricht. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Risiken einzugehen. Die Alternative ist Machtlosigkeit.

«Und dann kommt dazu, dass wir zwar dauernd das Gefühl haben, politisch sehr aktiv zu sein, aber ein Großteil dieser Aktivität darin besteht, online über Politik zu reden.»

Die Bürgerrechts-Organizerin Ella Baker hat politische Organisierung mal als «spadework» bezeichnet, als Arbeit mit dem Spaten: als die mühsame Arbeit, das Feld zu bestellen. Diese führt nicht automatisch zur großen Blütezeit, ist aber unabdingbar, um eine solche zu ermöglichen. Es braucht viel Zeit und Geduld, um Solidarität zu kultivieren und Fähigkeiten zu entwickeln. In einem aktuellen Artikel beschreibst du, dass in vielen Ländern derzeit eine Mehrheit der Bevölkerung dem Programm der Rechten folgt, weil deren Logik für viele Menschen greifbarer ist als die der kollektiven Solidarität – die sie noch nie erfahren haben. Und du sagst: Wenn wir wollen, dass die Menschen Initiativen kollektiver Solidarität unterstützen, müssen wir Initiativen aufbauen, die diesen Menschen in ihrer Gegenwart nutzen. Aber haben wir überhaupt noch die Zeit, Massen zu organisieren?

Das Bild der geduldigen, glanzlosen Arbeit mit dem Spaten ist eine Art Gegenbild zur lange herrschenden Praxis in der Linken: Wir haben versucht, von nichts Anderem zu leben als von den kurzen Ausbrüchen der Mobilisierung – wie Menschen, die auf das große Los hoffen. Das kann klappen, aber es ist eine Strategie mit ziemlich hohem Risiko. Arbeit mit dem Spaten heißt, dass wir unsere eigenen Ressourcen und Fähigkeiten ausbauen, auch die Fähigkeit,solche spontanen Ausbrüche einzuleiten und das Beste aus ihnen zu machen, wenn sie eintreten. Wie du schon richtig problematisiert hast: Ressourcen sind nötig, um Ressourcen aufzubauen. Dinge sehen möglicherweise erst nach einiger Zeit so aus als könnten sie tatsächlich etwas bringen. Wir haben nicht viele Organisationen, die in der Lage sind, diese vorbereitende Arbeit durchzuführen, und die meisten, die wir haben, sind für diesen Zweck mittlerweile kaum noch zu gebrauchen. Zudem haben viele von uns das Gefühl, dass unsere individuellen Ressourcen langsam aufgebraucht sind: Wir sind erschöpft, machen unzählige Sachen gleichzeitig, haben kaum Zeit. Im historischen Rückblick waren es oft Studierende, die Organisierung gemacht haben, denn durch ihre strukturelle Lage hatten sie viele Freiheiten. Heute sind sogar Studierende überarbeitet, verschuldet und stehen unter enormem Leistungsdruck. Und dann kommt dazu, dass wir zwar dauernd das Gefühl haben, politisch sehr aktiv zu sein, aber ein Großteil dieser Aktivität darin besteht, online über Politik zu reden.Auch das ist wichtig, keine Frage, aber nur von eingeschränktem Nutzen, wenn es ohne eine kollektive Strategie passiert – und wenn darüber hinaus nicht viel geht.

Wie kann unser Aktivismus konkret aussehen, um Solidarität praktisch erfahrbar und die potentia als politische Macht der Mehrheit zu kultivieren?

Leider habe ich die große Lösung auch nicht parat. Es gibt allerdings drei Sachen, die ich anmerken würde. Die erste hat mit Ressourcen zu tun, und zwar im weitesten Sinne, also mit Menschen, Zeit, Fähigkeiten, Geld, Ausstattung, Räumen etc. Wenn ich über Organisierung als ecology – also als Ökosystem – spreche, heißt das, dass die Leute nicht mehr gezwungen sind, ganz von vorne anzufangen, weil sie ein bereits existierendes System anzapfen können. Eine Ökosystem ist zum einen auf einen gewissen Überfluss angewiesen: Es muss stets mehrere Wege geben, um etwas zu erreichen; mehr als eine Gruppe oder eine Person müssen bestimmte Aufgaben erfüllen können, Leute müssen Sachen von anderen übernehmen können. Zum anderen muss umso weniger Arbeit doppelt geleistet werden, je enger die Verbindungen innerhalb eines Systems sind. Dann kommt es zu einem Effekt, der Ressourcen spart. Es reicht aber nicht, wenn die Leute verbunden sind. Sie müssen auch einen kooperativen Umgang miteinander finden. Das ist eine echte Herausforderung,weil es in der Linken eine tief verwurzelte Vorstellung gibt, dass wir alle um die eine korrekte Linie wetteifern.Dabei ist eines klar: Je mehr Ressourcen als gemeinsames Gut behandelt werden, desto mehr stehen uns insgesamt zur Verfügung. Den eigenen Kreis für neue Freund*innenschaften und Allianzen zu erweitern, ist eine zentrale Voraussetzung, um die eigene Handlungsfähigkeit zu vergrößern.

Das ist also der erste Punkt …

Der zweite dreht sich um eine Einsicht, die wir Alexander Bogdanow verdanken. Bei der politischen Organisierung geht es nicht einfach darum, verschiedene Elemente zusammenzubringen, sondern sie so zusammenzubringen, dass ihre Widerstände gegeneinander möglichst gering gehalten werden, damit sie die Widerstände der Umwelt bewältigen können. Wir verschwenden zum Beispiel häufig Zeit, indem wir alles auf wenig strukturierte persönliche Treffen abwälzen, die zu oft ohne klare Ergebnisse enden. Dazu kommt eine kontraproduktive moralische Haltung, mit der spektakulärere Formen des Aktivismus abgelehnt werden. Als müsse die Arbeit mit dem Spaten unbedingt viel Zeit und Arbeit fressen, damit sie echte politische Organisierung ist. Als wäre es verwerflich, nach Ergebnissen und Effizienz zu fragen. Das hat auch damit zu tun, dass wir häufig nicht das machen, was am besten funktioniert, sondern das, womit wir uns besser fühlen.
Gute Arbeit mit dem Spaten zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie in der Lage ist, das Leben der Menschen zu verändern. Sie muss unbedingt die begrenzte Zeit und Energie der Menschen respektieren, damit möglichst viele mitmachen, und nicht nur die engagiertesten Aktivist*innen. Im Idealfall gehen diese beiden Dinge Hand in Hand: Wenn auf der Ebene der sozialen Reproduktion das Lebender Menschen erleichtert wird, dann werden auch Ressourcen und Fähigkeiten frei, um zu kämpfen.

«Es geht dabei nicht einfach darum, pragmatisch zu sein, aber eben auch nicht darum, eine Position einzunehmen, die nur die eigene Radikalität beweist, in der Praxis aber völlig unbrauchbar ist.»

Und der dritte Punkt?

Wie bei allen anderen Dingen auch: Nur wenn wir uns die Zeit wirklich nehmen, können wir die Arbeit machen. Klar müssen wir sicherstellen, dass wir uns für etwas engagieren, das auf lange Sicht tragfähig ist, aber wir müssen auch sicherstellen, dass wir uns überhaupt engagieren. Das heißt, dieses Engagement über andere Sachen zustellen, und zwar vor allem über solche Sachen, die uns eine schnellere, aber auch flüchtigere politische Befriedigung bringen. Wir müssen also tatsächliche Zwänge in Betracht ziehen, aber auch Wege finden, diese zu umgehen, so wie wir die Dringlichkeit des Klimawandels erfahren und uns zugleich die Zeit erlauben, langsam etwas aufzubauen. Organisierung bedeutet hier, scheinbar widersprechende Ideen zusammen zu denken.

Häufig versuchen wir bestimmte Formen von Kämpfen zu kopieren. Ich weiß nicht, wie oft ich auf Veranstaltungen gehört habe, dass die Leute so etwas wie Barcelona en Comú machen wollen, und meinen, man könnte diese bestimmte Form der Politik einfach kopieren, anstatt von den existierenden Bedingungen und Kräfteverhältnissen auszugehen. Kannst du uns in diesem Kontexterklären, was du mit dem Begriff der «Fitness» meinst?

Der Begriff der Fitness kommt bekanntermaßen aus der Evolutionsbiologie, aber meine Verwendung bezieht sich eher auf die Netzwerktheorie. Dort wurde der Begriff eingeführt, um ein Paradox zu erklären. Denn das Modell der Netzwerkbildung sieht eigentlich vor, dass neue Knoten innerhalb eines Netzwerks dazu tendieren, sich mit denjenigen Knoten zu verbinden, die bereits die meisten Verbindungen besitzen. Wie lässt sich dann aber erklären, dass manche neuen Knoten so stark wachsen, dass sie irgendwann sogar größer als diese vorher existierenden Superknoten werden? Dass diese Frage relevant ist, zeigt uns ein Blick in die Onlinewelt: Die meisten Unternehmen, die das Internet heute dominieren, sind relativ spät dazugekommen.
Die offensichtliche Erklärung ist, dass diese Knoten bestimmte Eigenschaften besitzen, und diese Eigenschaften machen laut der Physik ihre Fitness aus. Letztendlich heißt das, dass der entscheidende Wettbewerbsvorteil von Google jene Eigenschaft ist, die ihm Wettbewerbsvorteile verschafft. Aber was wie eine absurde Tautologie klingt, ist es nicht, denn Fitness ist ein relationales Konzept: Es lässt sich nur innerhalb eines spezifischen Kontexts näher bestimmen. Nichts ist in einem abstrakten Sinne fit, etwas kann an einem Ort fit sein, also passen, an einem anderen nicht. Das heißt,dieser Begriff lässt sich nur formal definieren. Es gibt keine Menge an konkreten Eigenschaften, die man auflisten und sagen kann: «Das funktioniert immer.»
Wenn wir nun über politische Veränderung sprechen, dann lässt sich Fitness als die Fähigkeit definieren, zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, zu vermitteln, und zwar so, dass es uns möglichst nah an das bringt, was sein soll. Es geht dabei nicht einfach darum, pragmatisch zu sein, aber eben auch nicht darum, eine Position einzunehmen, die nur die eigene Radikalität beweist, in der Praxis aber völlig unbrauchbar ist. Bei jedem Schritt ist die Frage: Welche Position führt uns unter den gegebenen Umständen am weitesten? Oder: Was ist die radikalste Vorgehensweise, die in dieser konkreten Situation die besten Ergebnisse hervorbringt?
Natürlich hängt die Antwort davon ab, wie wir diese Situation und ihre objektiven wie subjektiven Bedingungen einschätzen, und sie kann wiederum nur durch Ausprobieren getestet werden. Das Problem so zu betrachten, mag abstrakt anmuten, aber so lassen sich zentrale Fragen auf neue Weise stellen, etwa wie wir das Verhältnis von Pädagogik und Politik denken, oder was eigentlich radikal und pragmatisch bedeutet. Das Wichtigste aber ist: Wenn es um politische Veränderung geht, dann geht es um die Grenzen dessen, was möglich ist. Man arbeitet immer innerhalb existierender Zwänge, aber so, dass diese Zwänge verändert werden, damit das Feld der Möglichkeiten erweitert wird.
Im Hinblick darauf, wie wir Erfahrungen übersetzen können, die woanders erfolgreich waren, bringt uns der Begriff der Fitness auf die Frage: Welche Elemente lassen sich zwischen diesem und unserem Kontext verallgemeinern? Da unser Nachdenken über Politik so stark vom Marketing beeinflusst ist, hört man häufig nur die einfachsten Antworten, zum Beispiel «Wir brauchen eine junge Woman of Color» – so als hätte Alexandria Ocasio-Cortez Erfolg nichts zu tun mit dem, was sie sagt, oder mit der spezifischen Position, aus der heraus sie diese Inhalte glaubwürdig vermitteln kann. Das Verallgemeinerbare einer Situation finden wir also nicht bei einem oberflächlichen Blick auf die Situation, sondern nur durch die Untersuchung der Variablen, die eine bestimmte Situation erst hervorgebracht haben: welche Verhältnisse, in welchem Maße, über welchen Zeitraum etc.
Erst wenn wir diese entscheidenden Variablen ausgemacht haben, können wir übersetzen. Der Wert dieser Variablen wird dann ein anderer sein, denn wir befinden uns in einer anderen Situation. Wenn man also exakt dasselbe in einem anderen Kontext herzustellen versucht, wird es wahrscheinlich nicht funktionieren. Anders sieht es aus, wenn man das Originalrezept als einen Leitfaden nutzt, und dann die Zutaten und Mengen anpasst.